Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 30 Dino Brandão live zu hören ist ein überwältigendes Erlebnis. Er ist ein Künstler mit einer aussergewöhnlichen Stimme, der in ein vollkommen unbekanntes Universum eintaucht. Davon kann sich jeder selbst überzeugen, wenn er das Video von «Bouncy Castle» anschaut, einem Titel aus dem ersten Album des Schweizer Sängers. Die fünf Lieder auf dieser Mini-CD hören sich wie eine psychedelische, melancholische Collage an. «Meine Seele ist wie eine Hüpfburg, ich lasse dich reinspringen» (My psyche is a bouncy castle, I’ll let you jump in), singt Dino Brandão. Dabei wechselt er zwischen Kopfstimme und tiefen Tönen. Der 29 Jahre alte Künstler aus Zürich hat bereits mit einer der bekanntesten Schweizer Künstlerinnen, der Sängerin Sophie Hunger, zusammengearbeitet. Als Kind einer Aargauerin und eines Angolaners wuchs er in Brugg auf. SeinVater war Kindersoldat, und es scheint so, als ob der Sohn noch immer unter den Schockwellen dieser blutigen Vergangenheit leidet. Dieses Leiden fliesst in seine Texte ein. Vielleicht befreit seine Musik Dino Brandão von einem bedrohlichen Schatten – einer besonderen Art von Schizophrenie, die bei ihm diagnostiziert wurde. ZumKomponieren und Texten zieht sich der Künstler in sein Studio zurück, in dem sich Trommeln bis zur Decke stapeln. Er arbeitet alleine und vervielfältigt seine Aufnahmen und musikalischen Collagen auf seinemComputer. Seinemusikalische Ausbildung bezog der Autodidakt aus demRap, aber auch aus einer Mischung von Musikstilen. So ist etwa der Einfluss des angolanischenKünstlers Bonga zu spüren, dessen kraftvolle, zerrissene Stimme ein wenig an die von Dino Brandão erinnert. Das ist eine gute Gelegenheit, umsich den herzzerreissenden Song «Mona Ki Ngi Xica» noch einmal anzuhören. Dino Brandão fühlt sich imEnglischen zu Hause, singt aber auch gerne imDialekt. Davon zeugt sein Album Ich liebe Dich, das Ende 2020 herauskam. Das Werk entstand in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Sänger Faber und mit Sophie Hunger und wurde hinter geschlossenen Türen aufgenommen. Auf der Bühne und in seinen Videos bewegt sich der Künstler aus Zürich, der sich auf dem Skateboard recht geschickt anstellt, als sei er von einemGeist besessen. Seine seltsamen Gesten erinnern einwenig an die von Joe Cocker. Auf seiner rudimentären Website konzentriert sich Dino Brandão auf dasWesentliche. Vor allemgibt er dort die Termine seiner nächsten Konzerte in ganz Europa bekannt. Vielleicht können Sie ihn ja bald ganz in Ihrer Nähe spielen hören. STÉPHANE HERZOG Die Geschichte erzählt von Giulia, einer jungen Tessinerin in den Neunzigerjahren. Aufgewachsen in einem abgelegenen Bergdorf, besucht sie als Einzige ihrer Geschwister das Gymnasiumund beginnt fern der Familie ein Universitätsstudium.Während eines Besuchs zuhause, kurz vor den Schlussprüfungen, versucht Giulia, sich das Leben zu nehmen. Sie wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort verweigert sie sich anfangs jeder Hilfe und unternimmt mehrere Fluchtversuche. Mit viel Geduld und Engagement gelingt es der aufgeschlossenen Psychiaterin und dem Pf legepersonal, sich Giulia zu nähern. Sie öffnet sich und beginnt schliesslich, sich mit ihren Problemen und ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Die drei Kapitel des Buches tragen die Namen von «Giulia», «Annalisa» und «Sanders»: Annalisa, die verstorbene Schwester von Giulia oder vielleicht ihr Alter Ego, das sich lieber fernab von Menschen im Wald aufhält. Sanders, die aufmüpfige Patientin der Klinik, die Giulia zur Flucht animiert, oder die Projektion einer Figur, welche Giulia gerne wäre. Der Roman spielt in einer Zeit, in der in den Tessiner Tälern noch viel Armut herrscht und die Rollenverteilung innerhalb der Familie äusserst traditionell ist. Es ist aber auch eine Zeit des Umbruchs – hier symbolisiert durch Giulia, die ihren eigenenWeg erst suchen muss. Im Roman werden die verschiedenen Handlungsorte sehr plastisch dargestellt. Aber vor allem lebt er von der Ambivalenz zwischen draussen und drinnen, zwischenNormalität undWahnsinn, und dem Kontrast zwischen der städtischen Lebensweise und der Natur. Äusserst gelungen mit seinen dichten Schilderungen ist das mittlere Kapitel «Annalisa». Doris Femminis setzt als Autorin geschickt verschiedene Erzählrhythmen ein. Dies erzeugt Spannung und lässt dem Lesenden dennochRaum für eigene Interpretationen. Die Geschichte ist spannend und hat Tiefgang. «Für immer draussen» ist das zweite Buch von Doris Femminis. 2020 wurde sie dafür mit dem Schweizer Literaturpreis des Bundesamtes für Kultur ausgezeichnet. Die Autorin wurde 1972 im Maggiatal im Tessin geboren. Sie arbeitete nach der Ausbildung zur Krankenpflegerin in einer psychiatrischen Klinik. ZumAusgleich hielt siemit einemFreund eine Herde Ziegen. Nach Weiterbildung und mehrjährigem Aufenthalt in Genf lebt sie heute mit ihrer Familie imVallée de Joux imKantonWaadt. RUTH VON GUNTEN Dino Brandão und die Stimme der Engel Draussen für immer Gehört Gelesen DINO BRANDÃO: «Bouncy Castle» 2021, Two Gentlemen DORIS FEMMINIS: «Fuori per sempre» Marcos y Marcos, Milano 2019, 352 Seiten, EUR 18.– / CHF 24.– In deutscher Übersetzung: «Für immer draussen» Edition 8, Zürich, 2022 272 Seiten, CHF 25.–
RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx