Schweizer Revue 3/2021

Schweizer Revue / Juni 2021 / Nr.3 16 Literaturserie vertreiben. «Zum Glück kam ich mit dem Gesicht nach unten zu liegen, sonst hätte ich durch die Gewalt der auf mich eindringenden Wassermenge ersticken müssen.» Schliesslich hörte man von draussen die Stimme: «Schade, dasWasser ist aufgebraucht, sonst, the devil catchme, wenn ich nicht die Kerls wie Ratten ersäuft hätte!» Dass der «En- gineer» später auf offener Strecke von einem Dutzend Tramps spitalreif geschlagen wurde, erfuhr der Erzähler später aus der Zeitung. Auch Polly hält ihn nicht zurück Ehe er 1894 auf einem Frachtschiff nach Liverpool zurück- reisen kann, ist der junge Schweizer noch Koch auf einer Austerninsel und erlebt eine dramatische Liebesgeschichte mit einem ebenfalls gerade 17-jährigen Mädchen indiani- scher Herkunft. Von ihrem Vater geprügelt und fortgejagt, will sich ihm die junge Frau anschliessen, aber er erklärt ihr, sie könne, «alsMädchen, unmöglich seinWandergeselle sein». Obwohl unsterblich verliebt, bleibt er auch fest bei dieser Haltung, nachdemPolly ihn von der Malaria gesund gepflegt und sogar für ihn gestohlen hat. Nach einemvon dem jungenMann erwirkten FreispruchwegenDieb- stahls verlassen die beiden das Ge- richtsgebäude, und nachdem sie am Flussufer Zärtlichkeiten aus- getauscht und amerikanische Lie- der gesungen haben, verlässt der Schweizer «den hübschesten klei- nen Yankee, den er je gesehen hat» in aller Heimlichkeit, um sein un- beschwertes Tramperleben wie- der aufzunehmen: «Ein zweiter Abschied von Polly wäre mir zu schwer geworden.» Von Ernst Frey sind keinerlei Bücher erhältlich. CHARLES L INSMAYER IST L I TERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNAL IST IN ZÜRICH CHARLES L INSMAYER Wer hatte nicht schon über Chaplins Darstellung des «Tramps», jenes amerikanischen Wanderarbeiters der 1880er-Jahre, gelacht, der auf Güterzügen mitfuhr, da und dort einen Job annahm und irgendwo ein geklautes Huhn verzehrte? In die Literatur Eingang fand die Figur im 1908 erschienenenRoman «TheAutobiographyof a Super-Tramp» vonWilliamHenryDavies (1871–1940). Auf den Titel seines Romans griff die britische Pop-Gruppe zurück, als sie sich 1969 den Namen «Supertramp» zulegte. Als Schweizer Zugvogel in Amerika Nicht bekannt ist dagegen, dass es auch einen Schweizer gab, der bereits mit 15 Jahren als Tramp in Amerika lebte und seine Erlebnisse in einem eher soziologisch als litera- risch bedeutsamen Buch beschrieb. Es handelt sich umden 1876 in Zurzach geborenen Ernst Frey (1876–1956), der von 1891 bis 1894 die USA durchwandert hatte und ab 1905 in Benken (BL) einen Bauernhof betrieb. Zusammen mit seiner literarisch interessierten Frau publizierte der für den Sozialismus begeisterte Bauer autobiografisch ge­ färbte Erzählungen wie «Güggs. Eine Geschichte» (1912), «Oh Menschenherz» (1915), «Unterwegs» (1925), «Die Frau in Sammet» (1930) sowie die von einempassionierten Lern­ eifer zeugenden «Briefe an meine Frau» (1925). Sein Leben als Tramp aber, bei demer fast alle Staaten der USA zu Fuss besucht habenwill, hatte Frey bereits 1906 unter dem Titel «Zugvogel. Skizzen aus der Heimat und überm Ozean» ge- schildert. Von Knoxville nach Cincinnati Er habe «nur imNotfall» die Bahn bestiegen, heisst es da. So als er sich vonKnoxville nachCincinnati einer Gruppe von «zwanzig bis fünfzig Tramps» anschloss. Mittels einer Stange Kautabak gelang es ihm, deren Vertrauen zu gewin- nen. «Jeder schob seinen Teil zwischen die Zähne, und ich war aller unfreundlichen Augen los.» Ein alter Mann er- zählte in dem leeren Güterwagen aus dem Bürgerkrieg. «Der Zug setzte sich in Bewegung. Jeder lag auf demBoden hingestreckt, kaute seinen Tabak und überliess sich mit offenbarem Vergnügen dem immer stärker werdenden Rütteln und Schütteln.» In Livingston wollte der Lokomo- tivführer die ungebetenen Passagieremit demWenderohr Wie Chaplins Tramp quer durch Amerika Der naive Schweizer Volksschriftsteller Ernst Frey durchwanderte als 15-Jähriger die Vereinigten Staaten zu Fuss und als blinder Passagier. «Ich liebe Amerika, weil ich da wie in keinem andern Land meinem Wandertrieb Genüge tun kann, weil es durch seine Grösse und Schönheit, durch alle seine Naturerscheinungen und nicht zuletzt durch seine Freiheiten meinem Wesen gerecht wird. Ich lebe mich hier so aus, wie ich es muss, um geistig und körperlich gesund zu bleiben. In meinem Vaterlande sind die Verhältnisse ganz andere. Dort hätte ich mit meinem Tun bald ein schlimmes Urteil zu gewärtigen.» (Ernst Frey, «Zugvogel. Skizzen aus der Heimat und überm Ozean». Verlag Arnold Bopp, Zürich 1906. Vergriffen)

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