Alle, die wissen, was ein Tympanon ist, können den ersten Textabschnitt getrost überspringen. Für alle anderen folgt hier die Belehrung: Das Tympanon ist ursprünglich das Giebeldrei- eck griechischer Tempel, eine üppig verzierte Schmuckfläche, die über dem säulengestützten Portal ruht. Auch über dem Portal des Bundeshauses in Bern thront ein Tympanon. Allerdings ist es ein sehr schmuckloses Exemplar. Die Schmucklosigkeit des Berner Tympanon ist aber nicht Ausdruck schweizerischer Zurückhaltung. Genau genommen ist das Bundeshaus seit seiner Eröffnung im Jahre 1902 bloss un- fertig. Das fällt nicht weiter auf, weil wohl die meisten die Leerstelle als gewollt erachten. Aber gewollt war ganz anderes: Das Modell des Bundeshauses, das 1896 an der Landesausstellung in Genf gezeigt wurde, versprach ein ganzes Gewusel von Figuren und Symbolen, ein üppiger «Altar des Vaterlandes». Bald wird die über 100-jährige Leere verschwinden. Die Schweizer Malerin und Objektkünstlerin Renée Levi darf das Giebeldreieck verwandeln. Ihr Plan: Das Tympanon wird mit 246 drei-, vier- und fünfeckigen Keramikplatten komplett ausgekleidet. In den gerillten und fein glasierten Platten dieses Mosaiks wird sich das Tageslicht – und das nächtliche Kunstlicht – immer neu und anders brechen. Ihr schillerndes Kunstwerk versteht Renée Levi als Hommage an Tilo Frey (1923–2008). Tilo Frey wurde 1971 als eine der ersten zwölf Frauen – und als erste schwarze Frau – in den Nationalrat gewählt. Das Bundeshaus, erbaut in einer Zeit, wo das Frauenstimm- und Wahlrecht noch undenkbar erschien, erhält also einen späten weiblichen Akzent. Enthüllt wird das Kunstwerk am 12. September 2023, zum 175-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung. Wer an diesem Tag als besonders kunstsachverständig erscheinen will, kann ja darüber fachsimpeln, warum das Mosaik ausgerechnet aus 246 Keramikplatten besteht. Wir verraten es: Sie stehen für die 246 Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Alle sind sie im Kunstwerk ähnlich gross, alle haben sie Ecken und Kanten, alle sind sie klar begrenzt. Und obwohl ganz unterschiedlich gerillt, ergeben sie ein nahtloses Ganzes. MARC LETTAU Endlich wird das Bundeshaus vollendet Der aus Wellkarton gefertigte Entwurf macht die künstlerische Idee greifbarer: Weil die Rillen unterschiedlich verlaufen, wird das einfallende Licht laufend neu und anders gebrochen. Die mächtige und statische Fassade scheint so stets in leichter Bewegung. Nüchterne Sandsteinquader füllen heute das Giebeldreieck des Bundeshauses aus. Geplant war vor dessen Bau ein üppiger «Altar des Vaterlands». Doch ausgeführt wurden die Pläne nie. 12 Gesehen
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