Schweizer Revue 4/2021

Schweizer Revue / August 2021 / Nr.4 16 Reportage Das «Niederberger Schiffli» sieht aus, als wärs ein skurri- les, schwebendes Stück aus einem Oldtimermuseum. Fotos Uri Tourismus spuren schwingender Drahtseile. Er will die archivierten Klänge zu einer Komposition verdichten. Draht zur Zivilisation Historiker Aschwanden hingegen be­ schäftigt sich mehr mit der gesell­ schaftlich prägenden Funktion der Seilbahnen: Im Berggebiet von Uri führten kleine Seilbahnen zu einem ähnlichen Resultat wie klassische Melioriationenmit Entsumpfung und Gewässerkorrektion imFlachland. Sie vereinfachten die Bewirtschaftung von Landwirtschaftsland und steiger­ ten dessen Erträge, weil sie denDraht zur Zivilisation herstellten. Als peri­ phere Siedlungen per Seilbahn er­ schlossen waren, konnten die Kinder plötzlich problemlos die Schule besu­ chen, Vater oderMutter leichter einem Zweiterwerb im Tal nachgehen. Das «Niederberger Schiffli» Weil das Urnerland aussergewöhnlich verwinkelt und steil ist, entstand ein einmalig dichtes Seilbahnnetz, zu dem heute offiziell noch 38 für Per­ sonentransporte konzessionierte Bahnen in allen Urner Kantonsteilen gehören. Spektakulär wie auf das Eggenbergli ist etwa die Fahrt in der offenen Kleinstkabine von Bristen im Maderanertal auf denWaldiberg oder von der Musenalp hinunter ins Chli­ tal bei Isenthal. Den Seilbahnboomeinst entschei­ dend angetrieben hat der Nidwaldner Industriepionier Remigi Niederberger, eigentlich ein Schmied, der um die Jahrhundertwende das Potenzial von auf Drahtseilen geführten Schwebe­ bahnen erkannte. Er und seine Söhne entwickelten, wieHistorikerAschwan­ den erklärt, im Eigenbau eine auf das raue Berggebiet perfekt abgestimmte Spezialkonstruktion: eine Kleinst­ kabine, auf das Notwendigste redu­ ziert, trotzdem vor der Witterung schützend, deren kurzes Gehänge es erlaubte, Seilbahnen mit niedrigen Masten zu bauen. Die sogenannten «Niederberger Schiffli», wie sie auch auf das Eggenbergli fahren, sind heute ein historisches Industriekulturgut. ÖV in der Vertikalen In zwei Sektionen führt eine kleine Gondelbahn aus demSchächental auf das Hochplateau Ruogig, das als Alp genutzt wird. Um die Mittel- wie um die Bergstation verstreuen sich weit­ läufig kleine Bauernhöfe, die sternför­ migmit kleinerenMaterialseilbahnen an dieHauptachse angeschlossen sind. Milch und Heu werden so gesammelt und ins Tal geliefert, Güter des tägli­ chen Bedarfs kapillar zu den Bauern­ familien verteilt. «Zur Urner Seilbahn­ kultur gehört nicht nur die Bahn an sich, sondern auch die filigrane Fein­ erschliessung der Streusiedlungen», sagt Historiker Aschwanden. Man könnte von einem luftigenÖV-Netz in der Vertikalen reden. Wunder Punkt dieses Systems ist die mangelnde Wirtschaftlichkeit. «Die vielenKleinbahnenmit niedrigen Frequenzen können kaum rentabel betrieben werden», bestätigt Toni Ar­ nold, Geschäftsführer des Urner Seil­ bahnverbands. Ein zentraler Aspekt: die wachsenden Sicherheitsanforde­ rungen. Auch wenn die Kleinbahnen auf den ersten Blick aussehen wie schlecht gewartete Provisorien, un­ terstehen sie laut Arnold dem gesetz­ lich festgelegten Prüfungsrhythmus. Jede Bahn werde einmal jährlich von der zuständigen Fachstelle einer tech­ nischenKontrolle unterzogen, das Seil mit Spezialmethode geröntgt. Unfälle gab es in den letzten Jahrzehnten höchstensmitMaterialseilbahnen, in die sich verbotenerweise Passagiere gesetzt hatten. Konkurrenz der Strasse Arnold hofft, dass der wachsende Out­ door-Tourismus den Urner Kleinseil­ bahnen etwas wirtschaftlichen Rück­ halt gibt, zumal die meisten Kabinen etwa mit Installationen zum Trans­ port von Mountainbikes versehen sind. Gleichzeitig verschweigt Arnold Im Cockpit des «Nie- derberger Schifflis» müssen Passagiere sich selber kundig machen, wie die Seil- bahn in Bewegung zu versetzen ist. Foto Jürg Steiner

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