Schweizer Revue 3/2021
Schweizer Revue / Juni 2021 / Nr.3 14 Gesellschaft STÉPHANE HERZOG Kann man einer Person eine Geld- strafe auferlegen, bloss weil sie ihre Hand vor Passantinnen und Passanten ausstreckt? Am19. Januar 2021 hat der Europäische Gerichtshof für Men- schenrechte (EGMR) einstimmig ent- schieden, dass solche Strafen den Artikel 8 der EuropäischenMenschen- rechtskonvention verletzen. Dieser widmet sich dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Die in Genf gebüsste Romni aus Rumänien befand sich laut EGMR «in einer offen- sichtlich verletzlichen Lage und hatte das der Menschenwürde inhärente Recht, ihre Not auszudrücken und zu versuchen, sie durch Betteln zu lin- dern.» Da die Frau nicht in der Lage war, die ihr aufgebrummten Bussen im Umfang von insgesamt 500 Fran- ken zu bezahlen, hatte sie inGenf eine Haftstrafe von fünf Tagen absitzen müssen. Dies geschah 2015. Der EGMR stuft diese Strafe nun als «schwer» ein und schreibt dazu: «Angesichts der prekären und verletzlichen Situation der Antragstellerin bestand die Mög- lichkeit, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe (…) ihre Not und ihre Verletzlichkeit weiter verschärft.» Das Gericht hat Genf zur Zahlung von 992 Euro zur Wiedergutmachung des ent- standenen immateriellen Schadens an die Rumänin verurteilt. Das im Rückblick ziemlich Ver- blüffende: Das Bundesgericht hatte die Schlussfolgerungen des EGMRbereits 2008 weitgehend vorausgesehen. Es hielt damals fest, das Recht zu betteln müsse «als Teil der verfassungsmässig garantierten persönlichen Freiheit be- trachtet werden». Es attestierte dem Kanton Genf damals immerhin, er verfüge eine Rechtsgrundlage für sein Bettelverbot. Aus Genfer Sicht be- zweckt das Verbot die Aufrechterhal- tung der öffentlichen Ordnung, Si- cherheit und Ruhe. Öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt Der EGMR beschränkt sich nun aber nicht darauf, das Urteil gegen die bet- telnde und gebüsste Romni aufzuhe- ben, sondern greift in seinenKommen taren auch das Genfer Strafgesetz grundsätzlich an. Über dieses wurde 2007 abgestimmt und es sieht für jeg- liche Formen des Bettelns Geldstrafen vor. Aus Sicht des EGMR stellt aber Bettelei keine Störung der öffentlichen Ordnung dar, sondern verursacht höchstens «ein moralisches Unbeha- gen». Auch sei das von der Schweiz nicht weiter untermauerte Argument, mit der Strafverfolgung von Bettlerin- nen und Bettlern kämpfe man letzt- lich auch gegen Mafiaorganisationen, problematisch: Dem EGMR schienen die Roma vielmehr Opfer zu sein. Anwältin wird gelobt und bedroht Am 19. Januar nahm Anwältin Dina Bazarbachi, die die Genfer Roma seit 14 Jahren verteidigt, das Urteil sicht- lich bewegt auf: «ZweiWochen vor der Urteilsverkündigung fürchtete ich noch, vor Gericht zu verlieren, was verhängnisvolle Auswirkungen auf Bussen fürs Betteln? Ein europäisches Urteil korrigiert die Schweizer Justiz Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte setzt den Bussen fürs Betteln in Genf ein Ende. Die Entscheidung, die aus der Inhaftierung einer Romni erwachsen ist, hat internationale Ausstrahlung. Eine bettelnde Romni in Genf gewährt einen Blick in ihre Kasse. Die Genfer Polizei konfiszierte bis zum EGMR-Urteil auch Einnahmen bettelnder Roma. Foto Eric Roset, Genf
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