Schweizer Revue 4/2021

Schweizer Revue / August 2021 / Nr.4 32 «Infrage gestellt wird das Grundgefühl, mit Europa verbunden zu sein» Er setzt sich mit Herzblut für die Erinnerung an den Holocaust ein. Und er will, dass die Fünfte Schweiz mehr politisches Gewicht erhält. Der abtretende ASO-Präsident Remo Gysin schaut zurück – und wagt den Blick in die Zukunft. INTERVIEW: MARC LETTAU Remo Gysin, Sie kamen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zur Welt. Und Sie kämpfen heute für ein Schweizer Holocaust­ Memorial: Ist das Memorial-Projekt Ihr Vermächtnis? Das Thema hat mich ein Leben lang berührt. Der Krieg und seine Folgen und die Gräuel des Holocaust waren in Schule und Elternhaus immer ein Thema, ein sehr schwieriges. Verste- hen kann ich das damals Geschehene bis heute nicht. Aber was genau brachte Sie dazu, Jahr­ zehnte nach Kriegsende die Debatte über die Holocaust-Erinnerungskultur mit einer Memorial-Idee neu zu beleben? DenAnstoss gab die Zeitschrift «Beob- achter», die das Thema 2017 auf neue Weise aufgegriffen hat. Sie hat den Fokus auf jene Menschen mit Schwei- zer Pass gerichtet, die zu Opfern des damaligen Schreckens wurden. Auf die Schweizer Kämpfer in der franzö- sischen Resistance. Auf Ausland- schweizerinnen und -schweizer jüdi- schen Glaubens. Zu Opfern wurden aber auch Frauen, die durchHeirat ihr Schweizer Bürgerrecht verloren hat- ten – und damit auch gleich jeden Schutz durch die Schweiz. Dies hat mich sehr berührt. Niemand verliert heute durch Heirat sein Schweizer Bürgerrecht. Auslandschweize­ rinnen und -schweizer erfahren generell mehr Schutz, mehr Anerkennung als damals. Die Gegenwart erscheint anders. Es ist keineswegs alles bestens. Wir sehen zumBeispiel, wie der Antisemi- tismus wieder zunimmt. Und wenn Spannungen, wie jene zwischen Israel und Palästina, eskalieren, führt das zu einer erneuten Bedrohung von Aus- landschweizerinnenund -schweizern. Aber auch in anderer Hinsicht gibt es in der Fünften Schweiz neue Schutz- bedürftige, zum Beispiel von Umwelt- katastrophen oder von Armut Betrof- fene. Die Grundlagen für ein Schweizer Holocaust-­ Memorial sind geschaffen. Verblassen da­ neben für Sie allfällige frühere Höhepunkte? Meine 20 Jahre ASO waren reich an Höhepunkten. Dazu zähle ich beson- ders all die persönlichen Begegnun- gen mit Auslandschweizerinnen und -schweizern. Zudem hatte ich das Glück, meine Präsidialzeit gleich mit der Jubiläumsfeier «100 Jahre ASO» be- ginnen zu dürfen. Ein fulminanter Einstieg … … gefolgt von fulminanten Etappen, etwa dem Winzerfest 2019 in Vevey mit seinemAuslandschweizertag. Auf ganz andere Art war selbst die Coro- na-Pandemie etwas Besonderes: Mich beeindruckte, wie rasch es uns gelang, auf ganz neue Kommunikationsfor- men umzustellen. Die Vergangenheit darf man an Höhepunkten messen. Für die Zukunft sind hingegen die Herausforderungen bestimmend. Das Stich­ wort dazu: das Aus fürs Rahmenabkommen. Der Verhandlungsabbruch durch die Schweiz wirft viele Fragen auf. Fragen zur Zukunft der internatio- nalen Mobilität, zur Niederlassungs- freiheit, Personenfreizügigkeit, Krankenversicherung, Sozialversi- cherung. Es ist eine grosse Unsicher- heit entstanden. Remo Gysin anlässlich der Präsentation des Holocaust-Memori­ al-Projekts in Bern. Foto Keystone

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