Schweizer Revue 1/2022

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 19 Reportage STÉPHANE HERZOG Verlassen Reisende den kleinen Bahnhof in Erstfeld, treffen sie auf die historische Passstrasse über den St. Gotthard. Links liegt die Kantine des SBB-Personals, die früher rund um die Uhr geöffnet war. Rechts liegt das Hotel Frohsinn. Einst zählte es stolze 12000Übernachtungen im Jahr, dochmittlerweile ist es geschlossen. In der kleinen Urner Gemeinde Erstfeld, in der während dem Bau des 1882 eröffneten ersten Eisenbahntunnels unter dem Gotthardmassiv ein Dorf von Arbeitern und Eisenbahnern entstand, gibt es heute keine Übernachtungsmöglichkeit mehr. «Erstfeld steht und fällt mit den SBB», sagt Gemeindepräsidentin Pia Tresch-Walker. Und: «Ich habe damals schon geahnt, dass die Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels für die Gemeinde schmerzhafte Folgen haben würde. Wir haben dadurch fast alles verloren. Nach der Eröffnung des Tunnels wurden Arbeitsplätze abgebaut und Erstfeld wurde wieder zum Provinzdorf.» Darüber hinaus hat der Einfluss der SBB auf das Gemeindegebiet die weitere Bebauung eingeschränkt. Demmöchte die Gemeinde Erstfeld, unterstützt vom Kanton, nun wieder entgegenwirken. Vor 2016, dem Jahr der Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels, arbeiteten in und um Erstfeld über 600 SBB-Angestellte. Heute sind im Wartungs- und Sicherheitszentrum des Tunnels nur noch 80 Personen und im Bahnhof rund 50Mitarbeitende beschäftigt. Mehrere Restaurants undGeschäfte in der Gemeinde haben ihre Türen geschlossen. Der frühere Gemeindepräsident von Erstfeld, Paul Jans, kann davon ein Lied singen. 1949 kaufte sein Vater das Hotel Frohsinn, das er anschliessend bis 2014 weiterführte. Auf der Gotthardstrecke passierten bis zu 300Züge pro Tag das Dorf. «Mit der Eröffnung des ersten Tunnels kamen fliessendes Wasser und Hausnummern in die Gemeinde», erinnert sich Jans. Mindestens einMitglied jeder Familie arbeitete bei den SBB. Die Ingenieure, die damals nach Uri gezogen waren, nahmen Einsitz imGemeinde- oder Schulrat und brachten ihr Fachwissen in die Gemeinschaft ein. «Heute nehmen die SBB in Erstfeld noch nicht einmal mehr Lehrlinge an», beklagt Pia Tresch-Walker, deren Mann Lokführer ist. Ein unsichtbarer Tunnel In Erstfeld ist der Zugang zum Nordportal mit Barrieren abgesperrt. Paul Jans nimmt uns mit auf einen Rundgang. Von weitem sehen wir die von der Tessiner Architektin Flora RuchatRoncati entworfenen Öffnungen der Betonröhrenmit ihren scharfenKanten. Gäste können den Tunnel über einen Zugangsstollen in Amsteg besichtigen und die Züge durch ein Tunnelfenster vorbeirauschen sehen. Doch wegen des Corona-Virus kommen derzeit kaum Touristen vorbei. Offen gesagt wurde den Erstfelder Hoffnungen aufmehrWohlstand schon bei der Eröffnung der Tunnelbaustelle ein Dämpfer versetzt. Die Ingenieure und Arbeitskräfte wurden ausserhalb der Gemeinde, weiter im Norden, untergebracht. «Es war eine Art Kaserne mit 350 Betten und einer Kantine. Die Arbeitskräfte, die zum Teil aus Österreich kamen, arbeiteten vier Tage lang mit voller Kraft und fuhren dann zur Erholung nachHause», erzählt Jans. Erstfeld bezog nur einen Teil der Quellensteuer, die vom Lohn der Arbeitskräfte abgezogen wurde. Die neue Eisenbahnstrecke durch die Alpen bietet Erstfeld keine direkte Verbindung ins Tessin.Wermit demZug durch den Tunnel nach Bellinzona reisen will, muss erst nach Flüelen zurückfahren. Das hindert Gemeindepräsidentin Pia Tresch-Walker jedoch nicht daran, diese Verbindung regelmässig zu nutzen. Sonntags fährt so manch einer von Erstfeld nach Bellinzona, um sich dort ein günstiges Buffet zu gönIm Schatten des längsten Eisenbahntunnels der Welt Der Gotthard-Basistunnel verbindet Erstfeld (UR) und Bodio (TI). Mit 57 Kilometern Länge ist er der längste Eisenbahntunnel der Welt. Bei der Einweihung des Bauwerks im Jahr 2016 standen die beiden Gemeinden an den Tunnelenden im Rampenlicht. Der erhoffte Wirtschaftsaufschwung blieb jedoch aus. Eine Reportage. Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: An den Pforten des längsten Eisenbahntunnels der Welt. e trem Schweiz Erstfeld: Aus der Sicht von Gemeindepräsidentin Pia Tresch-Walker (oben links) ist Erstfeld seit der Eröffnung des Tunnels wieder zum Provinzdorf geworden. Sehr pulsierend war das Leben am Tag des Besuchs auf jeden Fall nicht. Bodio: Am anderen Ende des Tunnels möchte Gemeindepräsident Stefano Imelli (links) erreichen, dass wenigstens einige Schnellzüge auch in Biasca anhalten. Für Zugführer Cédric Jacob (unten) blieb der Alltag eng verbunden mit dem Tunnel: Er fährt nachts das für den Unterhalt zuständige Personal in die Röhre. Fotos Stéphane Herzog

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