Schweizer Revue 4/2021
Schweizer Revue / August 2021 / Nr.4 33 Wir führen dieses Interview in Basel und fürs Erste ist rein gar nichts von Veränderung zu spüren. Stark spürbar ist, dass eine Stadt wie Basel nicht funktionierenwürde ohne all die Grenzgängerinnen und Grenz- gänger, die unser Gesundheitswesen und praktisch jedenWirtschaftszweig stützen. In Frage gestellt wird nun das Grundgefühl, mit Europa verbunden zu sein. Der Verhandlungsabbruch schafft keine Klarheit. Er schafft Fra- gen, auch weil die Lebensumstände der über 400000Schweizerinnenund Schweizer in der EU beim Verhand- lungsabbruch unbeachtet blieben. Sie bleiben sich treu: Schon als Nationalrat gehörten Sie zu den Kritikern der bundesrätlichen Europapolitik. Die Schweizer Aussenpolitik ist seit je von den spannungsreichen Fragen geprägt: Was wollen wir? Und wer ist zuständig? Die Mitbestimmung des Parlaments ist in der Verfassung ver- ankert. Hiermit ist auch verankert, dass das Volk letztlich das Sagen hat und gegebenenfalls das Referendum ergreifen kann. Jetzt aber hat der Bun- desrat ganz allein entschieden. Dieses Vorgehen tangiert den Kern unserer Demokratie. Weckt das Ihre Lust, aufs Neue für einen EU-Beitritt einzustehen? Zumindest glaube ich, dass der Ver- handlungsabbruch durch den Bun- desrat den EU-Beitritt als mögliche Option wieder stärker ins Blickfeld rückt. In so zentralen Fragen wäre die Stimme der Auslandschweizerinnen und -schweizer von Interesse. Kritiker sagen aber, das Parlament der Fünften Schweiz, der Aus- landschweizerrat (ASR), sei keine Stimme, sondern bloss ein Stimmchen. Heute ist die ASO politisch gut ver- netzt. Unser Einfluss hat zugenom- men. Wir stehen in engem Austausch mit Parlamentariern und Behörden. Auch der Auslandschweizerrat reprä- sentiert die Fünfte Schweiz heute bes- ser als früher. Leider muss ich aber einräumen: Am Ziel sind wir noch lange nicht. Soll die politische Bedeu- tung des ASR steigen, muss seine Re- präsentativität verbessert werden. Wir müssen also sicherstellen, dass in Zukunft alle erwachsenen Schweize- rinnen und Schweizer im Ausland an den ASR-Wahlen teilnehmen können. So ist auch mein Grundverständnis von Demokratie. Bei den ASR-Wahlen von 2025 soll erstmals flächendeckend ein E-Voting-System zum Einsatz kommen. Wäre dies der Durchbruch? E-Voting erleichtert alles. Das gilt für eidgenössische und kantonale Ab- stimmungen undWahlen. Ein eigenes E-Voting-System ist aber auch für die Wahlen in den Auslandschweizerrat von zentraler Bedeutung. Aber es braucht vor allemdenWillen für eine höhere Beteiligung. Das zeigte sich in Ländern wie Australien, Mexiko oder Grossbritannien, wodieGemeinschaft vor Ort sicherstellte, dass möglichst viele Landsleute mitbestimmen kön- nen. Das ist vorbildlich. Welche heissen Eisen überlassen Sie Ihrem Nachfolger? Es sind die bekannten Dauerbrenner: In der Fünften Schweiz können viele die von der Schweiz gewährten politi- schen Rechte nicht wahrnehmen; die Bankenpolitik schafft Probleme; und der innenpolitischeDruck auf die Aus- landschweizerinnen und -schweizer wird nicht kleiner. Im Klartext: Im Parlament werden Stimmen laut, die Bürgerrechte der Auslandschwei- zerinnen und -schweizer einzuschränken. Genau. Will man aber deren Bürger- rechte neu aushandeln, würde ich eine ganz andere Richtung einschlagen: Warum nicht doch einen eigenen Wahlkreis für die Fünfte Schweiz schaffen? Sie wäre damit erstens bes- ser vertreten und zweitens viel sicht- barer. Vor allem ist aber zu beachten, dass sich das Mobilitätsverhalten ge- ändert hat: Auslandsaufenthalte wer- den tendenziell kürzer. Man kommt und geht. Das ist ein starkes Argument gegen die Einschränkung der politi- schen Mitspracherechte der im Aus- land lebenden Schweizerinnen und Schweizer. Unsere politisch interes- sierten Landsleute imAusland tragen letztlich entscheidend zum Bild der offenen, vernetzten, zukunftsfähigen, weltzugewandten Schweiz bei. Was wäre die Schweiz ohne die Fünfte Schweiz? Nur noch eine halbe Portion! Remo Gysin, *1945, langjähriger SP-Politiker, gehört seit 2001 dem Vorstand der ASO an. Seit 2015 präsidiert er diesen. Auf Ende August 2021 tritt er von diesem Amt zurück. «Beim Rahmenabkommen hat der Bundesrat ganz allein entschieden. Dieses Vorgehen tangiert den Kern unserer Demokratie.»
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