Dank dem 1876 eingeführten Rodungsverbot werden die Schweizer Wälder seither nicht kleiner. Es ist die wohl radikalste Naturschutzregelung, die sich die Schweiz je gegeben hat. Totholz zur Förderung der Biodiversität liegengelassen wird. Sie fühlt sich nach eigenen Angaben genötigt, ihre Kommunikationsanstrengungen zu verstärken, um den Menschen zu erklären, wie breit gefächert die gesellschaftlichen Bedürfnisse an den Wald heute sind. Abgesehen davon, dass auch die Nutzung von Holz als einheimischer Baustoff und Energieträger eine immer wichtigere Rolle spielt. Dass der Wald, der von mehr Menschen denn je besucht wird, auch mehr denn je leisten muss, wirkt sich auf die Zufriedenheit ihrer Nutzerinnen und Nutzer aus. Wir wollen im Wald frei sein, durchatmen, abschalten, Tiere beobachten. Aber gleichzeitig auch Paintball spielen, in Seilparks herumturnen, einen OL laufen, Cervelats bräteln, draussen übernachten. Wir suchen Ruhe, wir wollen uns austoben. Oft am gleichen Ort im Wald. Rückzugsort für den Notfall Laut der WSL-Befragung, die noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie durchgeführt wurde, geben deutlich weniger Waldbesucher als vor zehn Jahren an, sich nie gestört zu fühlen. Zwar bleibt die Zufriedenheit nach demWaldbesuch hoch, die Menschen fühlen sich erholt nach der Rückkehr. Aber: Liegengelassener Abfall, rasende Biker oder wummernder Partylärm beeinträchtigen das Walderlebnis. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der Pandemie dürfte diese konfliktuöse Konstellation noch verstärkt haben. Plötzlich begegnete man Menschen an Stellen imWald, an denen man vorher mutterseelenallein war. Jugendliche entdeckten abgelegene Winkel im Wald als Möglichkeit, es an sogenannten «Sauvages» eine Nacht lang krachen zu lassen. Es fühlte sich an, als sei der Wald der einzige Ort, an demman der Krise für einen Moment entkommen konnte. Auf den Punkt brachte diese Gefühlslage der Schweizer Survival-Trainer Gian Saluz in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger», kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte: Im Ernstfall, hielt er fest, würde er sich in einen Wald zurückziehen. Weil: Der Wald biete in einer Notsituation am meisten Ressourcen zum Überleben. Alleine sein Der Wald ist wie ein Freund, der immer da ist, auf den man sich in schwierigen Zeiten verlassen kann, Wo die einen Ruhe suchen, wollen sich die anderen austoben können, wie dieser Downhill-Biker. Die Nutzungskonflikte im von allen geschätzten «Erholungsraum Wald» nehmen zu. Foto Keystone der sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt – sicher nicht durch Alltag und Leistungsdruck, die auf die Seele drücken. Als Grund, warum sie einen Wald aufsuchen, geben viele Menschen laut der WSL-Untersuchung an, Natur erleben, Abstand gewinnen, allein sein zu wollen. Man könnte auch sagen: der Zivilisation zu entfliehen. Zum Beispiel so: Nur zwölf Kilometer vom Bundeshaus in Bern entfernt Richtung Süden öffnet sich unter der Strasse nach Schwarzenburg eine tiefe, bewaldete Schlucht. Als sich vor 20000 Jahren der Rhonegletscher zurückzog, schürfte das Schmelzwasser den verwinkelten Graben in den weichen Sandstein. Wegen der dunklen Wälder, die ihn säumen, heisst das ungezähmte Flüsschen, das darin fliesst, Schwarzwasser. Hinten im Tal wird der Wald immer verwunschener, links und rechts geht es unwirklich steil in die Höhe. Der Himmel? Verschwunden. Die Erde wird wie von Geisterhand bewegt, nie sieht es aus, wie man es vom letzten Mal in Erinnerung hat. Schlammpakete gleiten nach Regengüssen samt Vegetation in den Abgrund. Entwurzelte Bäume ragen wie Skelettreste in die Luft und modern vor sich hin. Manchmal begegnet man einem Fuchs, ein paar Gämsen oder Rehen. Und sehr selten Menschen. Es ist ein wirklich grossartiger, wilder Wald, zuverlässig wie der beste Freund. Die Welt, aus der man kam, ist weit weg, und doch ist man in ein paar Schritten zurück. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3
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