Schweizer Revue 3/2021
Schweizer Revue / Juni 2021 / Nr.3 15 die Art und Weise gehabt hätte, wie die Roma in Europa behandelt wer den.» Das Urteil des EGMR markiert nun das Ende eines Rechtsstreits, der seit 2008 geführt worden war. Dina Bazarbachi hat von Anwältinnen und AnwältenGratulationen für ihrDurch haltevermögen erhalten. Aber siewar auch das Ziel von Beleidigungen und Todesdrohungen: «Das zeigt denHass auf, den gewisse Personen gegen die Roma hegen.» Das Genfer Gesetz ge gen das Betteln sei spezifisch gegen diese Bevölkerungsgruppe gerichtet, sagt sie. Die Debattenwährend der Er arbeitung des Gesetzes hatten sich tat sächlich auf die Roma fokussiert und der Grossteil der Bussen betreffen diese Menschen. Eine solch einseitige Ausrichtung und Anwendung einer Strafbestimmung verletzt aus EGMR Sicht aber das Verbot indirekter Dis kriminierung. Genf bereitet ein neues Anti-Bettel-Gesetz vor InGenf schlägt das EGMR-Urteil hohe Wellen. Der Genfer Staatsanwalt Olivier Jornot, der sich an der Erarbei tung des Gesetzes gegen Bettelei be teiligte, sah sich gezwungen, alle lau fenden Bussgeldverfahren gegen Bettlerinnen und Bettler einzustellen. Hunderte Strafzettel wurden ungül tig. 2020 hat die Genfer Polizei 3723 Strafzettel wegen Bettelns über einen Gesamtbetrag von 457890 Franken ausgestellt. Und imVerlauf dieser Ein sätze beschlagnahmte sie 5278 Fran ken an erbetteltem Geld. Seit einigen Jahren hatte Dina Bazarbachi einen wahrenAufstand gegen all die Bussen organisiert, die darauf wegen der pre kären Lage der Roma durch die Rich terinnen und Richter zunächst redu ziert wurden. «Dieses ganze System ist sehr teuer. Aber es gibt jetzt weitere Schlachten zu schlagen», sagt die An wältin, denn sie bedauert, dass die Genfer FDP bereits einen neuen kan tonalen Gesetzesentwurf gegen das Betteln lanciert hat. Der im März ein gereichte Entwurfstext will insbeson dere das Betteln auf allen Einkaufs meilen und touristischen Strassen verbieten. Die Juristinmutmasst, dass auch Strafen, die sich auf dieses neue Gesetz stützenwürden, gegen das EG MR-Urteil verstossenwürden. Zudem erscheine ihr der «politische Gewinn» des Gesetzesentwurfs unklar. Bazar bachis Einschätzung: «Die Pandemie hat auch Schweizerinnen und Schwei zer in eine finanzielle Notlage getrie ben. Es gibt jetzt eine grössere Solida rität fürMenschen inArmut und eben auch für die Roma.» Die Kantone kommen ins Schwitzen Das Urteil des EGMR zwingt jetzt in der Schweiz alle Kantone dazu, ihr Vorgehen und ihre Strafen gegen Bett lerinnen und Bettler zu überprüfen. In Basel-Stadt hatte sich der Grosse Rat bereits für dieWiedereinführung des Bettelverbots ausgesprochen. Nun wird dieses Vorhaben vorerst sistiert. Und in derWaadt, die ein von der Gen fer Vorlage inspiriertes Gesetz gegen das Betteln kennt, wird das EGMR-Ur teil zurzeit analysiert. In Zürich hin gegen, wo die Polizei letztes Jahr 700 Bussen gegen Bettlerinnen und Bett ler aussprach, liessen die Behörden verlauten, es ändere sich vorläufig nichts. Wirkung über die Schweiz hinaus Das Urteil des EGMR, dessen Recht sprechung für alle 47Mitgliedsstaaten des Europaratesmassgebend ist, zeigt auch ausserhalb der Schweiz bereits Wirkung. So etwa in Frankreich, wo das Strafgesetz ausschliesslich soge nannt «aggressives Betteln» verbietet. Und der Pariser Anwalt Lionel Crusoé focht im Februar dieses Jahres im Namender FondationAbbé Pierre und der Französischen Liga für die Vertei digung der Menschenrechte ein Bet telverbot der Stadt Metz an. Crusoés knappe Bilanz: «Wir haben das euro päische Urteil vor Gericht eingesetzt – und Recht bekommen.» Oben: Die ausge- streckte, bettelnde Hand mag moralisch peinlich berühren, aber die öffentliche Ordnung gefährde sie nicht, urteilt der EGMR. Unten: Die Genfer Polizei schrieb den Roma Bettel-Ver merke direkt in den Pass, mit negativen Folgen für die, denen der Pass gehört. Fotos Eric Roset, Genf
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