Aufgrund der Klimaerwärmung wird die sommerliche Nachfrage nach Kälte steigen. Diejenige nach Wärme hingegen wird dank besserer Wärmedämmung der Häuser sinken. Eine Vielzahl kleiner Kraftwerke Die Anfänge der Hydrothermie in der Schweiz liegen in den 1930er-Jahren. Damals wurden Hunderte kleiner Anlagen fürs Beheizen von Gebäuden erstellt. Heute werden hingegen Grossprojekte in urbanen Zentren mit Seeanschluss vorangetrieben, so in Zug und Zürich. Und Luzern will mit Energie aus dem Vierwaldstättersee 3700 Haushalte im Zentrum energetisch versorgen. In Horw kommen weitere 6800 Haushalte dazu. Die Stadt Biel schliesslich, möchte ab Herbst 2022 hydrothermische Energie nutzen und will damit den CO2-Ausstoss um 80 Prozent reduzieren. Die Energieressourcen der Schweizer Seen sind eine Art blaues Gold. Von den Zahlen könnte einem schwindlig werden. Laut Berechnungen der Eawag beträgt der gesamte jährliche Energieverbrauch der Schweiz ungefähr 820 Petajoule, das heisst 236 Terawattstunden (das Atomkraftwerk Gösgen produzierte 2021 rund 7,9 Terawattstunden Strom). Etwa die Hälfte dieser Energie wird für das Beheizen von Gebäuden und für industrielle Prozesse verwendet – und aus Gas oder Heizöl gewonnen. Das bedeutet, dass allein der Genfersee unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben bezüglich Hydrothermie theoretisch fast ein Drittel des jährlichen Energieverbrauchs der Schweiz liefern könnte. «Die Energie aus den Seen wird 30 Prozent unseres Heizbedarfs decken. Etwa jedes dritte Gebäude in einem dicht besiedelten Gebiet, das nahe genug an einem See liegt, wird von einem Fernwärmenetz profitieren, das mit erneuerbaren Energien versorgt wird, darunter auch die Hydrothermie», vermutet François Maréchal, EPFL-Professor und Spezialist für Energiesysteme. Der Forscher nennt die Hydrothermie eine «Super-Ressource, über die jedoch kaum gesprochen wird». Die Schweiz habe in dem Bereich jedoch einen Vorsprung, merkt Martin Schmid an. Was passiert mit den Flüssen? Es bleibt die Frage nach den Auswirkungen dieser Verfahren, denn das entnommene Wasser wird – leicht abgekühlt oder leicht erwärmt – in die natürlichen Gewässer zurückgeführt. Im Hydrothermie-Kreislauf kann zum Beispiel Wasser, das mit 6°C aus dem Genfersee entnommen wurde, mit 3°C in die Rhone eingeleitet werden, die nur 1,5°C aufweist. Und im Sommer würde Wasser bei 8 °C am Seegrund entnommen und mit 13°C in ein fliessendes Oberflächengewässer eingeleitet, das bis zu 20 °C warm sein kann. Alle Studien dazu zeigen in dieselbe Richtung: Auch wenn der gesamte Wärme- und Kältebedarf der Schweiz aus den Seen gedeckt würde, wäre der Einfluss auf die Gewässer aufgrund der geringen Temperaturunterschiede zwischen abgepumptem und wieder eingeleitetemWasser gering bis nicht existent. «Damit die Temperatur des Genfersees um nur ein Grad verändert würde, bräuchte es 100 Kraftwerke wie das in Vengeron», sagt Fabrice Malla. In der Schweiz gelten Regeln. So darf die Temperatur eines Wasserlaufs in einem Forellengebiet um nicht mehr als 1,5 °C schwanken. «Werden die rechtlichen Vorgaben ordnungsgemäss berücksichtigt, ist die Nutzung hydrothermischer Energie grundsätzlich möglich», sagt Nicolas Wüthrich von Pro Natura. Das ohnehin bestehende Problem ist die Erwärmung der Seen im Zuge des Klimawandels. Im Genfersee verhindern milde Winter seit zehn Jahren die Durchmischung der tiefen Wasserschichten, denen ohne Sauerstoff der biologische Tod droht. Das Phänomen behindert auch die Erzeugung von Kälte aus Hydrothermie. Steigende Wassertemperaturen fördern ausserdem die Verbreitung invasiver Arten. Dies ist etwa bei der kleinen Quagga-Dreikantmuschel der Fall, deren Larven in die Trinkwasser- und Hydrothermie-Netze eindringen, was eine Chlorbehandlung erfordert. Unbehagen löst auch die Gefahr aus, dass Wasser, welches weit weg von der Entnahmestelle wieder eingeleitet wird, Nähr- und Schadstoffe dorthin transportieren könnte, hält die Eawag fest. Insbesondere in Flüssen und Bächen können höhere Temperaturen gewisse Tierarten bedrohen, befürchtet Pro Natura. So kann etwa die Äsche bei Temperaturen über 25 °C kaum überleben. «Somit wird die Einspeisung grosser Mengen aufgewärmten Kühlwassers in Wasserläufe eine heikle Sache.» Die Ufer von Wasserläufen gut zu beschatten, würde laut Pro Natura helfen, die Temperaturen tief zu halten. Im Winter könnte die Einspeisung kälteren Wassers aus hydrothermischen Heizungen sogar einen positiven Effekt haben. «Eingriffe ins natürliche Gleichgewicht sind jedoch immer riskant», warnt Nicolas Wüthrich. Die riesigen Rohre lassen die Wassermengen erahnen, die dem Genfersee künftig entnommen werden: Es werden 10 000 Liter pro Sekunde sein. Foto Keystone Heizung Wärmetauscher Wärmepumpe Kühlung Pumpstation Rhone Genfersee 40m Das Genfer Hydrothermie-Projekt zielt auf einen doppelten Nutzen. Im Winter wird dem Wasser mithilfe einer Wärmepumpe Energie entzogen, um ein Gebäude zu heizen. Im Sommer kann mit kühlem Wasser, das aus der Tiefe entnommen wird, ein Gebäude gekühlt werden. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 15
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