Schweizer Revue 4/2021
Schweizer Revue / August 2021 / Nr.4 27 Steiniger Weg durchs Parlament In der Schweiz kam das Begehren vor über 20 Jahren erst- mals aufs politische Parkett. Aber erst 2020 bekannten sich National- und Ständerat klar für die «Ehe für alle». Dass es zu diesem «Meilenstein» und «unglaublichen Fortschritt» kam – wie die Befürwortenden jubelten – , ist auch auf die neue Zusammensetzung des Parlaments zurückzuführen. Die gesellschaftsliberalenKräfte hatten in denWahlen 2019 deutlich zugelegt. Die Schweiz habe Mühe mit gesellschaftlichen Refor- men, sagt Kathrin Bertschy: «So vorteilhaft unsere Demo- kratie seinmag, schützt sie doch vor überhasteten Entschei- den, so schwer tut sie sich damit, gesellschaftlichenWandel rechtzeitig in die Gesetzgebung zu integrieren.» Konservativen Kreisen geht der Entscheid des Parla- ments zu weit. Sie haben mehr als 60 000 Unterschriften zusammengetragen, damit das Volk das letzteWort erhält. Sie argumentieren teilweise religiös: In der Bibel sei die Ehe ausschliesslich für heterosexuelle Paare vorgesehen. Sie sei die natürliche Lebensgemeinschaft, aus der Kinder hervor- gingen. Ammeisten stört die Gegnerschaftder Zugang zur Samenspende. Den so gezeugten Kindern werde der Vater vorsätzlich verwehrt, kritisiert sie. Das Kindswohl leide. Zudem seien weitergehende Forderungen, wie die Eizel- lenspende oder Leihmutterschaft, zu befürchten. «Das geht einfach viel zu weit», sagt Marianne Streiff, die bis im Juni dieses Jahres Parteipräsidentin der EVP war. Das Ja-Komitee widerspricht. Von einer Salamitaktik könne keine Rede sein. Ziel sei die Gleichberechtigung, die gemäss Verfassung jedem Menschen unabhängig von seiner Lebensformzustehe. Die Befürworterinnen und Be- fürworter verweisen darauf, dass Kinder die Identität des Samenspenders erfahren können, sobald sie 18 Jahre alt sind. Die Eizellenspende und Leihmutterschaft sind nicht Teil der Vorlage: Sie bleiben in der Schweiz verboten. «Ein Ideal, das nicht mehr zu retten ist» Neue Familienformen seien längst Alltag, sagt Yv E. Nay von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Studien zeigten einstimmig, dass für dasWohlergehen der Kinder nicht die sexuelle Präferenz der Eltern, sondern die Beziehungsqualität und das Klima in der Familie entschei- dend seien. Nay beobachtet, dass in politischen Auseinan- dersetzungen um die Rechte der LGBTQ mit Kindern tra- ditionelle Bilder heraufbeschworen werden, die mit der gelebten Realität von Regenbogenfamilien wenig zu tun haben. «Es wird immer noch an einem Ideal festgehalten, das eigentlich nicht mehr zu retten ist und das als solches, wenn überhaupt, dann nur sehr kurze Zeit existierte.» Lesbische Paare, die eine Familie gründen, sollen mit der «Ehe für alle» Elternrechte ab Geburt erhalten. Zurzeit wird nur die leibliche Mutter als solche anerkannt. Ihre Partnerin kann zwar eine Stiefkindadoption beantragen. Diese kann aber frühestens ein Jahr nach der Geburt des Kindes eingeleitet werden. Tatsächlich dauern solche Ver- fahren oft mehrere Jahre. «In dieser Zeit sind die betrof fenen Kinder unzureichend abgesichert», gibt Maria von Känel zu bedenken. Die neue Gesetzesvorlage schaffe Rechtsgleichheit und nehme den Betroffenen einen gros sen Leidensdruck. Sie gestehe homosexuellen Menschen viele weitere Grundrechte zu, die mit der eingetragenen Partnerschaft nicht abgedeckt würden: «Daher braucht es die ‹Ehe für alle› unbedingt.» Zunehmende Akzeptanz Die Chancen für ein klares Ja zur «Ehe für alle» an der Urne stehen gut. Dass diverse Familienformen gesellschaftlich zunehmend akzeptiert sind, belegt die vom Bund heraus- gegebene «Erhebung zu Familien und Generationen 2018». 58 Prozent der Frauen und 43 Prozent der Männer finden, dass ein Kind auch bei einem gleichgeschlechtlichen Paar glücklich aufwachsen kann. Mehr als die Hälfte der Befrag- ten (65 Prozent der Frauenund 53 Prozent derMänner) sind derMeinung, dass homosexuelle Paare die gleichenRechte haben solltenwie heterosexuelle. EineUmfrage, welche das Meinungsforschungsinstitut GFS imAuftrag der Schwulen- Organisation pink cross durchgeführt hat, dokumentiert ebenfalls eine breite Akzeptanz. 63 Prozent der Teilneh- menden antworteten auf die Frage, ob sie für die «Ehe für alle» seien, mit «Ja», 18 Prozent mit «eher Ja». «Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung will eine Gleichstellung», ist Maria von Känel überzeugt. Das im Text verwendete Kürzel LGBTQ steht für: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transpersonen und Queers, sprich Geschlechts-Uneindeutige. Die «99-Prozent-Initiative» Soll Kapitaleinkommen stärker besteuert werden? Um diese Frage geht es bei der sogenannten «99-Prozent-Initiative» der Jungsozialisten, über die das Volk ebenfalls am 26. September entscheiden wird. Die Initiative mit dem offiziellen Namen «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» sieht vor, dass Kapitalerträge wie Zinsen, Mieterträge oder Dividenden eineinhalbmal so stark besteuert werden wie Lohneinkommen. Der Gesetz- geber soll allerdings einen jährlichen Freibetrag festlegen. Die Initianten denken dabei an 100 000 Franken. Mit den Mehreinnahmen sollen Personen entlastet werden, die wenig verdienen. Aber auch die soziale Wohlfahrt – Bereiche wie Bildung und Gesundheit – soll profitieren. (ERU) Yv E. Nay sagt, punkto Familienbild werde «an einem Ideal festge halten, das nicht mehr zu retten ist». Foto Keystone Kathrin Bertschy: «Die Familien mit zwei Müttern sind da. Sie sind mitten in unserer Gesellschaft.» Foto Keystone Maria von Känel: «Die Gesellschaft hat sich deutlich gewandelt. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung will eine Gleich stellung.» Foto Keystone Marianne Streiff befürchtet Forderungen wie Leihmutterschaft oder Eizellenspenden: «Das geht einfach viel zu weit.» Foto Keystone
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