5 THEODORA PETER UND MARC LETTAU «Nachts, in den Träumen, sehe ich meine Datscha», sagt Alexander Volkow. Er träume von den Weinstöcken, zu denen er jetzt schauen gehen müsste. Aber der pensionierte Metallurgie-Ingenieur aus Kramatorsk sitzt 2500 Kilometer von seinem Sommerhaus entfernt in einem kleinen bernischen Dorf, von dem er bis vor Kurzem nicht wusste, dass es existiert: Mittelhäusern. Alexander Volkow ist Ukrainer und sein Weg hierher unterscheidet sich – vom zufälligen Ziel abgesehen – wenig von dem von Millionen weiterer Menschen aus der Ukraine. Er floh mit Schwiegertochter Julia und Enkel Sergej aus der unter Raketenbeschuss stehenden Stadt im Donbas, floh vor Krieg, Tod, Zerstörung und Not. In der Schweiz beschied ihm die Flüchtlingsbehörde schliesslich, sie hätten «eine Einladung für Mittelhäusern erhalten». Mitten im Elend sei das ihr Glück: «Herzliche Leute haben uns aufgenommen.» Der Herzlichkeit der gastgebenden Familie zum Trotz ist Volkow in Gedanken stets im umkämpften Donbas, in Kramatorsk: «Der Morgen beginnt damit, dass wir uns erkundigen, was noch steht; ob unser Zuhause noch steht.» Zugleich treibt ihn die Frage um, was denn besser sei: ein «guter Krieg», in dem sehr viele fallen werden, oder ein «schlechter Friede». Allein ist er mit solchen Fragen nicht. Spaziert er am Gehstock durch das Dorf, trifft er etwa Anhelina Kharaman an, die mit ihrer Mutter und ihrer Tochter ebenfalls bei Privaten untergekommen ist. Sie stammt aus Mariupol, der in Trümmer liegenden Stadt im Süden der Ukraine. Auch für Lilia Nahorna und Mykola Nahornyi, 1968 in der damaligen Tschechoslowakei einmarschierten. Auch damals empfing die Schweiz die Vertriebenen aus Osteuropa mit offenen Armen. Angesichts der russischen Invasion in die Ukraine aktivierte der Bundesrat im März kurz nach Kriegsausbruch den sogenannten Schutzstatus S. Auf dem Papier existiert diese Flüchtlingskategorie bereits seit den 1990er-Jahren. Damals zwang der bewaffnete Konflikt im ehemaligen Jugoslawien viele Menschen zur Flucht. Zur Anwendung kam dieser spezifische Schutz-Status für Vertriebene bis heute aber nie – auch nicht anlässlich des Syrien-Kriegs, der ebenfalls Millionen von Menschen zu Flüchtlingen machte. Der Ruf nach Gleichbehandlung Der Schutzstatus S bringt den Betroffenen unschätzbare Vorteile: Sie müssen sich lediglich bei den Behörden Zehntausende von Ukrainerinnen und Ukrainern haben auf der Flucht vor dem Krieg Zuflucht in der Schweiz gefunden. Ihre unbürokratische Aufnahme zeugt von Solidarität, deckt aber auch die Schatten der Schweizer Asylpolitik auf. einem Paar aus Dnipro, ist Mittelhäusern momentaner Aufenthaltsort. Und auch sie reden vom Garten, der bestellt werden müsste, damit es im Winter genug Eingemachtes gibt. Welle der Solidarität Rund ein Dutzend geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer leben derzeit in Mittelhäusern – ein Dutzend von den über 50000 Frauen, Kindern und Betagten, die in den ersten drei Kriegsmonaten in die Schweiz geflüchtet sind. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg haben in so kurzer Zeit so viele Menschen Schutz in der Schweiz gesucht. Die Vertriebenen stiessen auf eine Welle der Solidarität: Die Bevölkerung sammelte Hilfsgüter, bot Unterstützung und private Unterkünfte an. Dies erinnert an die grosse Hilfsbereitschaft in der Vergangenheit – zum Beispiel als sowjetische Truppen 1956 in Ungarn und Anhelina Kharaman im blühenden Hof ihres provisorischen Zuhauses. Derweil liegt ihre Heimatstadt Mariupol in Schutt und Asche. Fotos: Danielle Liniger Der begehrte Ausweis mit dem «S» oben links: Der erstmals ausgestellte «Ausweis S» erleichtert den Geflüchteten den Aufenthalt in der Schweiz. Schweizer Revue / Juli 2022 / Nr.3
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