Schweizer Revue 4/2022

Wird die Alpsaison bald Unesco-Kulturerbe? Die Alpwiesen und Berghütten stehen als Sinnbild für ein naturnahes Leben, die Alpsaison bildet eine Tradition, die es zu schützen gilt – findet die Schweiz. Sie kandidiert für eine Aufnahme auf die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes. EVA HIRSCHI Die mit hohen Blumenkronen und grossen Glocken bestückten Kühe schreiten majestätisch den Berg hinab, traditionell gekleidete Sennerinnen und Senner gehen am Stock neben ihnen her, ein Hirtenhund rennt um die Truppe herum: Das Bild des Alpabzugs haben alle Schweizerinnen und Schweizer vor Augen – wenn nicht selber am Berg erlebt, dann kennen sie es zumindest vom Fernsehen. «Unsere Kühe sind bereits am Vorabend ganz ‹chribbelig›, sie freuen sich auf die Alp», sagt Bauer Roger Felder aus dem luzernischen Flühli. Von Mitte Mai bis im Spätherbst ist er mit rund 150 Milchkühen, Mutterkühen und Rindern (davon 100 Stück von anderen Bauern) sowie anderen Tieren auf der Alp. Den Auf- und Abstieg macht er jeweils zu Fuss, die ganze Familie sowie Freunde und Bekannte helfen mit. Am Ende der Saison feiert das Dorf eine Älplerchilbi im Tal. Solche Traditionen rund um die Alpsaison sollen nun in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen werden. Im März hat das Bundesamt für Kultur eine Bewerbung bei der Unesco eingereicht. «Dies wäre eine schöne Anerkennung für unsere Arbeit», sagt Felder. Bereits sein Vater und sein Grossvater gingen auf die Alp, dieses Brauchtum reicht aber viel weiter zurück: Seit dem späten Mittelalter treiben Bauernfamilien ihre Rinder, Schafe und Ziegen auf Weiden zwischen 600 und 2900 Meter über Meer, um das zusätzliche Futter zu nutzen. «Es geht uns auch darum, dem breiten Publikum die Rolle und Wichtigkeit der Alpwirtschaft bewusst zu machen», sagt Isabelle Raboud-Schüle. Als Mitglied der Schweizerischen Unesco-Kommission war sie an der Kandidatur massgeblich beteiligt. Mit einem Eintrag als immaterielles Kulturerbe würde sich die Schweiz verpflichten, diese Tradition aufrechtzuerhalten. «Es geht natürlich nicht darum, den Bauern vorzuschreiben, dass sie ihre Kühe zu Fuss statt mit dem Lastwagen auf die Alp bringen müssen», sagt Raboud-Schüle. «Traditionen gehen durchaus mit der Zeit, man will den Bauern ja auch nicht verbieten, Mobiltelefone zu benutzen.» Nationalstolz Statt um Regeln geht es also darum, über Generationen weitergegebene Traditionen und Praktiken zu fördern, die einer Gemeinschaft ein Gefühl der Identität und der Kontinuität vermitteln. Auf der Unesco-Liste stehen zum Beispiel auch die Basler Fasnacht oder das Uhrmacherhandwerk. Die Alpsaison umfasst auch das ganze Wissen drum herum, sei es die Käseproduktion, die Schindelmacherei oder der Trockenmauerbau, aber auch Bräuche wie etwa der Kuhreihen oder Alpsegen, also der allabendliche Betruf in den Bergen. «Vor über 200 Jahren hat Jean-Jacques Rousseau die Alpen als Symbol der Zusammengehörigkeit der Schweiz geprägt», sagt Raboud-Schüle. In keinem der angrenzenden Alpenländer – weder in Deutschland, Österreich, Frankreich noch Italien – sei die Alp für das Nationalgefühl so wichtig. «In Italien kommt die Alp weit hinter dem Olivenöl und den Ruinen in Rom», sagt Raboud-Schüle. Seit dem späten Mittelalter treiben Bauern ihre Rinder, Schafe und Ziegen auf Weiden zwischen 600 und 2900 Meter über Meer, um das zusätzliche Futter zu nutzen. Für Moritz Schwery, Vorstandsmitglied des Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Verbands, geht es ebenfalls um mehr als nur um Imagepflege: «Studien zeigen, dass die Alpsaison förderlich für die Gesundheit der Tiere ist. Vor allem Jungtiere entwickeln eine bessere Widerstandsfähigkeit.» Auch ginge es um den Erhalt der Kulturlandschaft und die Biodiversität. Der Tourismus profitiere ebenfalls davon. Bergbauern unter Druck Übrigens stellt Schwery fest, dass viele Traditionen eine Art Revival erleben. Gerade junge Landwirte und Hirten führen den Alpabzug wieder vermehrt zu Fuss durch. Die Unesco dürfte ihren Entscheid bis Ende 2023 fällen. Braucht es den Eintrag in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit überhaupt? Schwery sieht das pragmatisch: «Dies könnte auch eine zusätzliche Motivation für die Verwaltung sein, die Landwirtschaft zu unterstützen.» Finanziell, versteht sich. Denn: Das romantisierte Bild der Alp entspricht nicht immer der Realität. Der Klimawandel trocknet die Böden aus, Wanderer lassen Abfall liegen, Mountainbiker ignorieren die Velowege, der Wolf reisst Tiere: «Viele haben das Bild eines Hirten vor Augen, der auf der Alp steht und den Kühen zuschaut, während die Sonne scheint. Aber das Leben auf der Alp kann recht hart sein.» Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 30 Kultur

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