Schweizer Revue 4/2021
Schweizer Revue / August 2021 / Nr.4 6 Schwerpunkt JÜRG STEINER Michael Pesaballe erinnert sich bes- tens an den 6. Mai 2007. Es goss wie aus Kübeln auf den Landsgemeinde- platz in Glarus, als der damals 20-jäh- rige Jungsozialist auf den «Bogg» stieg, wie das erhöhte Rednerpult mit Mikrofon heisst. Pesaballe stellte einen Antrag: das aktive Stimm- und Wahlrechtsalter auf 16 Jahre zu sen- ken. «Ich rechnete ehrlich gesagt nicht damit, eine Mehrheit zu finden», erzählt Pesaballe. Die Debatte im Ring aber sei sehr emotional geführt worden, «plötzlich spürte ich, dass etwas in der Luft lag». Etwas Historisches. Nach einem laut Pesaballe «mitreissenden Votum» der damaligen Regierungsrätin Ma- rianne Dürst nahm die Landsge- meinde seinen Kompromissantrag knapp an. Das passive Wahlrecht – also das Recht, sich in ein politisches Amt wählen zu lassen – beliess man bei 18 Jahren. Aber Glarus senkte als erster Kanton der Schweiz das aktive Stimm- undWahlrechtsalter auf 16 Jahre. «Ich hatte damals natürlich die Hoffnung, dass andere Kantone unserem Beispiel folgen», sagt Pesa- balle. Doch nichts geschah. Auch 2021 ist der Kanton Glarus mit demStimm rechtsalter 16 allein auf weiter Flur. Wandel im Bundeshaus Der damalige Initiant ist überzeugt davon, dass der knappe Coup von 2007 eine Mischung war aus dem Glarner Innovationsgeist und der spontanen Emotionalität der Lands- gemeinde. Er selber «würde heute mit der gleichen Überzeugung dafür stimmen wie damals». Jüngst zeige etwa die Klimabewegung, dass sich Jugendliche – entgegenweitverbreite- ter Vorurteile – für politische Themen interessierten und engagierten. Da es bei Abstimmungen immer auch um deren Zukunft gehe, «sollten diese auch mitentscheiden dürfen und so lernen, Verantwortung zu tragen», findet Pesaballe. In den letzten zwei, drei Jahren ist in der Frage Bewegung aufgekom- men, etwa in den KantonenWaadt, Basel-Stadt, Genf, Wallis, Neuenburg, Uri, Zürich, Bern, Zug und Luzern. Aufsehenerregend ist die Ent- wicklung auf nationaler Ebene: 2008 und 2017 hatte das Stimmrechtsalter 16 im Parlament keine Chance. 2020 jedochwar alles anders. Der National rat hiess überraschend einen Vorstoss der grünen Basler Nationalrätin Sibel Arslan gut, wenige Monate dar- auf stimmte auch die vorberatende Kommission des Ständerats zu. Nun ist der Weg frei für die Ausarbeitung einer Verfassungsänderung, die rund 130000 junge Menschen neu zu Stimmberechtigten machen würde – auch junge Auslandschweizerinnen und -schweizer. Bevor es so weit ist, müsste die Vorlage in einer Volksabstimmung bestehen – doch da hatte Stimm- rechtsalter 16 bis jetzt stets einen schweren Stand. ImKanton Neuen- burg lehnte das Volk die Einführung letztes Jahr mit 60 Prozent Nein-Stimmen ab. Zürich dafür, Bern dagegen 1971 führte die Schweiz nach langem Kampf das Frauenstimmrecht ein, 1991 senkte sie das Stimmrechtsalter von 20 auf 18 Jahre. Das Stimmrecht für niedergelassene Ausländerinnen und Ausländer gilt nur in wenigen Gemeinden und Kantonen, Stimm- rechtsalter 16 bloss in Glarus. Die Schweiz ist bereit, immer wieder neu auszuhandeln, wer an der Demokra- tie teilhaben darf. Doch dafür braucht sie stets viel Zeit. Für Stimmrechtsalter 16 ist es aufschlussreich, den Blick auf die beiden bevölkerungsreichsten Kan- tone, Bern und Zürich, zu richten. Die Zürcher Regierung ist dafür, die Berner Regierung ist dagegen. Ihre Begründungen gehen weit auseinan- der. Die befürwortende Zürcher Kantonsregierung betont die aus demGleichgewicht geratene «Gene- rationenbalance» in der schweizeri- schen Politik. Das Medianalter der Abstimmenden liegt derzeit bei 57 Jahren, gemäss Berechnungen des liberalen Thinktanks Avenir Suisse steigt es bis 2035 deutlich über 60 Jahre. Mit anderenWorten: Der Einfluss der über 60-Jährigen wächst angesichts der gestiegenen Lebens erwartung ständig. Bald ist er bei Volksentscheidungen gleich gross wie derjenige aller unter 60-Jährigen. Mit 16 reif für Politik? Junge Schweizerinnen und Schweizer drängen darauf, bereits mit 16 statt erst mit 18 Jahren abstimmen und wählen zu können. Die Debatte läuft in mehreren Kantonen, aber auch in Bundesbern. Reicht das für den Durchbruch? Die Glarner Lands gemeinde ist eine ar- chaische Urform der direkten Demokratie: Am regnerischen 6. Mai 2007 entschied sie sich für die Moderne und gewähr te den 16-Jährigen das Stimmrecht. Foto Keystone
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