Schweizer Revue 4/2021

Schweizer Revue / August 2021 / Nr.4 30 Unbekanntenmit einemneuenBlick und einer Zuwendung zuMenschen und Dingen, die nur einer haben konnte, der davon ausging, dass Reisen eine «unaufhörliche Einladung zur Leichtigkeit, eine sichere und sanfte Einübung in die Transparenz und in die Überwindung des eigenen Ich» sei. Neue Art der Reisebeschreibung Der erste Teil der Fahrt, von Belgrad nach Kabul, sollte Bouvier 1963 in seinem Buch «L’usage du monde» («Die Er­ fahrung derWelt») beschreiben, eine Reise, die die Freunde dadurch finanzierten, dass Vernet seine Bilder verkaufte, während Bouvier für Zeitungen berichtete. Erstmals kommt in dem Buch Bouviers unverwechselbare Art der Reisebeschreibung zum Tragen. Er führt, einzigartig im Ton, in der Wortwahl, im Rhythmus, stets ins Zentrum einer Sache, eines Orts, einesMenschen hinein, immer um Menschlichkeit in einer an sich unmenschlichen Welt be­ müht. Und es führt die Erzählung nicht nur in das fremde Land, sondern auch in die innere Welt des Beobachters, die voneiner subtilen Herzensbildung und ei­ nemgrossenWissen bestimmt ist. Nach anderthalb Jahren trenn­ ten sich die Freunde und Bouvier reiste allein über Indien nach China und schliesslich nach Cey­ lon, demheutigen Sri Lanka, wo er neunMonate blieb. In «Le poisson­ scorpion» («Der Skorpionsfisch») sollte er 1982 schildern, wie er vom feucht-heissen Klima geschwächt wurde, wie sich aber auch seine Sinne schärften für die Faszina­ tion und den Schrecken der Insel, deren Schatten- und Insektenwelt er zu erfassen suchte. Im Oktober 1955 verliess er Ceylon und er­ reichte auf einem französischen Dampfer Japan, wo er wiederum ein Jahr blieb und sich der Stoff sammelte, den er 1970 in seiner «Chronique japonaise» ausbreiten würde. CHARLES L INSMAYER Es gibt zwei Schweizer, zu denen wie ein poetisch-mecha­ nisches Markenzeichen das Mäuschen, der «Topolino», jener von 1936 bis 1955 hergestellte Kleinwagen von Fiat ge­ hörte: Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler (1888–1962), demesmit unerfindlichemGeschick gelang, seinemassige Gestalt in das winzige Fahrzeug hineinzupressen, das Im Topolino nach Japan und Afghanistan Während einer Reise in einem alten Auto entwickelte Nicolas Bouvier 1953 bis 1957 seine noch heute faszinierende neue Erfahrung von Welt. «Man reist nicht, um sich wie einen Christbaum mit Exotik und Anekdoten zu schmücken, aber damit die Strasse einen rupft, ausspült, auswindet wie jene vom Waschen fadenscheinig gewordenen Handtücher, welche mit einem Seifensplitter in den Bordellen gereicht werden.» (Aus Nicolas Bouvier, «Der Skorpionsfisch» Aus dem Französischen von Barbara Erni, Ammann-Verlag, Zürich, 2002) Literatur heute imVerkehrsmuseum Luzern ausgestellt ist, und der am6. März 1929 inGrand-Lancy bei Genf geborene und am 17. Februar 1998 in Genf gestorbene Nicolas Bouvier, der im Sommer 1953 zusammen mit seinem Malerfreund ThierryVernet in seinemTopolinoRichtungAsien aufbrach, um auf eine ganz neue, neugierig-offene, zu allen Aben­ teuern bereite, aber auch philosophisch-nachhaltigeWeise die Welt zu befahren. Einladung zur Leichtigkeit Nichtstun war ihre bevorzugte Tätigkeit, sie hatten zwei Jahre Zeit vor sich und Geld für vier Monate, und auf dem Reiseplan standen die Türkei, Iran, Indien und Japan, Wüsten, Pässe, Städte, Märkte und die Natur in ihrer Uner­ bittlichkeit. Bouvierwar schon in Lappland, Nordafrika und auf dem Balkan gewesen. Nun aber näherte er sich dem

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