Schweizer Revue 4/2022

Ihr Name suggeriert die staubtrockene Kargheit Arizonas. Eine Wüstenlandschaft, geprägt von mannshohen Kakteen und einer gleissenden Sonne. Inezona steht auch für die Kultur dieser Gegend, die ein Schmelztiegel ist aus westlichen und mexikanischen Einflüssen. In Arizona treffen Country, Americana und Roots Music auf die Klänge der Mariachi. Mal wird auf Englisch gesungen, mal auf Spanisch. Oft im selben Lied. In dieser Ecke der Welt, genauer in der Stadt Tucson, hat Ines Brodbeck in den letzten Jahren viel Zeit verbracht. Die Sängerin aus Basel hat sich stark von der neuen Heimat ihres Herzens inspirieren lassen und mit Musikern aus Tucson Platten aufgenommen. Die Ästhetik der international bekannten Formation Calexico dringt seither durch ihre Lieder. Kein Wunder, spielen ihr musikalischer Weggefährte, der Gitarrist und Produzent Gabriel Sullivan, und andere Mitwirkende sonst bei genau dieser Band. Die Liebe zu Arizona ist auch Brodbecks neuem Album «A Self Portrait» anzuhören. Das Werk versprüht eine ebenso liebevolle wie mystische Schönheit. Gitarren, Banjos und Ukulelen zeichnen das stimmungsvolle Bild, dazu gibts perkussive Elemente, teilweise mit Küchenutensilien gespielt. Arizona und Mitteleuropa verschmelzen harmonisch und authentisch zu einer eigenen Welt, in der Ines Brodbeck zuhause ist. Sie öffnet uns die Tür zu Inezona und lässt uns herein. Aber dieses Mal erzählt sie keine Geschichten. Das ist neu. «A Self Portrait» ist ein instrumental gehaltenes Album ohne Worte, aufgenommen im Alleingang zuhause in der Schweiz. Auch das ist neu. Nur wenige Stimmen tauchen in den 39 Minuten auf. Sie dienen eher als klangliche Farbtupfer denn als Gesang, während die Musik der zehn Kompositionen für sich spricht. Es sind akustische Äusserungen von Sehnsucht, Erinnerung und Hoffnung. Eine cineastisch anmutende, intuitive, intime Dringlichkeit durchflutet das Werk. «A Self Portrait» ist ganz und gar Musik im Geiste Arizonas, die keiner Worte bedarf. MARKO LEHTINEN Eine kurze Unachtsamkeit, ein dummer Zufall – und das Leben ist ein anderes. Dieser kurze Moment widerfährt dem vitalen Künstler Samuel Butt. Als er aufwacht, liegt er angegurtet auf einer Operationsliege und erhält die erste Diagnose: inkomplette Querschnittlähmung. Neben ihm steht sein Freund Florian Füssli, der bei der Operation assistiert. Martin R. Dean stellt in seinem neuen Roman «Ein Stück Himmel» eine Freundschaft auf den Prüfstand dieser Extremsituation. Sam und Florian haben sich die letzten drei Jahre aus dem Blick verloren. Das unverhoffte Wiedersehen lässt sie an alte Geschichten erinnern und offenbart gleich auch wieder, wie verschieden sie im Grunde sind. Der freiheitsliebende Sam trägt schwer an seiner Lähmung, während der verlässliche Florian so gut wie möglich zu helfen versucht. So waren die beiden schon immer gewesen, seit ihrer gemeinsamen Schulzeit. Im Wechsel der Erzählperspektiven erzählt Martin R. Dean, wie Sam nach seinem Unfall Mühe bekundet, sich diszipliniert ans Leben im Rollstuhl zu gewöhnen. Florian versucht ihm beizustehen. Schliesslich reisen sie gemeinsam nach Portugal, in der Hoffnung, so ihre alte Vertrautheit wiederherzustellen. Es will nicht recht gelingen. Wo der gescheiterte Künstler ein Ungebärdiger bleibt, fühlt sich der Arzt mitunter als «Idiot der Gesundheitsindustrie». Man muss verletzen, um zu heilen, ist sein Wahlspruch. Dagegen rebelliert Sam, weil es ihm stets um die ganze Freiheit geht. Im Inneren aber rumort es bei beiden. Während der schüchterne, zurückhaltende Florian seinen Freund um seine Vitalität beneidet, nagt Sam an seinen Misserfolgen. Seine Karriere als Künstler stiess immer wieder an Grenzen, so dass ihm nur die Freiheit blieb, und die Liebe. «Ein Stück Himmel» lotet diese diffizile Beziehung subtil aus und stellt sie in einen Kontext, der etwas Ungemütliches mit in den Text hineinträgt. Es ist dieser Augenblick der Unachtsamkeit, der das ganze Leben zum Kippen bringt. Martin R. Dean arbeitet ihn beeindruckend heraus und konfrontiert die Leser und Leserinnen nachhaltig mit einer Erfahrung, die uns alle jederzeit einholen kann. Wie darauf reagieren? Mit Widerstand, wie es Sam tut, oder mit Demut, wozu Florian rät? Diese Klammer hält Martin R. Deans Buch bis zum bitteren Ende beeindruckend zusammen. Die tröstliche Szene ganz am Schluss ist lediglich eine Reminiszenz an Tage, als die Welt noch heil war BEAT MAZENAUER Ein Tor zur kargen Schönheit Arizonas Nach der Stunde null MARTIN R. DEAN: Ein Stück Himmel. Roman. Atlantis Verlag, Zürich, 2022. INEZONA: «A Self Portrait». Czar of Crickets, 2022. Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 29 Gelesen Gehört

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