Schweizer Revue 4/2021
Schweizer Revue / August 2021 / Nr.4 18 Gesellschaft SUSANNE WENGER Fünf Organisationen, unter ihnen die Auslandschweizer Organisation ASO, haben dem Bundesrat Ende Mai ein Konzept für eineGedenkstätte inder Stadt Bern eingereicht. Sie soll an Schweizerinnen und Schweizer erinnern, die vom nationalsozialistischen Regime «als Jüdinnen und Juden, als politische Oppositionelle oder aus anderen Gründen verfolgt, entrechtet und ermordet wurden», wie die Initiantenmitteilten. Ebenfalls sei die Gedenkstätte den Menschen gewidmet, die sich den Nazis entgegenstellten oder den Verfolgten Schutz und Hilfe boten. Zugleich gehe es darum, der verfolgten Frauen, Männer und Kinder zu gedenken, denen die Schweizer Behörde die Rettung ver weigerte. 150 Erstunterzeichnende – darunter viele bekannte Persönlichkeiten – und 30 Organisationen unterstützen das Anliegen. Gedenktafeln und Ähnliches aus privater Initiative gibt es zwar schon einige in der Schweiz. So er innern seit Ende letzten Jahres sogenannte Stolpersteine anmehrere Schweizer Nazi-Opfer. Die Steine, wie man sie in Deutschland und Frankreich schon länger kennt, wur den vor einstigen Wohnorten Betroffener in der Stadt Zürich in den Boden verlegt. «Doch nun ist die Zeit reif für eine offizielle Gedenkstätte, getragen vom Bund», unter streicht ASO-Präsident Remo Gysin. Erinnerung an Grauen und Terror Es sei wichtig, «die Erinnerung an das unvorstellbare Grauen des Holocaust, an das terroristische Nazi-Regime wachzuhalten» – auch in der Schweiz und besonders gegen über der jüngerenGeneration, sagt Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen IsraelitischenGemeindebundes (SIG). Neben einer künstlerischen Intervention im öffentlichen Raum soll das Denkmal Bildungs- und Informationsan gebote beinhalten, auch online. Denn dass es Schweizer Nazi-Opfer gibt, war in der Öffentlichkeit bis vor einigen Jahren kaumbekannt. Jüngere Forschung zeigt aber: Gegen tausend Menschen mit Bezug zur Schweiz erlitten die Schrecken der Konzentrationslager, mehr als zweihundert von ihnen wurden dort getötet. Der Zürcher Sozialdemokrat Albert Mülli (1916–1997) überlebte das KZ Dachau. Er hatte 1938 Flugblätter nach Wien geschmuggelt. Die Schweizer Behörden warfen ihm nach seiner Befreiung «grosses Selbstverschulden» vor. Das alles hinterliess Spuren, die im Alter hochkamen, wie seine Tochter Ursula Zellweger erzählt. Sie sagt: «Ein Zei chen der offiziellen Schweiz ist überfällig.» Auch die frü Damit denWorten nicht wieder Taten folgen In der Schweiz soll ein Gedenkort für die Opfer des Nationalsozialismus entstehen. Ein von verschiedenen Organisationen erarbeitetes Konzept stösst in der Politik auf offene Ohren. Die Initianten wollen auch Vorurteilen und Ausgrenzung von heute entgegenwirken. Vergessene Schweizer Opfer In einem Ende 2019 publizierten Buch arbeiteten drei Deutschschweizer Journalisten erstmals die Schicksale von Schweizer KZ-Häftlingen auf, die meisten unter ihnen Auslandschweizer (siehe «Schweizer Revue» 1/2020). Nun erscheint das vielbeachtete Buch auch auf Französisch, in einer aktualisierten Fassung. «Nach der Publikation haben sich Leserinnen und Leser bei uns gemeldet und uns Informationen zu weiteren Schweizer Fällen geliefert», sagt Mitautor Benno Tuchschmid. Die Quellen seien gesammelt und verifiziert worden. Das ergänzte Buch führt nun 749 Nazi-Opfer mit Bezug zur Schweiz auf. Neu dazu kam unter anderen die Jüdin Henryka Sigmann, die mit ihrem Mann und zwei ihrer fünf Kinder in den Niederlanden verhaftet, nach Ausch- witz deportiert und dort 1943 umgebracht wurde. Im KZ Gusen starb 1945 Eugène Edouard Scheuch. Er war zwei Jahre zuvor in Frankreich wegen unerlaubten Waffenbesitzes verhaftet worden. Les Victimes oubliées du 3e Reich. Von Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid. Editions Alphil, 384 Seiten. 29 CHF, 25 Euro. Erhältlich ab Oktober 2021. Erinnern heisst auch, den Opfern einen Namen und ein Gesicht zu geben: Albert Mülli war im KZ Dachau inhaftiert. Foto Schweizerisches Bundesarchiv
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