Schweizer Revue 3/2022

JULI 2022 Schweizer Revue Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Der Ukraine-Krieg verändert die Schweizer Flüchtlingspolitik Schweizer Seen kühlen und heizen bald Abertausende von Wohnungen Der gigantisch grosse Luzerner Bunker erinnert uns heute an den Kalten Krieg

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Butscha, Irpin, Mariupol: Es sind schreckliche Bilder, die uns aus der Ukraine erreicht haben. Sie zeigen, was Krieg wirklich ist: Angst und Schrecken, Tod und Trümmer, Gräuel und Vertreibung. Dieser Krieg, der alle herausfordert, verändert selbst die Schweiz. Nach langen Jahren restriktiver Flüchtlingspolitik probt sie jetzt die Willkommenskultur. Zehntausende Flüchtlinge aus der Ukraine, die mit kleinem Gepäck kamen, aber eine schwere Last tragen, wurden unkompliziert aufgenommen. Der Krieg fordert zugleich das schweizerische Selbstverständnis heraus: Wie soll sich jetzt ein kleines Land verhalten, das sich als neutral begreift? Ab wann wird das neutrale Abseitsstehen zu einem Ausdruck von Gleichgültigkeit? Bei Kriegsbeginn beschloss der Bundesrat zunächst, die neutrale Schweiz werde keine Sanktionen gegen Russland beschliessen, sondern bloss «Umgehungsverhinderungsmassnahmen». Sanktionen anderer auf dem Umweg über die Schweiz zu umgehen, sei somit verboten. Kaum jemand vermochte zu entziffern, was das konkret heissen könnte. Seither wirkt die Schweiz als getriebene Nation. Sie schloss sich nur Tage später doch allen EU-Sanktionen an, weil neutral sein ja nicht heissen könne, keine Haltung zu zeigen, sagte Bundespräsident Ignazio Cassis. Russland setzte die Schweiz deshalb auf die Liste der «unfreundlichen Staaten». Zugleich bleiben Russlands Verflechtungen mit der Schweiz weitreichend und undurchsichtig. 80 Prozent des russischen Rohstoffhandels laufen über die Schweiz. Vermögenswerte von bis zu 200 Milliarden dürften kremlnahe Oligarchen in der Schweiz lagern. Davon haben Schweizer Geldjäger nur einen Bruchteil gefunden und eingefroren. Die Helsinki-Kommission, eine unabhängige Behörde der US-Regierung, wirft der Schweiz deshalb vor, sie sei die «Gehilfin Putins». Ein harter Vorwurf. Er dürfte zur Folge haben, dass die Schweiz ihre Gesetze gegen die Geldwäsche ernsthaft überprüfen muss. Zurück zu jenen, die sich nicht um ihre Milliarden sorgen, sondern um ihr Leben und ihre Zukunft fürchten. Wir haben in einem kleinen bernischen Weiler Flüchtlinge getroffen und gehen der Frage nach: Wie geht die Schweiz mit den Geflüchteten aus der Ukraine um? MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Flüchtlinge aus der Ukraine: Die Schweiz übt sich in Willkommenskultur 8 Herausgepickt / Nachrichten 10 Natur und Umwelt Alle suchen im Wald Erholung, was vermehrt zu Konflikten führt 12 Gesehen 14 Wissenschaft Heizen mit Wärme aus Seen? Die Schweiz entdeckt die Hydrothermie Nachrichten aus Ihrer Region 17 Schweizer Zahlen 18 Gesellschaft Der Auslandschweizerrat fordert vom Bundesrat, Nazi-Symbole zu verbieten 20 Literatur Charles Linsmayer, der Anwalt der vergessenen Schweizer Autor:innen 22 Reportage Der grösste Bunker der Schweiz weckt Erinnerungen an den Kalten Krieg 25 Sport Sprinterin Mujinga Kambundji schreibt Schweizer Sportgeschichte 26 Aus dem Bundeshaus 29 SwissCommunity-News 30 Diskurs Stimmen aus der Leserschaft Sie kommen mit kleinem Gepäck und tragen eine schwere Last Titelbild: Strassenprotest in Lausanne gegen die russische Invasion der Ukraine: Foto Jean-Christophe Bott, Keystone Herausgeberin der «Schweizer Revue», dem Informationsmagazin für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 3 Editorial Inhalt

4 Schwerpunkt Sie sind geflüchtet. Und willkommen. Aus dem Donbas geflüchtet, in Mittelhäusern gelandet: Alexander Volkow, Schwiegertochter Julia und Enkel Sergej. Das Bild ist typisch: Auf der Flucht sind vorab Mütter, Kinder und Betagte. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 4

5 THEODORA PETER UND MARC LETTAU «Nachts, in den Träumen, sehe ich meine Datscha», sagt Alexander Volkow. Er träume von den Weinstöcken, zu denen er jetzt schauen gehen müsste. Aber der pensionierte Metallurgie-Ingenieur aus Kramatorsk sitzt 2500 Kilometer von seinem Sommerhaus entfernt in einem kleinen bernischen Dorf, von dem er bis vor Kurzem nicht wusste, dass es existiert: Mittelhäusern. Alexander Volkow ist Ukrainer und sein Weg hierher unterscheidet sich – vom zufälligen Ziel abgesehen – wenig von dem von Millionen weiterer Menschen aus der Ukraine. Er floh mit Schwiegertochter Julia und Enkel Sergej aus der unter Raketenbeschuss stehenden Stadt im Donbas, floh vor Krieg, Tod, Zerstörung und Not. In der Schweiz beschied ihm die Flüchtlingsbehörde schliesslich, sie hätten «eine Einladung für Mittelhäusern erhalten». Mitten im Elend sei das ihr Glück: «Herzliche Leute haben uns aufgenommen.» Der Herzlichkeit der gastgebenden Familie zum Trotz ist Volkow in Gedanken stets im umkämpften Donbas, in Kramatorsk: «Der Morgen beginnt damit, dass wir uns erkundigen, was noch steht; ob unser Zuhause noch steht.» Zugleich treibt ihn die Frage um, was denn besser sei: ein «guter Krieg», in dem sehr viele fallen werden, oder ein «schlechter Friede». Allein ist er mit solchen Fragen nicht. Spaziert er am Gehstock durch das Dorf, trifft er etwa Anhelina Kharaman an, die mit ihrer Mutter und ihrer Tochter ebenfalls bei Privaten untergekommen ist. Sie stammt aus Mariupol, der in Trümmer liegenden Stadt im Süden der Ukraine. Auch für Lilia Nahorna und Mykola Nahornyi, 1968 in der damaligen Tschechoslowakei einmarschierten. Auch damals empfing die Schweiz die Vertriebenen aus Osteuropa mit offenen Armen. Angesichts der russischen Invasion in die Ukraine aktivierte der Bundesrat im März kurz nach Kriegsausbruch den sogenannten Schutzstatus S. Auf dem Papier existiert diese Flüchtlingskategorie bereits seit den 1990er-Jahren. Damals zwang der bewaffnete Konflikt im ehemaligen Jugoslawien viele Menschen zur Flucht. Zur Anwendung kam dieser spezifische Schutz-Status für Vertriebene bis heute aber nie – auch nicht anlässlich des Syrien-Kriegs, der ebenfalls Millionen von Menschen zu Flüchtlingen machte. Der Ruf nach Gleichbehandlung Der Schutzstatus S bringt den Betroffenen unschätzbare Vorteile: Sie müssen sich lediglich bei den Behörden Zehntausende von Ukrainerinnen und Ukrainern haben auf der Flucht vor dem Krieg Zuflucht in der Schweiz gefunden. Ihre unbürokratische Aufnahme zeugt von Solidarität, deckt aber auch die Schatten der Schweizer Asylpolitik auf. einem Paar aus Dnipro, ist Mittelhäusern momentaner Aufenthaltsort. Und auch sie reden vom Garten, der bestellt werden müsste, damit es im Winter genug Eingemachtes gibt. Welle der Solidarität Rund ein Dutzend geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer leben derzeit in Mittelhäusern – ein Dutzend von den über 50000 Frauen, Kindern und Betagten, die in den ersten drei Kriegsmonaten in die Schweiz geflüchtet sind. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg haben in so kurzer Zeit so viele Menschen Schutz in der Schweiz gesucht. Die Vertriebenen stiessen auf eine Welle der Solidarität: Die Bevölkerung sammelte Hilfsgüter, bot Unterstützung und private Unterkünfte an. Dies erinnert an die grosse Hilfsbereitschaft in der Vergangenheit – zum Beispiel als sowjetische Truppen 1956 in Ungarn und Anhelina Kharaman im blühenden Hof ihres provisorischen Zuhauses. Derweil liegt ihre Heimatstadt Mariupol in Schutt und Asche. Fotos: Danielle Liniger Der begehrte Ausweis mit dem «S» oben links: Der erstmals ausgestellte «Ausweis S» erleichtert den Geflüchteten den Aufenthalt in der Schweiz. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3

Die Schweiz muss gerade ihre Neutralität neu erfinden Der Bundesrat stellte sich nach anfänglichem Zögern entschlossen hinter alle EU-Sanktionen gegen Russland. Dies hat eine politische Debatte zur Neutralität der Schweiz entfacht. THEODORA PETER Der Angriff Russlands auf ein unabhängiges europäisches Land sei «völkerrechtlich, politisch und moralisch» nicht hinzunehmen, erklärte Bundespräsident Ignazio Cassis vier Tage nach Kriegsausbruch Ende Februar vor den Medien. «Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral.» Mit diesen Worten begründete er, weshalb sich die Schweiz ohne Abstriche den harten Wirtschaftssanktionen der Europäischen Union (EU) gegen Russland anschloss. Das waren neue Töne: Bislang hatte sich der Bundesrat darauf beschränkt, lediglich die Umgehung von Massnahmen durch Russland zu verhindern. 2014, nach der Annexion der Krim, hatte es die Schweizer Regierung mit Verweis auf die Neutralität noch abgelehnt, EU-Sanktionen direkt anzuwenden. Diese Kehrtwende aus Bern liess weltweit aufhorchen. Die «New York Times» titelte gar, die Schweiz gebe ihre Tradition der Neutralität auf. Das sei keineswegs der Fall, versichert das eidgenössische Aussendepartement EDA auf seiner Webseite: Weil die Schweiz keine Kriegspartei militärisch begünstige, befolge sie «die Neutralität im engeren Sinne» nach wie vor. Gemeint ist damit das sogenannte Neutralitätsrecht: Gemäss dem Haager Abkommen von 1907 verpflichten sich neutrale Staaten dazu, nicht an Kriegen teilzunehmen. Auch sollten bei Waffenlieferungen alle Kriegsparteien gleich behandelt werden. «Mythos» versus Realpolitik In der Ausgestaltung ihrer Neutralitätspolitik ist die Schweiz hingegen nicht an internationale Abkommen gebunden. Die Bundesverfassung hält dazu einzig fest, dass Bundesrat und Parlament «Massnahmen zur Wahrung der Neutralität der Schweiz» treffen. Wie diese konkret aussehen, hängt im Einzelfall von der politischen Beurteilung der Lage ab. Gemäss dem Historiker Hans-Ulrich Jost war die Neutralität der Schweiz «schon immer dehn- und knetbar wie ein Kaugummi», wie er in einem Interview mit der «SonntagsZeitung» sagte. Jost verwies als Beispiel auf den Zweiten Weltkrieg, als sich die Schweiz «praktisch in die deutsche Kriegswirtschaft integrierte». Damals gab man Deutschland sogar Kredite, um Munition und Waffen in der Schweiz zu kaufen. Weil die Eidgenossenschaft wirtschaftlich und finanziell stark mit dem Ausland verbunden ist, sei der «Mythos» der Neutralität mit der realen Politik oft nicht kompatibel. Insofern gebe es keine «ideale Neutralität», gibt der Historiker zu bedenken. SVP plant Initiative Die Vereinbarkeit der helvetischen Neutralität mit der Realpolitik steht auch beim Ukraine-Krieg zur Debatte. Die SVP kritisiert, mit der Übernahme der Wirtschaftssanktionen gegen Russland habe sich die Schweiz zur «Kriegspartei» gemacht. Die rechtskonservative Partei plant deshalb eine Volksinitiative, mit der eine «integrale Neutralität» in der Bundesverfassung verankert werden soll. Die anderen Parteien hingegen sehen angesichts des «Angriffs auf westliche Werte» das Ende der traditionellen Neutralität nahen. Bürgerliche Politiker von Mitte und FDP wollen gar Waffenlieferungen an befreundete Staaten erlauben. Selbst eine Annäherung an das Verteidigungsbündnis NATO scheint für einige kein Tabu mehr. Mit anderen Worten: Die Schweiz ist gerade dabei, ihre Neutralität neu zu erfinden. Russlands Angriff auf die Ukraine trieb Zehntausende auf die Schweizer Strassen. Und Tausende blau-gelber Flaggen flattern seither als Zeichen der Solidarität von Schweizer Balkonen. Foto Keystone Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 6 Schwerpunkt

nisse, um rasch eine Stelle in der Schweiz zu finden. Wer mittellos ist, kann Asylsozialhilfe beantragen. Deren Leistungen liegen aber 30 bis 40 Prozent unter den Zahlungen, die Inländerinnen und Inländer in einer finanziellen Notlage üblicherweise erhalten. Mit anderen Worten: Die staatlichen Unterstützungsgelder reichen kaum zur Existenzsicherung. Immer häufiger reihen sich deshalb auch Ukrainerinnen und Ukrainer in die Schlange der Bedürftigen ein, die bei Hilfsorganisationen für Essenspakete anstehen. Asylorganisationen warnen deshalb vor einer Prekarisierung der Betroffenen und kritisieren die «billige» Willkommenskultur in der reichen Schweiz. Finanzielle Opfer bringen auch die Schweizer Familien, die über 20 000 Der Krieg in der Ukraine hat rund sechs Millionen Menschen aus dem Land vertrieben. Die Schweiz rechnet bis im Herbst mit 80000 bis zu 120000 Schutzsuchenden. Geflüchtete für mindestens drei Monate grosszügig bei sich zu Hause aufgenommen haben. Sie erhalten je nach Kanton nur symbolische Entschädigungen – und erfahren auch im Alltag oft nur wenig Unterstützung. «Viele Gastfamilien fühlen sich alleingelassen», sagt Christoph Reichenau, der zusammen mit Mitstreitenden die Ukraine-Hilfe Bern initiiert hat. Der Verein betreibt nahe des Berner Bahnhofs eine Anlaufstelle für Geflüchtete und Gastfamilien, organisiert Sprachkurse und vernetzt auf seiner Webseite die zahlreichen freiwilligen Unterstützungsangebote. Die Solidarität in der Bevölkerung sei nach wie vor gross, stellt Reichenau fest. Nötig seien aber klare Perspektiven und eine Stärkung der Strukturen, «damit spontane Hilfsbereitschaft zu einer stetigen Unterstützung wird». Keine rasche Rückkehr Auch die Behörden stellen sich darauf ein, dass die Ukraine-Flüchtlinge noch länger als ein Jahr in der Schweiz bleiben werden. Eine rasche Rückkehr in die zerbombten ukrainischen Städte wird immer unwahrscheinlicher. Bei Redaktionsschluss Mitte Mai waren die russischen Angriffe auf das Land unvermindert im Gange. Angesichts weiter zunehmender Flüchtlingszahlen – der Bund rechnet bis im Herbst mit insgesamt 80 000 bis 120 000 Schutzsuchenden – müssen die Behörden nicht nur mehr Unterkünfte, sondern auch Klarheit über die Perspektiven der Geflüchteten in der Schweiz schaffen. Ginge es nach Alexander Volkow, Anhelina Kharaman, Lilia Nahorna und Mykola Nahornyi, würden sie noch so gerne heimkehren, um in Haus und Garten zum Rechten zu schauen – in Kramatorsk, Mariupol oder Dnipro. Fürs Erste zieht Lilia Nahorna Setzlinge in Blumentöpfen: So kann sie die Pflanzen problemlos mit nach Hause nehmen. Nachhause in die Ukraine. registrieren, aber kein eigentliches Asylgesuch stellen. Sie dürfen sofort eine Stelle suchen, ihre Familien in die Schweiz nachziehen und frei reisen – auch ins Ausland. Dies alles bleibt Geflüchteten aus anderen Konfliktregio- nen verwehrt. Schutzsuchende aus Afghanistan, Syrien, Eritrea, Äthiopien oder dem Irak müssen das reguläre Asylverfahren durchlaufen und dürfen bis zum Asylentscheid weder arbeiten noch reisen. Das gilt auch für diejenigen, die von der Schweiz nur vorläufig aufgenommen werden, weil eine Rückkehr in ihre Heimatländer unzumutbar ist. Flüchtlingsorganisationen begrüssen den grosszügigen und pragmatischen Umgang mit den Zehntausenden von Ukraine-Flüchtlingen, pochen aber auf eine Gleichbehandlung aller Menschen, die vor gewaltsamen Konflikten fliehen. «Aus Sicht der Geflüchteten spielt es keine Rolle, ob der Krieg, vor dem sie fliehen, ein Angriffskrieg eines anderen Staates ist oder ein Bürgerkrieg zwischen zwei Parteien innerhalb eines Staates», hält Seraina Nufer, Co-Abteilungsleiterin Protection bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, fest. Auch Migrationsrechtsexperten erachten es als stossend, dass Kriegsvertriebene aus anderen Ländern ungleich behandelt werden und zum Beispiel ihre Familien erst nach einer Wartezeit von drei Jahren in die Schweiz holen dürfen. Für tiefere Asyl-Hürden fehlt in der Schweiz aber der Wille der politischen Mehrheit. Zu gross ist die Angst vor einer Sogwirkung. Zunehmende Existenzängste Doch auch für die Geflüchteten aus der Ukraine ist der Alltag in der Schweiz kein Paradies. Da ist zunächst die belastende Sorge um die im Kriegsgebiet zurückgebliebenen Angehörigen – Ehemänner, Väter, Söhne, die zum Armeedienst aufgeboten wurden. Dazu kommen Existenzängste. Nur eine Minderheit der Geflüchteten verfügt über genügend SprachkenntSie wollen so rasch wie möglich in ihrem Garten bei Dnipro zum Rechten schauen: Lilia Nahorna und Mykola Nahornyi treibt in der Schweiz die Ungeduld um. Foto: Danielle Liniger Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 7

Gefängnis für Top-Banker Pierin Vincenz Der ehemalige Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz ist im April vom Zürcher Bezirksgericht wegen Urkundenfälschung und ungetreuer Geschäftsführung schuldig gesprochen worden (siehe auch «Revue» 2/22). Er wurde zu 3 Jahren und 9 Monaten Gefängnis und zu einer Geldstrafe von 560000 Franken verurteilt. Der Schuldspruch des in Interessenkonflikte verstrickten Grossbankchefs beurteilen Strafrechtler als wegweisend. Experte Gregor Münch in der «Neuen Zürcher Zeitung»: «Das Urteil wird den einen oder anderen Wirtschaftskapitän aufschrecken.» (MUL) Die Schweiz eröffnet Botschaft im Vatikan Mit der päpstlichen Schweizergarde ist die Schweiz im Vatikan ganz auffällig präsent. Aber erst jetzt will die Schweiz vor Ort eine eigene Botschaft eröffnen. Designierter erster Botschafter im Vatikan ist der Diplomat Denis Knobel. Mit der Eröffnung einer Botschaft bereinigt die Schweiz definitiv ihr lange Jahre angespanntes Verhältnis zum Heiligen Stuhl: Der Bundesrat hatte 1873 die Beziehungen zum Vatikan für Jahrzehnte abgebrochen, dies als Folge des so genannten Kulturkampfes zwischen Katholiken und Protestanten. Erst 1991 akkreditierte die Schweiz wieder einen für den Vatikan zuständigen Botschafter, allerdings hat dieser seinen Sitz noch in Slowenien. (MUL) Die EU fordert von der Schweiz klare Antworten Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU ist weiterhin eine unübersichtliche Baustelle. Seit die Schweiz im Mai 2021 die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU abgebrochen hat, sucht sie zwar nach Wegen, mit der EU wieder ins Gespräch zu kommen. Nur ist aus Sicht der EU-Kommission nicht klar ersichtlich, welche Lösungsansätze die Schweiz verfolge. Laut Recherchen von Radio SRF verlangt die EU-Kommission nun von der Schweiz vorerst klare, schriftliche Antworten auf einen von der Kommission vorgelegten Fragebogen. Erst anschliessend lasse sich beurteilen, ob die Vorschläge der Schweizer Regierung eine valable Grundlage für weitere Verhandlungen bildeten. (MUL) Die «Heimat» ist nach 89 Jahren abgasfrei Die Kursschiffe auf Schweizer Seen sind beliebte öffentliche Verkehrsmittel. Nun ist auf dem Greifensee ein erstes Kursschiff elektrifiziert worden: Das 1933 gebaute Schiff «Heimat» wird nicht mehr mit Diesel, sondern von einem Elektromotor angetrieben. Die grossen Schifffahrtsgesellschaften dürften dem Trend folgen. Angekündigt ist etwa ein erstes elektrisches Kursschiff auf dem Bodensee. (MUL) Die Schweiz will aufrüsten Die Rüstungsausgaben auf neu 7 Milliarden Franken pro Jahr erhöhen: Das hat eine deutliche Mehrheit des Nationalrats im Mai beschlossen. Sagt nach dem Nationalrat auch der Ständerat Ja, stiege das Militärbudget gegenüber heute um 1,4 Milliarden Franken. Der Nationalratsentscheid fiel vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges. (MUL) Tanja Stadler Sie war eine der wichtigsten wissenschaftlichen Stimmen während der akuten Corona-Krise in der Schweiz: Tanja Stadler, Professorin im Departement für Biosysteme an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Innerhalb der Science Task Force, die die Behörden beriet, leitete Stadler die Expertengruppe für die Berechnung des R-Werts. Diese zentrale Kennzahl zeigt, ob die Pandemie sich ausbreitet oder rückläufig ist. Unter anderem daran orientierte sich die Landesregierung, wenn sie über Massnahmen befand. Eine grosse Verantwortung für die Mathematikerin, zumal sie im Sommer 2021 das Präsidium der gesamten Task Force übernahm. Da war sie 40-jährig, eine der Jüngsten im Gremium. «Die Zahlen dieser Frau entscheiden über unsere Freiheit», titelte eine Zeitung. Theatralische Töne liegen Tanja Stadler selber fern. Im Kreuzfeuer der Öffentlichkeit blieb die mehrfach ausgezeichnete Forscherin nüchtern bei Fakten und Evidenz. Trotzdem bekam sie, wie andere öffentlich auftretende Covid-Forschende, Hass und Drohungen ab. Dabei war Stadler nie in die Falle getappt, sich politisch zu äussern. Die Forschung erkläre, was sie wisse, entscheiden müsse die Politik, unterstrich sie immer wieder. Wenn, dann blieben ihre Signale subtil, etwa wenn sie auch nach der in der Schweiz frühen Aufhebung der Massnahmen mit Schutzmaske zum TV-Interview erschien. Ende März löste sich die Task Force auf, doch Tanja Stadler forscht weiter daran, wie sich Viren ausbreiten und verändern. Schon als Kind interessierte sie sich für naturwissenschaftliche Phänomene. Inzwischen ist sie selber zum Vorbild für junge Frauen geworden, sich ehemals männlich dominierten Wissenschaftsgebieten zuzuwenden. SUSANNE WENGER Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 8 Herausgepickt Nachrichten

Mehr Geld für europäischen Grenzschutz Die Schweiz beteiligt sich am Ausbau der europäischen Grenz- und Küstenwache Frontex. Der Beitrag steigt von heute 24 Millionen bis 2027 auf 61 Millionen Franken pro Jahr. Das Stimmvolk stellte sich mit 71,5 Prozent Ja hinter die Vorlage, die vom Migrant Solidarity Network und linksgrünen Parteien bekämpft worden war. Frontex ist wegen der Verwicklung in illegale Rückweisungen Geflüchteter an den EU-Aussengrenzen in die Kritik geraten («Revue» 2/2022). Der Bundesrat versprach, sich bei der Frontex für die Einhaltung der Grundrechte starkzumachen. Die EU-Kommission begrüsste das klare Abstimmungsresultat. Es zeige, wie wichtig der Schweiz nebst den Vorteilen der Personenfreizügigkeit ein gemeinsames Management der Grenzen sei. (TP) Neue Regeln bei der Organspende Bei der Organspende vollzieht die Schweiz einen Paradigmenwechsel. Bislang brauchte es zu Lebzeiten eine aktive Zustimmung, damit nach einem Hirntod Organe entnommen werden durften. Künftig ist dies genau umgekehrt: Wer seine Organe nicht spenden will, muss das deklarieren. Das Stimmvolk sagte mit 60,2 Prozent Ja zur erweiterten Widerspruchslösung, bei der die Angehörigen ein Mitspracherecht behalten. Sie werden im Zweifelsfall zum mutmasslichen Willen des Verstorbenen befragt. Kritiker befürchten, so steige der Druck auf Angehörige («Revue» 2/2022). Die Westschweiz befürwortete die neuen Regeln stärker als die Deutschschweiz. Die Widerspruchslösung gilt bereits in mehreren Ländern – etwa in Frankreich, Italien, Österreich und Spanien. (TP) Millionen für den Schweizer Film Globale Streaming-Plattformen wie Netflix oder Disney+ müssen künftig pro Jahr vier Prozent ihrer Einnahmen ins Schweizer Filmschaffen investieren – oder eine Ersatzabgabe zahlen. Damit stehen der einheimischen Filmproduktion jährlich rund 20 Millionen Franken zusätzlich zur Verfügung. Das Stimmvolk stellte sich mit 58,4 Prozent hinter die Revision des Filmgesetzes – dies vor allem dank dem klaren Ja der lateinischen Schweiz. In der Deutschschweiz stiess eine staatliche Steuerung der Filmförderung auf mehr Skepsis. Auch befürchteten die Gegner eine Verteuerung der Streaming-Abos für die Konsumierenden. Mit der nun beschlossenen Investitionspflicht für Netflix & Co. folgt die Schweiz dem Beispiel anderer europäischer Länder. (TP) Volk stärkt Bundesrat und Parlament den Rücken Beim Urnengang vom 15. Mai stellten sich die Schweizer Stimmberechtigten hinter alle drei Vorlagen der Behörden. Am meisten Zustimmung fand die Erhöhung des Schweizer Beitrags an die EU-Grenzschutzbehörde Frontex. Die Stimmbeteiligung lag mit 39,5 Prozent unter dem Durchschnitt. 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 73.8% 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 77.8% 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 77.6% Auslandschweizer:innen Auslandschweizer:innen Auslandschweizer:innen Ja-Stimmen in Prozent zur Frontext-Vorlage Ja-Stimmen in Prozent zur Organspende-Widerspruchslösung Ja-Stimmen zu Revision des Filmgesetzes Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 9 Politik

JÜRG STEINER Eine ganz typisch schweizerische Tätigkeit? Weder Fondue essen noch wandern, sondern: in den Wald gehen. 95 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer – also praktisch alle – besuchen gemäss dem im März 2022 publizierten Waldmonitoring der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) mehr oder weniger regelmässig einen Wald. So viele wie noch nie, seit man 1997 begann, das Verhältnis der Bevölkerung zum Wald wissenschaftlich zu untersuchen. Allerdings ist «in den Wald gehen» in der heutigen Schweiz nicht mehr unbedingt das Gleiche wie vor 25 Jahren, als man dort höchstens Vita-Parcours-Infrastruktur antraf. Menschen und Wälder verändern sich. Die Ansprüche an den Wald wachsen, weil er als unantastbares Naturrefugium angesichts der ausufernden Siedlungsfläche existenzieller wird. Gleichzeitig machen Klimaerwärmung und Wetterextreme den Wald fragiler – und das führt mitunter zu sozialem Stress im Wald, wo man eigentlich ruhig werden wollte. Empörung wegen «Kahlschlag» «Der Wald braucht unsere Hilfe!» Das schrieb Katrin Sedlmayer, frühere Lokalpolitikerin in der Gemeinde Köniz bei Bern, vor einem halben Jahr aufgebracht unter einen Protestbrief, den gut 400 ebenso empörte Personen unterzeichneten. Die Kritiker verlangten einen Stopp von angeblich unökologischen «Kahlschlägen» grosser Flächen imvielbesuchten Naherholungswald am Könizberg. Der Könizbergwald liegt zwischen den Gemeinden Bern und Köniz, er wirkt wie eine grüne Insel, an dessen Ufer das steigende Agglomerationsmeer brandet. In den letzten Jahren entstand einen Steinwurf vom Waldrand entfernt zusätzlich eine grosse Siedlung für 2000 Einwohnerinnen und Einwohner. Der Andrang jener, die den Wald aufsuchen, wächst unaufhaltsam. Der Könizbergwald gehört der Burgergemeinde Bern, der drittgrössten Waldbesitzerin der Schweiz. Als Antwort auf die Kritik an ihrer Waldpflegepraxis holte sie sich Rückendeckung bei der Aufsichtsbehörde des Kantons Bern und präsentierte Anfang Mai ein Gutachten. Dieses attestiert ihr einen gesetzeskonformen Umgang mit demWald, der auch vom Klima herausgefordert wird. Winterstürme, Borkenkäfer und Trockenheit setzten dem Wald zunehmend zu, weshalb grossflächige Eingriffe nötig, legitim und ökologisch sogar weitsichtig seien, befanden die Experten. Denn bei dieser Gelegenheit pflanze man vermehrt Baumarten, die resisMein bester Freund, der Wald Mehr Menschen denn je gehen in der Schweiz regelmässig in den Wald – fühlen sich aber häufiger als früher gestört von anderen Menschen, die in den Wald gehen. Eine kleine Exkursion zu den Konfliktzonen in der Beziehung zwischen Mensch und Wald. tenter gegen die Klimaerwärmung seien als die hitzeanfällige Fichte. Widersprüche der Nutzung Diese Kontroverse um den Könizbergwald ist ein lokales Beispiel für den wachsenden Druck, der auf allen Wäldern im dichtbesiedelten Schweizer Mittelland lastet. Das seit 1876 geltende nationale Rodungsverbot – wohl die radikalste und wirkungsvollste Naturschutzregelung, die sich die Schweiz je gegeben hat – schützt die Wälder hermetisch vor Verkleinerung. Aber nicht vor den Widersprüchen ihrer Nutzung. Die Burgergemeide Bern, der weitere stadtnahe Erholungswälder gehören, stellt in ihren Wäldern inzwischen Platz zur Verfügung für BikeTrails, Finnenbahnen oder WaldKindertagesstätten. Sie scheidet aber auch Waldreservate aus, in denen Besonders in Stadtnähe ist der Schweizer Wald oft auch die Arena für Kinder, die lernen, forschen und erleben. Hier der Blick in ein typisches «Schulzimmer» eines Waldkindergartens. Foto Keystone Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 10 Natur und Umwelt

Dank dem 1876 eingeführten Rodungsverbot werden die Schweizer Wälder seither nicht kleiner. Es ist die wohl radikalste Naturschutzregelung, die sich die Schweiz je gegeben hat. Totholz zur Förderung der Biodiversität liegengelassen wird. Sie fühlt sich nach eigenen Angaben genötigt, ihre Kommunikationsanstrengungen zu verstärken, um den Menschen zu erklären, wie breit gefächert die gesellschaftlichen Bedürfnisse an den Wald heute sind. Abgesehen davon, dass auch die Nutzung von Holz als einheimischer Baustoff und Energieträger eine immer wichtigere Rolle spielt. Dass der Wald, der von mehr Menschen denn je besucht wird, auch mehr denn je leisten muss, wirkt sich auf die Zufriedenheit ihrer Nutzerinnen und Nutzer aus. Wir wollen im Wald frei sein, durchatmen, abschalten, Tiere beobachten. Aber gleichzeitig auch Paintball spielen, in Seilparks herumturnen, einen OL laufen, Cervelats bräteln, draussen übernachten. Wir suchen Ruhe, wir wollen uns austoben. Oft am gleichen Ort im Wald. Rückzugsort für den Notfall Laut der WSL-Befragung, die noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie durchgeführt wurde, geben deutlich weniger Waldbesucher als vor zehn Jahren an, sich nie gestört zu fühlen. Zwar bleibt die Zufriedenheit nach demWaldbesuch hoch, die Menschen fühlen sich erholt nach der Rückkehr. Aber: Liegengelassener Abfall, rasende Biker oder wummernder Partylärm beeinträchtigen das Walderlebnis. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der Pandemie dürfte diese konfliktuöse Konstellation noch verstärkt haben. Plötzlich begegnete man Menschen an Stellen imWald, an denen man vorher mutterseelenallein war. Jugendliche entdeckten abgelegene Winkel im Wald als Möglichkeit, es an sogenannten «Sauvages» eine Nacht lang krachen zu lassen. Es fühlte sich an, als sei der Wald der einzige Ort, an demman der Krise für einen Moment entkommen konnte. Auf den Punkt brachte diese Gefühlslage der Schweizer Survival-Trainer Gian Saluz in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger», kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte: Im Ernstfall, hielt er fest, würde er sich in einen Wald zurückziehen. Weil: Der Wald biete in einer Notsituation am meisten Ressourcen zum Überleben. Alleine sein Der Wald ist wie ein Freund, der immer da ist, auf den man sich in schwierigen Zeiten verlassen kann, Wo die einen Ruhe suchen, wollen sich die anderen austoben können, wie dieser Downhill-Biker. Die Nutzungskonflikte im von allen geschätzten «Erholungsraum Wald» nehmen zu. Foto Keystone der sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt – sicher nicht durch Alltag und Leistungsdruck, die auf die Seele drücken. Als Grund, warum sie einen Wald aufsuchen, geben viele Menschen laut der WSL-Untersuchung an, Natur erleben, Abstand gewinnen, allein sein zu wollen. Man könnte auch sagen: der Zivilisation zu entfliehen. Zum Beispiel so: Nur zwölf Kilometer vom Bundeshaus in Bern entfernt Richtung Süden öffnet sich unter der Strasse nach Schwarzenburg eine tiefe, bewaldete Schlucht. Als sich vor 20000 Jahren der Rhonegletscher zurückzog, schürfte das Schmelzwasser den verwinkelten Graben in den weichen Sandstein. Wegen der dunklen Wälder, die ihn säumen, heisst das ungezähmte Flüsschen, das darin fliesst, Schwarzwasser. Hinten im Tal wird der Wald immer verwunschener, links und rechts geht es unwirklich steil in die Höhe. Der Himmel? Verschwunden. Die Erde wird wie von Geisterhand bewegt, nie sieht es aus, wie man es vom letzten Mal in Erinnerung hat. Schlammpakete gleiten nach Regengüssen samt Vegetation in den Abgrund. Entwurzelte Bäume ragen wie Skelettreste in die Luft und modern vor sich hin. Manchmal begegnet man einem Fuchs, ein paar Gämsen oder Rehen. Und sehr selten Menschen. Es ist ein wirklich grossartiger, wilder Wald, zuverlässig wie der beste Freund. Die Welt, aus der man kam, ist weit weg, und doch ist man in ein paar Schritten zurück. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3

Alle, die wissen, was ein Tympanon ist, können den ersten Textabschnitt getrost überspringen. Für alle anderen folgt hier die Belehrung: Das Tympanon ist ursprünglich das Giebeldrei- eck griechischer Tempel, eine üppig verzierte Schmuckfläche, die über dem säulengestützten Portal ruht. Auch über dem Portal des Bundeshauses in Bern thront ein Tympanon. Allerdings ist es ein sehr schmuckloses Exemplar. Die Schmucklosigkeit des Berner Tympanon ist aber nicht Ausdruck schweizerischer Zurückhaltung. Genau genommen ist das Bundeshaus seit seiner Eröffnung im Jahre 1902 bloss un- fertig. Das fällt nicht weiter auf, weil wohl die meisten die Leerstelle als gewollt erachten. Aber gewollt war ganz anderes: Das Modell des Bundeshauses, das 1896 an der Landesausstellung in Genf gezeigt wurde, versprach ein ganzes Gewusel von Figuren und Symbolen, ein üppiger «Altar des Vaterlandes». Bald wird die über 100-jährige Leere verschwinden. Die Schweizer Malerin und Objektkünstlerin Renée Levi darf das Giebeldreieck verwandeln. Ihr Plan: Das Tympanon wird mit 246 drei-, vier- und fünfeckigen Keramikplatten komplett ausgekleidet. In den gerillten und fein glasierten Platten dieses Mosaiks wird sich das Tageslicht – und das nächtliche Kunstlicht – immer neu und anders brechen. Ihr schillerndes Kunstwerk versteht Renée Levi als Hommage an Tilo Frey (1923–2008). Tilo Frey wurde 1971 als eine der ersten zwölf Frauen – und als erste schwarze Frau – in den Nationalrat gewählt. Das Bundeshaus, erbaut in einer Zeit, wo das Frauenstimm- und Wahlrecht noch undenkbar erschien, erhält also einen späten weiblichen Akzent. Enthüllt wird das Kunstwerk am 12. September 2023, zum 175-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung. Wer an diesem Tag als besonders kunstsachverständig erscheinen will, kann ja darüber fachsimpeln, warum das Mosaik ausgerechnet aus 246 Keramikplatten besteht. Wir verraten es: Sie stehen für die 246 Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Alle sind sie im Kunstwerk ähnlich gross, alle haben sie Ecken und Kanten, alle sind sie klar begrenzt. Und obwohl ganz unterschiedlich gerillt, ergeben sie ein nahtloses Ganzes. MARC LETTAU Endlich wird das Bundeshaus vollendet Der aus Wellkarton gefertigte Entwurf macht die künstlerische Idee greifbarer: Weil die Rillen unterschiedlich verlaufen, wird das einfallende Licht laufend neu und anders gebrochen. Die mächtige und statische Fassade scheint so stets in leichter Bewegung. Nüchterne Sandsteinquader füllen heute das Giebeldreieck des Bundeshauses aus. Geplant war vor dessen Bau ein üppiger «Altar des Vaterlands». Doch ausgeführt wurden die Pläne nie. 12 Gesehen

Im Bundeshaus-Tympanon werden 246 gerillte und fein glasierte Keramikplatten zu einem Ganzen zusammengefügt. Sie stehen für die 246 Sitze, die die beiden Parlamentskammern der Schweiz zählen. Renée Levi ist Architektin und Künstlerin und seit 2001 Professorin für bildende Kunst und Malerei an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel tätig. Bekannt ist die Malerin und Objektkünstlerin für ihre grossen und oft bunten Installationen und Rauminterventionen. www.reneelevi.ch 13

STÉPHANE HERZOG Wärmetechniker Fabrice Malla nimmt uns mit an einen Ort 17 Meter unter demWasserspiegel des Genfersees bei Vengeron. Wir finden uns in einer 70 Meter langen Kathedrale aus Beton wieder. 2024 wird dieses Reservoir mit Wasser gefüllt werden, mit Wasser, das fast für drei olympische Schwimmbecken ausreichen würde. Das kalte Wasser wird zwei Kilometer vom Ufer entfernt aus 45 Meter Tiefe abgepumpt werden. Ab 2024 werden elektrische Pumpen das Wasser auf zwei Netze verteilen. Das erste ist ein geschlossener Regelkreis und wird einige Gebäude im Umfeld des Flughafens versorgen. Das zweite Netz wird direkt Gebäude im Stadtzentrum kühlen. Die von Services Industriels de Genève (SIG) eingebauten Wärmepumpen in 300 Gebäuden werden es zudem ermöglichen, Wärme aus dem Wasser zu extrahieren und zu verstärken, also die Gebäude zu beheizen. Damit sind wir in der Welt der Hydrothermie angekommen, in der kaltes Wasser Wärme generiert. Fabrice Malla verweist auf Hydrothermie-Grossprojekte in Toronto und Honolulu. Die auf 100 Millionen Franken budgetierte Genfer Anlage dürfte aber zu einem der grössten hydrothermischen Netze der Welt werden. «Wir werden die Hälfte des Kantons mit Kälte und Wärme versorgen», sagt Malla, Ingenieur bei SIG. Die Anlage werde den Treibhausgasausstoss drastisch senken. Der für den Betrieb des Netztes benötigte Strom werde aus Wasserkraft stammen, sagt SIG-Sprecherin Véronique Tanerg Henneberg. Das ist ein wichtiger Aspekt, zu dem Martin Schmid, Forscher der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag), sagt: «Wärmepumpen verbrauchen Strom, der uns nicht in genügender Menge zur Verfügung steht. Die Abkehr von der Kernenergie bedingt einen Ausbau der Solar- und die Windenergie.» Auch Seen werden künftig unsere Gebäude kühlen und heizen Angesichts des Klimawandels wird vermehrt die in Seen gespeicherte Energie genutzt. So wird in Genf künftig eine der grössten hydrothermischen Anlagen der Welt Kälte und Wärme für Hunderte von Gebäuden liefern. Das Potenzial der Schweizer Seen ist beachtlich, ihr Zustand jedoch zugleich besorgniserregend. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 14 Wissenschaft

Aufgrund der Klimaerwärmung wird die sommerliche Nachfrage nach Kälte steigen. Diejenige nach Wärme hingegen wird dank besserer Wärmedämmung der Häuser sinken. Eine Vielzahl kleiner Kraftwerke Die Anfänge der Hydrothermie in der Schweiz liegen in den 1930er-Jahren. Damals wurden Hunderte kleiner Anlagen fürs Beheizen von Gebäuden erstellt. Heute werden hingegen Grossprojekte in urbanen Zentren mit Seeanschluss vorangetrieben, so in Zug und Zürich. Und Luzern will mit Energie aus dem Vierwaldstättersee 3700 Haushalte im Zentrum energetisch versorgen. In Horw kommen weitere 6800 Haushalte dazu. Die Stadt Biel schliesslich, möchte ab Herbst 2022 hydrothermische Energie nutzen und will damit den CO2-Ausstoss um 80 Prozent reduzieren. Die Energieressourcen der Schweizer Seen sind eine Art blaues Gold. Von den Zahlen könnte einem schwindlig werden. Laut Berechnungen der Eawag beträgt der gesamte jährliche Energieverbrauch der Schweiz ungefähr 820 Petajoule, das heisst 236 Terawattstunden (das Atomkraftwerk Gösgen produzierte 2021 rund 7,9 Terawattstunden Strom). Etwa die Hälfte dieser Energie wird für das Beheizen von Gebäuden und für industrielle Prozesse verwendet – und aus Gas oder Heizöl gewonnen. Das bedeutet, dass allein der Genfersee unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben bezüglich Hydrothermie theoretisch fast ein Drittel des jährlichen Energieverbrauchs der Schweiz liefern könnte. «Die Energie aus den Seen wird 30 Prozent unseres Heizbedarfs decken. Etwa jedes dritte Gebäude in einem dicht besiedelten Gebiet, das nahe genug an einem See liegt, wird von einem Fernwärmenetz profitieren, das mit erneuerbaren Energien versorgt wird, darunter auch die Hydrothermie», vermutet François Maréchal, EPFL-Professor und Spezialist für Energiesysteme. Der Forscher nennt die Hydrothermie eine «Super-Ressource, über die jedoch kaum gesprochen wird». Die Schweiz habe in dem Bereich jedoch einen Vorsprung, merkt Martin Schmid an. Was passiert mit den Flüssen? Es bleibt die Frage nach den Auswirkungen dieser Verfahren, denn das entnommene Wasser wird – leicht abgekühlt oder leicht erwärmt – in die natürlichen Gewässer zurückgeführt. Im Hydrothermie-Kreislauf kann zum Beispiel Wasser, das mit 6°C aus dem Genfersee entnommen wurde, mit 3°C in die Rhone eingeleitet werden, die nur 1,5°C aufweist. Und im Sommer würde Wasser bei 8 °C am Seegrund entnommen und mit 13°C in ein fliessendes Oberflächengewässer eingeleitet, das bis zu 20 °C warm sein kann. Alle Studien dazu zeigen in dieselbe Richtung: Auch wenn der gesamte Wärme- und Kältebedarf der Schweiz aus den Seen gedeckt würde, wäre der Einfluss auf die Gewässer aufgrund der geringen Temperaturunterschiede zwischen abgepumptem und wieder eingeleitetemWasser gering bis nicht existent. «Damit die Temperatur des Genfersees um nur ein Grad verändert würde, bräuchte es 100 Kraftwerke wie das in Vengeron», sagt Fabrice Malla. In der Schweiz gelten Regeln. So darf die Temperatur eines Wasserlaufs in einem Forellengebiet um nicht mehr als 1,5 °C schwanken. «Werden die rechtlichen Vorgaben ordnungsgemäss berücksichtigt, ist die Nutzung hydrothermischer Energie grundsätzlich möglich», sagt Nicolas Wüthrich von Pro Natura. Das ohnehin bestehende Problem ist die Erwärmung der Seen im Zuge des Klimawandels. Im Genfersee verhindern milde Winter seit zehn Jahren die Durchmischung der tiefen Wasserschichten, denen ohne Sauerstoff der biologische Tod droht. Das Phänomen behindert auch die Erzeugung von Kälte aus Hydrothermie. Steigende Wassertemperaturen fördern ausserdem die Verbreitung invasiver Arten. Dies ist etwa bei der kleinen Quagga-Dreikantmuschel der Fall, deren Larven in die Trinkwasser- und Hydrothermie-Netze eindringen, was eine Chlorbehandlung erfordert. Unbehagen löst auch die Gefahr aus, dass Wasser, welches weit weg von der Entnahmestelle wieder eingeleitet wird, Nähr- und Schadstoffe dorthin transportieren könnte, hält die Eawag fest. Insbesondere in Flüssen und Bächen können höhere Temperaturen gewisse Tierarten bedrohen, befürchtet Pro Natura. So kann etwa die Äsche bei Temperaturen über 25 °C kaum überleben. «Somit wird die Einspeisung grosser Mengen aufgewärmten Kühlwassers in Wasserläufe eine heikle Sache.» Die Ufer von Wasserläufen gut zu beschatten, würde laut Pro Natura helfen, die Temperaturen tief zu halten. Im Winter könnte die Einspeisung kälteren Wassers aus hydrothermischen Heizungen sogar einen positiven Effekt haben. «Eingriffe ins natürliche Gleichgewicht sind jedoch immer riskant», warnt Nicolas Wüthrich. Die riesigen Rohre lassen die Wassermengen erahnen, die dem Genfersee künftig entnommen werden: Es werden 10 000 Liter pro Sekunde sein. Foto Keystone Heizung Wärmetauscher Wärmepumpe Kühlung Pumpstation Rhone Genfersee 40m Das Genfer Hydrothermie-Projekt zielt auf einen doppelten Nutzen. Im Winter wird dem Wasser mithilfe einer Wärmepumpe Energie entzogen, um ein Gebäude zu heizen. Im Sommer kann mit kühlem Wasser, das aus der Tiefe entnommen wird, ein Gebäude gekühlt werden. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 15

MARC LETTAU Schien Ihnen die aktuelle «Schweizer Revue» vertraut wie zuvor – und trotzdem etwas anders als bisher? Gut beobachtet. In der Tat haben wir das Layout der Printausgabe aufgefrischt. Was heute vorliegt, darf man sich vorstellen wie das Ergebnis eines gründlichen Frühlingsputzes. Dabei hatten wir unzählige Helferinnen und Helfer: Im Zuge unserer 2021 präsentierten Leserschaftsumfrage gingen viele Anregungen zur Gestaltung des Heftes ein. Diese Anregungen bestimmten unseren Putzplan. Grosszügig aufräumen Was erscheint wo? Wir haben die Abfolge im Heft verändert. Wir präsentieren früher, was uns besonders wichtig erscheint: den Schwerpunkt und die aktuellen Meldungen. Die Stimmen der Leserinnen und Leser erhalten neues Gewicht auf den Swisscommunity-Seiten. Das ist gut so: Die Leserinnen und Leser sind im eigentlichen Sinne die Schweizer Community. Sauber etikettieren Beim Aufräumen lohnt es sich, die Dinge so einzuordnen, dass leicht erkennbar wird, was zusammengehört. Auf die «Revue» bezogen: Sie erkennen künftig besser, was die Redaktion verantwortet (weisse Seiten), was aus der Feder der Bundesverwaltung stammt (Seiten mit beigem Farbakzent) und wo sich die Auslandschweizer-Organisation und ihre Partnerorganisationen zu Wort melden (Seiten mit blauem Farbakzent). Ausserdem wird durch die Farbgebung leichter erkennbar, ob die Ausgabe einen Regionalteil enthält. Gründlich durchlüften Die «Schweizer Revue» wird nicht zum Hochglanzmagazin. Sie bleibt ein schlichtes Heft, das kein Gramm zu schwer sein darf, weil wir uns sonst dessen Versand in alle Welt kaum noch leisten könnten. Aber wir haben gründlich durchgelüftet, erlauben uns mehr gestalterische Freiheiten. Sie können dies etwa im Schwerpunkt dieser Ausgabe erkennen. Die lebendige Bildsprache erhält mehr Gewicht und fördert – hoffentlich – das Lesevergnügen. Wenn die Auslandschweizer-Organisation der von ihr herausgegebenen «Schweizer Revue» einen Frühlingsputz gönnt, dann ist das auch ein Bekenntnis zur Druckausgabe, die für sehr viele Auslandschweizerinnen und -schweizer ein geschätztes und fassbares Bindeglied zur Schweiz ist. Gegenwärtig nutzen 325000 Leserinnen und Leser die Papierversion der «Schweizer Revue». Die «Schweizer Revue» in neuem Kleid Die gedruckte Ausgabe der «Schweizer Revue» erscheint heute in neuem Kleid. Wir haben das Layout gründlich aufgefrischt. Das ist auch ein Bekenntnis zur Druckausgabe, die sehr vielen Leserinnen und Lesern in aller Welt wichtig ist. © www.pexels.com Konsularische Dienstleistungen überall, komfortabel auf Ihren mobilen Geräten www.eda.admin.ch Bukarest (2022) Schweizer Schulabschluss von jedem Ort der Welt Jetzt schnuppern! Info und Kontakt unter swissonlineschool.ch swissonlineschool-hoch.indd 1 20.10.21 11:49 Das Cover der aufgefrischten Druckausgabe der «Schweizer Revue»: Zwar neu, aber dennoch vertraut. Der Layoutauffrischung vorangegangen ist die Neugestaltung der Online-Ausgabe. Sie bietet auch den Leserinnen und Lesern der gedruckten Ausgabe Mehrwerte. So sind unter www.revue.ch oft zusätzliche Bilder, Videos und vertiefende Aspekte zu finden. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 16 In eigener Sache

Von Freilandhühnern bis zur Pressefreiheit 22 Die Corona-Massnahmen sind für den Moment aus dem Schweizer Alltag verschwunden. Zum Glück der wiedererlangten Normalität gehört offenbar, aufs Neue regelmässig in nervtötenden Verkehrsstaus zu stehen. Vorläufiger Jahresrekord: Vor Ostern stauten sich auf der A2 in Richtung Süden die Autos auf 22 Kilometern Länge. Vermutlich nennt man das «Reisefreiheit». 260 Ein gegessenes Ei ist okay. Ein weg- geworfenes Ei ist gar nicht okay: Foodwaste darf nicht sein! Welche Menge geniessbarer Lebensmittel wirft ein Schweizer Haushalt weg? Es ist im Schnitt eine Vierteltonne pro Jahr, genauer 260 Kilo. Doch das Selbstbild der Schweizer:innen ist viel besser: Zwei Drittel von ihnen schätzen die Foodwaste-Menge als viel kleiner ein. 1'100'000'000 Blicken wir auf Ostern zurück, gilt es den Fleiss helvetischer Hühner zu betonen: 2021 legten sie 1,1 Milliarden Eier. So viele wie noch nie. Gleichzeitig sind die Hühner eine Spur glücklicher geworden: Der Anteil der Eier von Freilandhühnern hat in den letzten zehn Jahren um 185 Prozent zugenommen, der Anteil der Bio-Eier um 107 Prozent. 14 Ostern, Stau und Eier: Sie finden Zahlen aus diesem Bereich zu banal? Nun gut, echt spannend wären Zahlen zum Verhalten – und Fehlverhalten – von Schweizer Banken. Doch da gibt es in der Schweiz Ansätze von Zensur. Schweizer Gesetze werten das Bankgeheimnis höher als die Pressefreiheit. Deshalb ist die Schweiz jetzt punkto Pressefreiheit erstmals aus den Top-10 gefallen und dümpelt neu auf Platz 14. Die «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizer:innen, erscheint im 48. Jahrgang sechsmal jährlich in deutscher, französischer, englischer und spanischer Sprache. Sie erscheint in 13 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 431 000 Exemplaren (davon 253 000 elektronische Exemplare). Regionalnachrichten erscheinen in der «Schweizer Revue» viermal im Jahr. Die Auftraggeber:innen von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Herausgeberin. Alle bei einer Schweizer Vertretung angemeldeten Auslandschweizer:innen erhalten die Zeitschrift gratis. Nichtauslandschweizer:innen können sie für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). ONLINEAUSGABE www.revue.ch REDAKTION Marc Lettau, Chefredaktor (MUL) Stéphane Herzog (SH) Theodora Peter (TP) Susanne Wenger (SWE) Paolo Bezzola (PB; Vertretung EDA) AMTLICHE MITTEILUNGEN DES EDA Die redaktionelle Verantwortung für die Rubrik «Aus dem Bundeshaus» trägt die Konsularische Direktion, Abteilung Innovation und Partnerschaften, Effingerstrasse 27, 3003 Bern, Schweiz. kdip@eda.admin.ch | www.eda.admin.eda REDAKTIONSASSISTENZ Sandra Krebs (KS) ÜBERSETZUNG SwissGlobal Language Services AG, Baden GESTALTUNG Joseph Haas, Zürich DRUCK & PRODUKTION Vogt-Schild Druck AG, Derendingen HERAUSGEBERIN Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO). Sitz der Herausgeberin, der Redaktion und der Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. revue@swisscommunity.org Telefon +41 31 356 61 10 Bankverbindung: CH97 0079 0016 1294 4609 8 / KBBECH22 REDAKTIONSSCHLUSS DIESER AUSGABE 11. Mai 2022 ADRESSÄNDERUNGEN Änderungen in der Zustellung teilen Sie bitte direkt Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit. Die Redaktion hat keinen Zugriff auf Ihre Adressdaten. ZAHLENRECHERCHE: MARC LETTAU 194 Einfache Eiermathematik geht übrigens so: alle Schweizer Eier + alle importierten Eier ÷ durch die Zahl der Menschen in der Schweiz = 194. So viele Eier isst in der Schweiz jede und jeder pro Jahr. Klingt nach viel. Aber im europäischen Umfeld ist der Eierverzehr markant höher. Und in Singapur liegt er gar doppelt so hoch. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 17 Schweizer Zahlen Impressum

SUSANNE WENGER An einer Kundgebung von Corona-Massnahmengegnern im September 2021 hob ein Teilnehmer den Arm zum Hitlergruss, mitten in der Berner Altstadt. Daraufhin erhielt er einen Strafbefehl der Staatsanwaltschaft, wegen unanständigen Benehmens. Der Mann wehrte sich und bekam recht. Für eine Verurteilung fehle die Rechtsgrundlage, befand das Regionalgericht. Freigesprochen wurde auch ein Rechtsextremer, der 2010 auf der Rütliwiese im Kanton Uri den Hitlergruss gezeigt hatte. Das Bundesgericht als höchste Instanz entschied 2013, der Mann habe unter Gleichgesinnten seine Gesinnung kundgetan, was noch nicht strafbar sei. Hätte er mit der Geste hingegen bei Dritten für die nationalsozialistische Ideologie geworben, wäre das unter die Antirassismus-Strafnorm gefallen. Die Beispiele zeigen: Die Schweiz kennt eine gewisse Toleranz gegenüber öffentlich gezeigter Nazi-Symbolik. Hitlergruss, Hakenkreuz und dergleichen sind nur dann verboten, wenn sie zu Propagandazwecken verwendet werden. Politische Bestrebungen, diese Differenzierung aufzuheben, gibt es seit 2003. Doch bisher befanden Bundesrat und Parlament mehrheitlich, die freie Meinungsäusserung gehe vor. Inzwischen könnte allerdings ein Bewusstseinswandel stattgefunden haben. Im Parlament wurden gleich drei Vorstösse zum Thema eingereicht, einer von bürgerlicher Seite, zwei von links. Häufung in der Pandemie Den Anfang machte im Winter die Aargauer Mitte-Nationalrätin Marianne Binder. Sie will Nazi-Gesten, -Fahnen und -Zeichen ganz verbieten, in der realen Öffentlichkeit wie auch auf Online-Plattformen. «Antisemitische Vorfälle haben zugenommen, in der Pandemie erreichten sie eine neue Dimension», begründet die Parlamentarierin ihren Vorstoss. Ihre Aussage wird vom Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus bestätigt: 2021 kam es in der Schweiz zu einer Häufung gravierender Vorfälle. Online registrierten die Herausgeber 806 Fälle antisemitischer Parolen und Verschwörungstheorien, das ist eine Steigerung von über sechzig Prozent zum Vorjahr. Im realen öffentlichen Raum gab es 53 Übergriffe: antisemitische Beschimpfungen, Zuschriften und Schmierereien an Synagogen. An Demonstrationen trugen Impfgegner gelbe Davidsterne mit der Aufschrift «ungeimpft», in einer Zürcher Gemeinde sprayten sie «Impfen macht frei» an die Wand, samt Hakenkreuz. Ihr werde entgegengehalten, dass solchen Vorfällen nicht zwingend ein antisemitisches Motiv zugrunde liege, erzählt Nationalrätin Binder. Doch selbst wenn so etwas «aus reiner Dummheit» geschehe, sei es eine «Geschichtsblindheit sondergleichen». Die Gräuel des Holocausts würden dadurch in untragbarer Weise verharmlost. «Verletzend und unverständlich» Die Mitte-Politikerin beschränkte sich in ihrem Vorstoss bewusst auf Symbole mit Bezug zum Nationalsozialismus und zum Holocaust, während in früheren Anläufen allgemein auf rassistische und gewaltverherrlichende Symbole gezielt worden war. Doch da wäre es schwierig, immer alle aufzulisten, findet auch Binder. Anders bei den offensichtlichen Nazi-Symbolen: «Diese fallen sicher nicht unter die Meinungsäusserungsfreiheit.» Die Aargauer SP-Na- «Der Bundesrat verschliesst nicht die Augen vor der Zunahme antisemitischer Vorfälle.» Karin Keller-Sutter, Justizministerin «Offensichtliche Nazi-Symbole fallen sicher nicht unter die Meinungsäusserungsfreiheit.» Marianne Binder, Mitte-Nationalrätin Die Forderung, Nazi-Symbole zu verbieten, wird lauter Wer in der Öffentlichkeit Nazi-Symbole wie den Hitlergruss zeigt, macht sich in der Schweiz nicht in jedem Fall strafbar. Jetzt fordern mehrere Vorstösse im Parlament und auch der Auslandschweizerrat Nulltoleranz. Nach anfänglichem Zögern prüft die Regierung das Anliegen. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 18 Gesellschaft

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