Schweizer Revue 3/2021

Schweizer Revue / Juni 2021 / Nr.3 6 Schwerpunkt EVA HIRSCHI RenataCoray ist rätoromanisch-schweizerdeutsch inBasel­ land aufgewachsen, hat in Freiburg auf Französisch und Deutsch studiert, wohnt inZürich, weilt oft in der Surselva, liest bei der Arbeit auch Texte auf Englisch und fährt am liebsten nach Italien in den Ferien. So polyglottwie die Pro- jektleiterin am Institut für Mehrsprachigkeit in Freiburg sind zwar nicht alle Schweizerinnen und Schweizer unter- wegs, doch die neuste Studie des Bundesamts für Statistik zur Schweizer Sprachenlandschaft zeigt: Die Mehrspra- chigkeit nimmt signifikant zu. Mehr als zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung verwenden regelmässig mehr als eine Sprache. 2014 nutzten rund 64 Prozent in ihrem All- tag mehr als eine Sprache. Heute sind es 68 Prozent. Zwei Sprachen genügen oft nicht: 38,4 Prozent brauchen regel- mässig zwei, 21,3 Prozent drei, 6,4 Prozent vier und 1,7 Pro- zent gar fünf oder mehr Sprachen. Anzumerken ist dabei, dass in dieser StudieHoch- und Schweizerdeutsch nicht als zwei separate Sprachen angesehen wurden. «Gründe für die Zunahme sind die erhöhte Mobilität, die erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten unter ande- rem durch die neuen Medien und das Internet, der ausge- baute Sprachenunterricht sowie die internationalere Be- völkerungszusammensetzung», sagt SoziolinguistinCoray. Die höheren Zahlen hätten aber auch mit der veränderten Fragestellung bei sprachstatistischen Erhebungen zu tun: Hatte man bis 1990 lediglich nach der Muttersprache ge- fragt (wobei sich bilingue Personen für eine Sprache ent- scheiden mussten), so können die Befragten seit 1990 zu- sätzlich die Umgangssprachen und seit 2010 bis zu drei Hauptsprachen angeben. Umsetzung hapert Trotz der Zunahme bleibt die Mehrsprachigkeit für die Schweiz ein brisantes politisches Thema. Dies zeigt der lange Kampf umdas Überleben des Rätoromanischen oder der vielerorts geführte Streit um die Einführung von Frühenglisch anstelle des Frühfranzösisch in den Schulen. Die Förderung der Landessprachen, insbesondere der Minderheitensprachen Italienisch undRätoromanisch, ist jedoch in der Bundesverfassung verankert. «Sprachpoli- tisch und auf gesetzlicher Ebene wurde relativ viel ge- macht», sagt Coray, «aber in der Praxis hapert es ab und zu.» Das zeige sich etwa in der Bundesverwaltung. In rund zwei Drittel aller Ämter sind die Deutschsprachigen deutlich übervertreten und die Angehörigen der Sprachminderhei- ten untervertreten, wie eine Untersuchung des Zentrums für Demokratie Aarau von 2020 aufzeigt. Ein ähnliches Problembestehe imKantonGraubünden, sagt Coray. Im einzigen Kanton, der drei Amtssprachen kennt – Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch – , ist Grüezi! Bonjour! Allegra! Benvenuto! Mehrsprachig durch den Alltag Vier Landessprachen, Dutzende Dialekte, insgesamt über 250 ge­ sprochene Sprachen: Die Mehrsprachigkeit ist für die Schweiz prägend – und sie nimmt zu. Am auffälligsten ist aber, wie sich im Schweizer Alltag Englisch mehr und mehr als fünfte «Landessprache» etabliert. Deutsch inder Verwaltungweiterhin klar dominant. Macht die Förderung des Rätoromanischen überhaupt Sinn, wo doch nur 0,5 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung Rätoromanisch als Hauptsprache angeben und nur 0,9 Pro- zent diese Sprache regelmässig verwenden? Vor allem, «Sprachpolitisch und auf gesetzlicher Ebene wurde relativ viel für die Förderung der Landes­ sprachen gemacht. Aber in der Praxis hapert es ab und zu.» Renata Coray

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