Schweizer Revue 3/2022

SUSANNE WENGER An einer Kundgebung von Corona-Massnahmengegnern im September 2021 hob ein Teilnehmer den Arm zum Hitlergruss, mitten in der Berner Altstadt. Daraufhin erhielt er einen Strafbefehl der Staatsanwaltschaft, wegen unanständigen Benehmens. Der Mann wehrte sich und bekam recht. Für eine Verurteilung fehle die Rechtsgrundlage, befand das Regionalgericht. Freigesprochen wurde auch ein Rechtsextremer, der 2010 auf der Rütliwiese im Kanton Uri den Hitlergruss gezeigt hatte. Das Bundesgericht als höchste Instanz entschied 2013, der Mann habe unter Gleichgesinnten seine Gesinnung kundgetan, was noch nicht strafbar sei. Hätte er mit der Geste hingegen bei Dritten für die nationalsozialistische Ideologie geworben, wäre das unter die Antirassismus-Strafnorm gefallen. Die Beispiele zeigen: Die Schweiz kennt eine gewisse Toleranz gegenüber öffentlich gezeigter Nazi-Symbolik. Hitlergruss, Hakenkreuz und dergleichen sind nur dann verboten, wenn sie zu Propagandazwecken verwendet werden. Politische Bestrebungen, diese Differenzierung aufzuheben, gibt es seit 2003. Doch bisher befanden Bundesrat und Parlament mehrheitlich, die freie Meinungsäusserung gehe vor. Inzwischen könnte allerdings ein Bewusstseinswandel stattgefunden haben. Im Parlament wurden gleich drei Vorstösse zum Thema eingereicht, einer von bürgerlicher Seite, zwei von links. Häufung in der Pandemie Den Anfang machte im Winter die Aargauer Mitte-Nationalrätin Marianne Binder. Sie will Nazi-Gesten, -Fahnen und -Zeichen ganz verbieten, in der realen Öffentlichkeit wie auch auf Online-Plattformen. «Antisemitische Vorfälle haben zugenommen, in der Pandemie erreichten sie eine neue Dimension», begründet die Parlamentarierin ihren Vorstoss. Ihre Aussage wird vom Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus bestätigt: 2021 kam es in der Schweiz zu einer Häufung gravierender Vorfälle. Online registrierten die Herausgeber 806 Fälle antisemitischer Parolen und Verschwörungstheorien, das ist eine Steigerung von über sechzig Prozent zum Vorjahr. Im realen öffentlichen Raum gab es 53 Übergriffe: antisemitische Beschimpfungen, Zuschriften und Schmierereien an Synagogen. An Demonstrationen trugen Impfgegner gelbe Davidsterne mit der Aufschrift «ungeimpft», in einer Zürcher Gemeinde sprayten sie «Impfen macht frei» an die Wand, samt Hakenkreuz. Ihr werde entgegengehalten, dass solchen Vorfällen nicht zwingend ein antisemitisches Motiv zugrunde liege, erzählt Nationalrätin Binder. Doch selbst wenn so etwas «aus reiner Dummheit» geschehe, sei es eine «Geschichtsblindheit sondergleichen». Die Gräuel des Holocausts würden dadurch in untragbarer Weise verharmlost. «Verletzend und unverständlich» Die Mitte-Politikerin beschränkte sich in ihrem Vorstoss bewusst auf Symbole mit Bezug zum Nationalsozialismus und zum Holocaust, während in früheren Anläufen allgemein auf rassistische und gewaltverherrlichende Symbole gezielt worden war. Doch da wäre es schwierig, immer alle aufzulisten, findet auch Binder. Anders bei den offensichtlichen Nazi-Symbolen: «Diese fallen sicher nicht unter die Meinungsäusserungsfreiheit.» Die Aargauer SP-Na- «Der Bundesrat verschliesst nicht die Augen vor der Zunahme antisemitischer Vorfälle.» Karin Keller-Sutter, Justizministerin «Offensichtliche Nazi-Symbole fallen sicher nicht unter die Meinungsäusserungsfreiheit.» Marianne Binder, Mitte-Nationalrätin Die Forderung, Nazi-Symbole zu verbieten, wird lauter Wer in der Öffentlichkeit Nazi-Symbole wie den Hitlergruss zeigt, macht sich in der Schweiz nicht in jedem Fall strafbar. Jetzt fordern mehrere Vorstösse im Parlament und auch der Auslandschweizerrat Nulltoleranz. Nach anfänglichem Zögern prüft die Regierung das Anliegen. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3 18 Gesellschaft

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