Schweizer Revue 4/2022

AUGUST 2022 Schweizer Revue Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Der absolute Schweizer Top-Job: Die Abwartsleute vom Jungfraujoch Expedition ins «Mieterland Schweiz»: Nur die Minderheit besitzt Immobilien Trotz Lawinen aus Schnee und Schlamm: Das Bergdorf Guttannen gibt nicht auf

© Milo Zanecchia Verfolgen Sie auch von zu Hause aus den Auslandschweizer-Kongress! Unsere Partner: Vom 19. bis zum 21. August 2022 findet der 98. Auslandschweizer-Kongress in Lugano statt. Verfolgen Sie ihn von zu Hause aus, falls Sie nicht persönlich teilnehmen! Die Sitzung des Auslandschweizerrats, die Plenarversammlung und ein Workshop werden als Live-Streams übertragen. Schauen Sie sie während oder nach dem Kongress auf www.swisscommunity.org.

Den unüberbietbaren Schweizer Top-Job finden wir weder in einer Grossbank noch in einem Chemiekonzern. Und schon gar nicht in der Politik. Der – geografisch betrachtet – höchste Job liegt auf dem Jungfraujoch, 3500 Meter über Meer. Hier arbeiten das ganze Jahr über Daniela Bissig und Erich Furrer. Sie sind Abwartsleute der im ewigen Schnee gelegenen Forschungsstation; sie sind die obersten Abwartsleute der Nation. Bei ihnen waren wir auf Besuch (Seite 10). Dass in der Schweizer Arbeitswelt ganz zuoberst eine Abwartin und ein Abwart mit grenzenlos weitreichendem Blick wirken, passt bestens. Der Abwart, hier verwenden wir absichtlich nur die antiquierte, männliche Form, ist nämlich eine schweizerische Schlüsselfigur. Unbestechliche Schulhausabwarte bereichern bereits den kindlichen Alltag. Und weil die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer keine Liegenschaft besitzt, sondern in einer Mietwohnung lebt, bleibt die Beziehung zum Abwart für viele lebenslänglich und prägend. Der Abwart, Herr über Treppenhaus, Hausordnung und ordentliche Abfallentsorgung; der Abwart, Hüter des Rasenmähers, des Veloabstellplatzes und der fehlgeleiteten Fussbälle, die es den Nachbarkids auszuhändigen gilt. Das beiläufig Erwähnte ist ein europäischer Sonderfall: Nirgendwo sonst ist der Anteil der Mietenden so hoch und der Anteil der Liegenschaftsbesitzenden so gering wie in der Schweiz. Wir gingen dem Phänomen nach und lernten auf der Reise durchs Mieterland Schweiz: Ortsbilder, Alltag, Umwelt und Politik sind stark vom Umstand beeinflusst, dass hierzulande die meisten keine Immobilien besitzen (Seite 4). Sollten Sie dieses Editorial als abwartskritisch verstanden haben, muss ich widersprechen – und füge ein Lob auf die beste Abwartin an, die sich übrigens niemals «Facility Managerin» nennen würde: Sie schaut im Sechsfamilienhaus, in dem wir wohnen, mit grenzenloser Geduld zum Besten; sie schlägt unkompliziert die Brücke zwischen den schon ewig im Haus Wohnenden und den manchmal lärmigen, manchmal fremdsprachigen Neulingen; sie putzt mit ihren 80 Jahren noch immer das Treppenhaus – und grüsst freundlich, wenn Augenblicke später jemand mit morastigen Joggingschuhen die blitzblanke Treppe hochtrabt. Ein Hoch auf die Abwartin! Ohne sie wäre es an unseremQuartiersträsschen weniger schön zu leben. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Nur die Minderheit besitzt ein Haus: Expedition ins «Mieterland Schweiz» 10 Reportage Daniela Bissig und Erich Furrer und ihr unübertreffbarer Top-Job 13 Gesellschaft Die Zukunft der Schweizer Altersvorsorge steht einmal mehr am Scheideweg 16 Politik Beim E-Voting ruhen derzeit alle Hoffnungen auf der Schweizer Post 19 Gesehen Eine Ausstellung über den grossen Künstler Paul Klee, kuratiert von Kindern 22 Natur und Umwelt Ein Bergdorf trotzt dem Klimawandel, trotz Lawinen aus Schnee und Schlamm 25 Wirtschaft In der Migros gibts auch in Zukunft weder Bier, Wein noch Schnaps 30 Kultur Der Sommer in den Schweizer Alpen ist voller lebendiger Traditionen 32 Aus dem Bundeshaus Schweiz–Liechtenstein: Zwei Nachbarn rücken noch näher zusammen 35 SwissCommunity-News Gemeinsam nachdenken über die herausgeforderte Demokratie 39 Diskurs Stimmen aus der Leserschaft Der Spitzenjob Titelbild: Erich Furrer und Daniela Bissig, Hauswartspaar auf dem Jungfraujoch. Foto Franziska Frutiger Herausgeberin der «Schweizer Revue», dem Informationsmagazin für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 3 Editorial Inhalt

4 Die reiche Schweiz Die Mehrheit wohnt in der Schweiz in Mietwohnungen – unbestreitbar ein Sonderfall in Europa. Das prägt den Alltag, die Umwelt, die Politik und natürlich das Mietrecht. Aber keineswegs immer so, wie man es erwarten würde. Schweizer Alltag: Die Mehrheit lebt Tür an Tür mit anderen, die ebenfalls zur Miete wohnen. So wie hier, in der Siedlung Gäbelbach am Stadtrand von Bern. Foto Keystone Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 4 Schwerpunkt

5 SIMON THÖNEN Wer neu oder wieder in die Schweiz übersiedelt, zieht sehr wahrscheinlich auch zur Miete in ein Mehrfamilienhaus. Denn die Schweiz ist das Land der Mieter und Mieterinnen schlechthin: Sie sind mit einem Anteil von 58 Prozent an der Wohnbevölkerung hier klar in der Mehrheit. Ein so hoher Mietanteil ist unüblich. Überall sonst in Europa machen die Hausbesitzer und -besitzerinnen die Mehrheit aus, am knappsten noch, mit etwas über 50 Prozent, in Deutschland. In Europa sind Hauseigentümerquoten von zwei Dritteln und mehr die Regel. Die Schweiz ist in dieser Sache der unbestrittene Sonderfall. Doch auch wenn man sich hierzulande meist gerne als Sonderfall sieht: Auf den hohen Mietanteil ist man nicht unbedingt stolz. Im Gegenteil: Dass hier nur eine Minderheit in den eigenen vier Wänden wohnt, wird in den Medien in der Regel mit der stereotypen Schlagzeile beklagt: «Der Traum vom Eigenheim ist für die meisten in der Schweiz geplatzt», wie etwa das Pendlermagazin «20 Minuten» einen Artikel zumThema steigende Hauspreise betitelte. Und der Traum, das ist nicht etwa bloss eine Eigentumswohnung, sondern «ein Haus mit Garten». Doch ist es wirklich ein Nachteil, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer in Mietwohnungen – meist in Mehrfamilienhäusern – lebt? Und was für Folgen hat dies für Alltag, Wirtschaft, Politik und Umwelt? Die «Schweizer Revue» hat mit Experten und Interessenvertreterinnen gesprochen und Studien konsultiert. Dabei wird klar: Die Auswirkungen sind vielfältig – und nicht immer so, wie man es erwarten würde. Ein Rundgang quer durch das Mieterland Schweiz in neun Thesen. dividuell gemessen und verrechnet. Die Heizkosten werden den Mietparteien zu gleichen Teilen in Rechnung gestellt. Somit zahlt die sparsame Mieterin für ihre verschwenderischen Wohnungsnachbarn mit. Ob allerdings eine höhere Eigentumsquote die Energiewende vereinfachen würde, ist eine offene Frage. Entschieden wird darüber letztlich in Volksabstimmungen. Und da bekämpft die Lobby der Hauseigentümer meist schärfere Vorschriften, während jene der Mieterschaft sie eher unterstützt. These Nr. 3: Der hohe Mietanteil ist Ausdruck von Wohlstand Je reicher ein Land ist, desto mehr Menschen können sich Wohneigentum leisten – so würde man meinen. Richtig ist aber gerade das Gegenteil: Je ärmer ein Land, desto mehr Hausbesitzende weist es auf. Die Statistiken sprechen hier eine klare Sprache. Mit über 96 Prozent ist die Wohneigentumsquote in Albanien und Rumänien europaweit am höchsten, aber auch in Portugal, Spanien oder Griechenland ist sie mit rund drei Vierteln sehr hoch. Die Erkenntnis: Je prekärer die Lebensverhältnisse sind, desto wichtiger ist Wohneigentum zur persönlichen Absicherung. Innerhalb der Schweiz ist dasselbe Gefälle zu beobachten: In den ländlichen Kantonen Appenzell-Innerrhoden und Wallis ist die Eigentümerquote mit 58 respektive 54 Prozent am höchsten. In den wirtschaftsstarken Stadtkantonen Basel-Stadt und Genf beträgt sie dagegen nur gerade iz – ein Mieterland These Nr. 1: Leben viele in Mietwohnungen, bremst dies die Zersiedelung Keinen Nachteil im hohen Mietanteil sieht Benedikt Loderer, Architekt, «Stadtwanderer» und grüner Bieler Lokalpolitiker. «ImMietwohnungswesenwirddichter gebaut, daswirkt gegen die Zersiedelung des Landes», sagt er. Loderer ist ein unerbittlicher Kritiker der «Hüsli-Pest», wie er die grossflächige Überbauung des Schweizer Mittellandes mit Einfamilienhäusern nennt. «Wenn man die achteinhalb Millionen Menschen, die in der Schweiz wohnen, in Einfamilienhäusern unterbringen wollte, wäre das Land komplett zugepflastert.» Der Traum vom eigenen Häuschen im Grünen beruht für Loderer ohnehin auf einer Illusion: «Die Eigentümer besitzen die Häuser ja nur nominell, effektiv gehören sie den Banken, die dafür die Kredite geben.» These Nr. 2: Wer in einer Mietwohnung wohnt, kann wenig fürs Klima tun Wie eine Wohnung beheizt wird und wie gut sie wärmegedämmt ist, das entscheidet alleine deren Eigentümerschaft. Doch auch Behördenappelle, angesichts von Ukraine-Krieg und Energieteuerung weniger stark zu heizen, stossen auf ein Hindernis: Gerade in alten Mehrfamilienhäusern wird der Heizverbrauch oft nicht inSchweizer Revue / August 2022 / Nr.4

15 respektive 18 Prozent. Hier, wie auch generell in den grossen Städten und wirtschaftsstarken Kantonen wie Zürich und Zug, lebt man meist in Mietwohnungen. These Nr. 4: Das Mieten «funktioniert» gut und ist oft günstiger als Besitzen Eine überraschende Erklärung dafür, warum in der wohlhabenden Schweiz der Mietanteil so hoch ist, liefert Politgeograf Michael Hermann. «Es existiert ein Grundvertrauen, dass das Wohnen auch dann funktioniert, wenn man die Wohnung nicht selber besitzt.» Generell hätten in der Schweiz, so Hermann, «gemeinschaftliche oder genossenschaftliche Formen des Wirtschaftens eine stärkere Tradition als andernorts». Das zeige sich etwa bei den als Genossenschaften organisierten Detailhandelsketten Migros und Coop. Aber auch – sehr schweizerisch – in den häufig gemeinsam genutzten Waschküchen in Mehrfamilienhäusern. Zudem ist Mieten günstiger als Besitzen – zumindest seit Kurzem wieder, wie Ökonomen der Bank Credit Suisse in einer kürzlich publizierten Studie festhalten: «Die Gesamtkosten für Wohneigentum übersteigen die Mietkosten einer vergleichbaren Wohnung.» Das ist allerdings erst jetzt wieder so, wegen demWiederanstieg der Zinsen für Hauskredite. Zuvor – in der seit 2008 anhaltenden Tiefzinsphase – galt das Gegenteil. Die Entwicklung lässt sich somit auch als Rückkehr zu einer gewissen Normalität interpretieren. Solche Studien sagen allerdings wenig über den EinHand vergeben. Wer weder gesichertes Einkommen noch einen breiten Freundeskreis hat, muss abgelegener oder an unattraktiven Standorten, etwa an einer lärmigen Durchgangsstrasse, wohnen. These Nr. 6: Politisch betrachtet müsste der Mieterverband eine Gross- macht sein In der direkten Demokratie setzt sich die Mehrheit der Mietenden an der Urne mühelos durch, würde man meinen. Ein Irrtum. So verwarf das Schweizer Volk am 9. Februar 2020 die Volksinitiative des Schweizerischen Mieterinnen- und Mieterverbands (MV) für «mehr bezahlbare Wohnungen» mit 57 Prozent Nein-Stimmen klar. Die Initiative forderte, dass mindestens zehn Prozent der Neubauten «bezahlbar», das heisst gemeinnützig oder genossenschaftlich, sind. Die Abstimmungsschlappe ist kein Einzelfall: Zumindest auf nationaler Ebene hat der MV noch nie eine Volksinitiative durchgebracht. Ist die Schweiz ein Volk von Mieterinnen und Mietern, das vom Wohneigentum träumt und darum entsprechend abstimmt? Für den Hauseigentümerverband (HEV) ist dies unbestreitbar so. Auf Anfrage verweist man auf eine Umfrage bei Wohnungssuchenden, wonach vor allem Personen im mittleren Lebensalter an Wohneigentum interessiert sind, «weil sie ein langfristiges Zuhause wünschen». Doch auch die MV-Generalsekretärin, die grüne Nationalrätin Natalie Imboden, konstatiert: «Es gibt einen Traum vom Eigenheim, weil man dann nicht mehr riskiert, dass die zelfall aus. Zudem gilt: Wohnen ist, wie das Leben in der Schweiz, im internationalen Vergleich generell sehr teuer. Auch die Mietkosten belasten das Haushaltsbudget, speziell für die ärmere Bevölkerung, stark. These Nr. 5: Das Mieterleben ist abwechslungsreich – und manchmal stressig Die Bevölkerung in der Schweiz zeigt sich in Bezug aufs Wohnen sehr mobil: Jedes Jahr zieht, statistisch gesehen, jeder und jede Zehnte um. Dabei ist der Ortswechsel offensichtlich weniger bedeutend als der Wechsel der Wohnung an sich: In der Schweiz betrug 2020 die durchschnittliche Umzugsdistanz nur 12,5 Kilometer. Bei fast drei Vierteln der Umzüge änderte aber die Anzahl Zimmer in der neuen Wohnung. Und zwar in beide Richtungen: Mal wird in eine grössere, mal in eine kleinere Wohnung gezügelt. Offensichtlich passen viele Menschen die Wohnungsgrösse ihrer sich verändernden privaten Lebenssituation an. Dass mehr als doppelt so häufig umzieht, wer in Mehrfamilienhäusern wohnt, als jene, die in Einfamilienhäusern zuhause sind, überrascht nicht. Der Mieter oder die Mieterin wohnt also meist «abwechslungsreich». Dass man im mittleren Alter in einem Dutzend oder mehr Wohnungen gelebt hat, ist keine Seltenheit. Doch die Flexibilität hat eine Schattenseite: In den meisten Städten gleicht die Wohnungssuche fast einem Vollzeitjob – und gerade die hier sehr raren guten und günstigen Wohnungen werden meist unter der Zügeln ist der weit verbreitete Volkssport im «Mieterland Schweiz», ergo sind leere Bananenkisten ein wertvolles weil begehrtes Gut. Fotos Keystone Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 6 Schwerpunkt

Eigentümerschaft einen recht grossen Spielraum. Dies führt zu einer Zweiteilung der Mieterwelt: Auf dem Wohnungsmarkt sind die Mietpreise markant höher als in bestehenden Mietverhältnissen. Wer lange in derselben Wohnung bleibt, zahlt weniger als jemand, der neu eine Wohnung mietet. These Nr. 8: Mieterinnen und Mieter scheuen den Konflikt mit ihrem Vermieter Konkret dreht sich der Streit in der Schweiz um eine riesige Summe: 78 Milliarden Franken hätten die Miethaushalte in den letzten 15 Jahren zu viel an Miete bezahlt, hält eine Studie im Auftrag des MV fest. Worum es geht: Die Mieten sind rechtlich verknüpft mit den Zinsen für Hauskredite, die seit 2008 gesunken sind – doch die Mieten stiegen weiter an. Für den HEV ist dies, so seine scharfe Replik, ein «Ammenmärchen», so seien gestiegene Betriebskosten und Investitionen nicht berücksichtigt – was der MV bestreitet. Unbestreitbar ist: Viele Mietende haben darauf verzichtet, tiefere Mieten einzufordern, obwohl die Rechtslage dafür günstig ist. Warum? Laut einer Umfrage im Auftrag des MV befürchten viele Konflikte oder ein schlechteres Verhältnis zur Vermieterschaft. «Das Verhältnis ist nicht so schlecht, wie der Mieterverband es darstellt», findet dagegen Markus Meier vom HEV. Er verweist auf eine Umfrage im Auftrag des Bundes, wonach 63 Prozent der Bevölkerung «eher zufrieden» oder «sehr zufrieden» mit dem aktuellen Mietrecht Wohnung gekündigt wird.» Der Eindruck, dass deswegen der MV gegenüber dem HEV von vornherein auf verlorenem Posten stünde, wäre aber falsch. Denn auch der HEV ist bisher mit seinen Volksinitiativen gescheitert. Beide Organisationen sind aber hochgradig referendumsfähig, haben also sehr gute Chancen, ihnen missliebige Vorlagen an der Urne zu Fall zu bringen. Kurz: Ihre Blockademacht ist gross, die Gestaltungskraft gering. Zwischen ihnen besteht ein zähes Patt. These Nr. 7: Die Schweizer Mieterwelt ist stark zweigeteilt Die Miete ist in der Schweiz in vielen Belangen bis ins kleinste Detail dicht geregelt, etwa wenn es darum geht, bis zu welcher Temperatur eine Wohnung geheizt werden muss (20 Grad) oder bis zu welchem Betrag Mieterinnen und Mieter für Reparaturen selbst aufkommen müssen (bis 150 Franken). Und es gilt das Prinzip der sogenannten Kostenmiete: Mietzinserhöhungen müssen mit gestiegenen Kosten belegt werden. Doch in der Realität spielt nicht nur das Mietrecht, sondern auch der Markt eine grosse Rolle, insbesondere bei Neuvermietungen. Sehr grob vereinfacht lässt sich folgendes Fazit ziehen: In bestehenden Mietverhältnissen ist der Mieterschutz eher gut ausgebaut. So existiert zwar kein Kündigungsschutz, aber bei einer Kündigung können Mietende mit guten rechtlichen Chancen eine zeitliche Erstreckung fordern, manchmal über mehrere Jahre. Bei Neuvermietungen hingegen hat die sind. Mit den nun wieder steigenden Zinsen für Hauskredite wird das Spiel – mit umgekehrten Vorzeichen – neu beginnen. Schon bald werden die Eigentümerinnen und Eigentümer gestützt auf die Zinsentwicklung höhere Mieten fordern können. Man darf gespannt sein, ob sich die Vermieterseite im Interesse eines guten Einvernehmens ebenfalls stark zurückhalten wird. These Nr. 9: Die Gretchenfrage lautet: «Wie hast du es mit dem Mieterschutz?» Für den wirtschaftsliberalen Thinktank Avenir Suisse ist das Schweizer Mietrecht ein guter Kompromiss: «Der hiesige Mietwohnungsmarkt ist vergleichsweise massvoll reguliert. Man findet deshalb Mietwohnungen in guter Qualität.» Darin sieht Avenir Suisse den Hauptgrund für den hohen Mietanteil in der Schweiz. In anderen Ländern seien die Mietwohnungen mit «überzogenen Regulierungen aus dem Markt gedrückt» worden. Anders sieht dies Natalie Imboden vom MV: «In den urbanen Gebieten, wo die meisten Menschen wohnen, funktioniert der Mietmarkt nicht.» Hier brauche es mehr Schutz, «weil die Eigentümerschaft sonst ohne entsprechende Leistung überhöhte Einnahmen erzielt». Dem widerspricht der HEV-Direktor, der Baselbieter SVP-Landrat Markus Meier: «Auch unsere Mitglieder leiden darunter, dass in den Städten zu wenig Wohneigentum gebaut werden kann.» Ein «massloser Mieterschutz, wie ihn der MV fordert», verknappe das Angebot zusätzlich. Das literarische Schlüsselwerk zum besseren Verständnis der helvetischen Seele berührt auch das Dasein als Mieter und Mieterin: «Der Waschküchenschlüssel» (oder was, wenn Gott Schweizer wäre), das 1988 publizierte Werk von Autor Hugo Loetscher. Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 7

Die Schweiz wird in den Sicherheitsrat gewählt Am 9. Juni 2022 ist die Schweiz erstmals in den Uno-Sicherheitsrat gewählt worden. Die Wahl durch die Generalversammlung der UNO erfolgte mit 187 von 190 gültigen Stimmen: ein überragendes Wahlergebnis. Die Schweiz kann sich nun in den Jahren 2023 und 2024 an der Schlichtung von Konflikten beteiligen. Währenddem der Bundesrat die Wahl als Erfolg und Vertrauensbeweis gegenüber der Schweiz würdigt, kritisieren innenpolitische Gegner:innen, die Schweiz setzte mit der Einsitznahme im Sicherheitsrat ihre traditionelle Rolle als unabhängige Vermittlerin zwischen verfeindeten Parteien aufs Spiel. (MUL) Schweizer Nationalbank senkt den Leitzins Nach 15 Jahren erhöhte die Schweizerische Nationalbank Mitte Juni 2022 erstmals ihren Leitzins. Sie will damit vermeiden, dass die Teuerung noch breiter auf Waren und Dienstleistungen übergreift. Die Erhöhung fiel überraschend deutlich aus, um 0,5 Prozentpunkte, respektive von bisher –0,75 auf neu –0,25 Prozent. Er ist somit weiterhin leicht negativ. Der tiefere Leitzins ist für Sparer:innen ein gutes Signal. Banken dürften die Last der Negativzinsen nicht mehr – oder nur noch in geringem Mass – ihrer Kundschaft aufbürden. Weiter steigen könnten die Hypothekarzinsen. Liegenschaftsbesitzer:innen blicken deshalb den Folgen der Leitzinssenkung bange entgegen. (MUL) Die Schweiz ist jetzt «kooperativ» neutral Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) überraschte amWeltwirtschaftsforum in Davos von Ende Mai mit einem neuen Begriff: Die Schweiz verfolge neu das Konzept der «kooperativen Neutralität». Mit seiner Neudefinition der Neutralität reagiert er im Wesentlichen auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Laut Cassis müsse sich da auch ein Neutraler positionieren: «Deshalb steht die Schweiz mit den Ländern zusammen, die diesem Angriff auf die Grundfesten der Demokratie nicht tatenlos zuschauen.» Die Schweiz trägt die Sanktionen der EU gegen Russland weitestgehend mit. (MUL) Corona-Nachschau: Tadel für den Bundesrat Bei der politischen Aufarbeitung der bisherigen Corona-Pandemie kritisiert die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments den Bundesrat. Dieser habe nicht früh genug erkannt, dass es sich bei der Pandemie um eine Krise globalen Ausmasses handle. Er habe auch deren Dauer unterschätzt. Zudem seien im Zuge der Pandemie fast alle Aufgaben vom Gesundheitsdepartement übernommen worden, statt diese bereichsübergreifend anzugehen. (MUL) Und die Siegerin heisst ... Joya Marleen Die 18-jährige Sängerin Joya Marleen aus St. Gallen ist die Überfliegerin der Swiss Music Awards 2022: Sie gewann gleich in drei Kategorien – «Best Hit» (mit «Nightmare»: revue.link/nightmare), «Best Talent» und «Best Female Act». Vor der Preisverleihung absolvierte die junge Musikerin noch rasch ihre Maturitätsprüfung ... (MUL) Peter Maurer Peter Maurer, seit 2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), geht inmitten eines globalen Sturms von Bord. Angekündigt hatte er seinen Rücktritt bereits im November. Die Schweizer Diplomatin Mirjana Spoljaric wird seine Nachfolge antreten. Welches Erbe hinterlässt Maurer, der einst Staatssekretär im Aussendepartement war? Die Meinungen sind geteilt. Lob erhält er für sein Wirken zu den Themen Waffen der Zukunft und «Killerroboter», aber auch für die Tatsache, dass er die Genfer Institution für Nichtschweizer:innen geöffnet hat. Auch sein diplomatisches Geschick wird oft gewürdigt: Peter Maurer hat Persönlichkeiten wie Xi Jinping, Emmanuel Macron, Barack Obama und Wladimir Putin die Hand geschüttelt. Doch die Ergebnisse dieser Treffen sind umstritten. In der Zentrale würden einige leitende Angestellte den Übergang zu einer weniger diplomatiebetonten Führung begrüssen, die sich stärker auf die Hilfe für Konfliktopfer konzentriert. Sie wünschten sich oft, dass Maurer Menschenrechtsverletzungen deutlicher angeprangert hätte. «Er verkörpert die Diskretion des IKRK. Letztlich zählt die Wirksamkeit des Handelns», sagt ein Insider. Der lauteste Misston: die Entscheidung Peter Maurers, dem Stiftungsrat des Weltwirtschaftsforums von Davos beizutreten. Eine humanitäre Organisation solle sich nicht mit Multinationalen einlassen, fanden einige ehemalige Delegierte. Unter der Ägide Maurers hat sich das Budget der Organisation beinahe verdoppelt und ist auf 2 Milliarden Franken angewachsen. Einige sehen den Geldsegen als zweischneidiges Schwert. Das IKRK nach Peter Maurer: Die wichtigste Menschenrechtsorganisation in einer zunehmend instabileren Welt zu präsidieren, scheint beinahe zwangsläufig eine «Mission Impossible» zu sein. STÉPHANE HERZOG Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 8 Herausgepickt Nachrichten

9 THEODORA PETER Seit Russland vor bald sechs Monaten die Ukraine angegriffen hat, ist vielerorts von einer Zeitenwende die Rede. Dass im 21. Jahrhundert mitten in Europa Schlachten mit Panzern und Raketen geführt werden, schien bislang unvorstellbar und hat zu einem Umdenken bei der Sicherheitspolitik geführt. Viele Länder rüsten militärisch auf – allein Deutschland investiert 100 Milliarden Euro in seine Armee und will künftig jährlich zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes (BIP) dafür ausgeben. In der Schweiz entschied das Parlament, die Militärausgaben bis 2030 auf ein Prozent des BIP zu steigern. Damit dürfte das Armeebudget von heute fünf Milliarden auf rund sieben Milliarden Franken steigen. Linke und Grüne wehrten sich vergeblich gegen eine «blinde Aufrüstungslogik» und warnten davor, dass ein höheres Armeebudget zu Lasten der Ausgaben für Bildung, Landwirtschaft, Umweltschutz oder Entwicklungshilfe gehen könnte. Sechs Milliarden Franken für Kampfjets Verteidigungsministerin Viola Amherd will mit dem zusätzlichen Geld unter anderem die Bodentruppen mit Artillerie ausrüsten. Vorantreiben will der Bundesrat zudem den bereits vor dem Ukraine-Krieg beschlossenen Kauf neuer F-35-Kampfjets. Die Verträge mit dem US-Hersteller Lockheed Martin sollen bis Ende März 2023 unterschrieben sein. Dies, noch bevor die Initiative «Stop F-35» überhaupt zur Abstimmung kommen wird. Mit dem Volksbegehren wehren sich SP, Grüne und die Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA) gegen das aus ihrer Sicht «überdimensionierte» US-Kampfflugzeug. Die 36 Jets kosten samt Bordwaffen insgesamt sechs Milliarden Franken. Zur Erinnerung: Das Stimmvolk hatte im September 2020 an der Urne mit 50,1 Prozent Ja-Stimmen nur sehr knapp grünes Licht zur Beschaffung neuer Kampfflugzeuge gegeben. Zum Flugzeugtyp wurde das Volk damals nicht befragt. Neue Debatte um Waffenausfuhren Der Krieg in der Ukraine lancierte auch die Debatte um die Ausfuhr von Kriegsmaterial neu. Erst im vergangenen Jahr hatte das Parlament den Spielraum des Bundesrates bei der Bewilligung von Waffenexporten eingeschränkt (siehe «Schweizer Revue» 6/2021). Gemäss Kriegsmaterialgesetz sind Lieferungen an Staaten verboten, die «in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt» verwickelt sind. Somit dürfen andere Staaten in der Schweiz gekauftes Kriegsmaterial nicht an die Ukraine weitergeben. Das möchte FDP-Präsident und Nationalrat Thierry Burkart ändern. Aus seiner Sicht sollten künftig befreundete Länder, welche «die Werte der Schweiz» teilen, Ausnahmebewilligungen erhalten. Das Parlament befasst sich voraussichtlich im Herbst mit der heiklen Frage. Eine direkte Lieferung von Waffen an die Ukraine ist dabei kein Thema. Als neutraler Staat darf die Schweiz beim Export von Rüstungsgütern keine Kriegspartei bevorteilen. Die Schweizer Armee rüstet auf Der Ukraine-Krieg führt europaweit zu einer militärischen Aufrüstung. Auch die Schweiz will mehr Geld in ihre Armee investieren und rasch neue Kampfflugzeuge beschaffen. Zuoberst auf der Einkaufsliste der Schweizer Armee: der F-35-Kampfjet des US-Herstellers Lockheed Martin. Foto: Keystone Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 Nachrichten

STÉPHANE HERZOG Sie hat sich früher um das Personalwesen der Baudirektion des Kantons Uri gekümmert. Er hat in einem Kraftwerk in Nidwalden gearbeitet. Seit Februar 2021 leben Daniela Bissig und Erich Furrer aber auf einem anderen Planeten. Ihr Job? Sie erbringen in der Hochalpinen Forschungsstation Jungfraujoch, einer Forschungsplattform auf 3454 Metern über Meer, die Hauswartungsarbeiten. «Als wir uns die Stelle als Facility Manager gesichert hatten, rief ich meine zwei Töchter an und sagte ihnen, dass wir grosse Neuigkeiten für sie hätten. Sie dachten sogleich, wir würden nach Norwegen auswandern!», kichert Daniela Bissig. Als sie herausfanden, worum es bei der neuen Arbeitsstelle ging, waren Danielas Kinder, aber auch die beiden damaligen Arbeitgeber des Urner Paars nicht überrascht. Beide lieben die Berge und den Schnee. Davon zeugt auch die Schneeflocke, die Daniela sich auf den rechten Arm hat tätowieren lassen. Schnee gibt es hier auf dem Gipfel zwischen den nördlichen und südlichen Alpen mehr als genug. «Im Winter legen wir um 6 Uhr morgens ohne Frühstück los und schaufeln den Schnee weg, der sich über Nacht angehäuft hat», sagt Erich. Diese tägliche Arbeit beginnt vor der Wohnung des Hausmeisterpaars und führt sie 100 Meter hinauf zur Sphinx, dem Felsvorsprung, auf dem das Observatorium der Forschungsstation steht, welches die beiden in einem Lift aus einer anderen Zeit erreichen. Der höchste bezahlte Arbeitsplatz der Schweiz gehört dem Hauswart und der Hauswartin Im Februar 2021 haben sich Daniela Bissig und Erich Furrer den Job ihres Lebens gesichert: Sie sind die Hauswartsleute der hochalpinen Forschungsstation Jungfraujoch. Ihr Tag auf 3500 Metern Höhe ist geprägt von fünf Wetterbeobachtungen. Sie legen zuerst zwei grosse Terrassen frei, was nach starkem Schneefall sehr anstrengend sein kann. Erst danach frühstücken sie. Das Wetterritual Das zweite Ritual gilt der Beobachtung des Wetters. Daniela Bissig oder Erich Furrer begeben sich fünfmal pro Tag hinauf zur Sphinx, um den Himmel 15 Minuten lang zu beobachten. Im Sommer beginnen die Wetterbeobachtungen um 8 Uhr morgens und enden um 8 Uhr abends. Hoch oben auf einer Terrasse über derjenigen für Touristinnen und Touristen, die mit der Bahn aufs Jungfraujoch kommen, nehmen Erich und Daniela die Wetterbedingungen detailliert auf. Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Der absolut oberste Job der Schweizer Arbeitswelt 10 Reportage

Stock befindet sich die Küche, flankiert von einem weiteren Salon. Im vierten Stock die Bibliothek, die von den Forschenden als Arbeitsraum genutzt wird. Die Wohnung von Daniela Bissig und Erich Furrer befindet sich schliesslich im fünften Stock. Vom Doppelbett aus hat man eine wunderbare Sicht auf den Aletschgletscher, der sich hinunter ins Wallis erstreckt. Ferien im Tal Daniela Bissig und Erich Furrer arbeiten in der Höhe und ruhen sich im Tal aus, das heisst in Erstfeld, dem Urner Dorf amNordende des Gotthard-Eisenbahntunnels. Alle zwei Wochen ist Schichtwechsel. Wenn die beiden absteigen, steigt ein anderes Paar auf. Während unseres Besuchs bereiten Daniela Bissig und Erich Furrer den Empfang eines neuen Hausmeisterpaars vor. Ihre Vorgänger hielten viereinhalb Jahre durch. «Die Arbeit erfordert einen Sinn für Gastfreundschaft und Service», sagt Daniela Bissig, die ihren Job gerne bis zur Pensionierung behalten würde. Dem ersten Die Daten werden in die Wettermodelle von Meteo Schweiz eingespeist. Welche Qualität hat der Schnee? Regnet es – was seit 20 Jahren nicht mehr vorgekommen ist – oder hagelt es? Die beiden beschreiben ausserdem die Sichtverhältnisse und die Bewölkung. Auf dem Jungfraujoch ist es ungefähr 40 Prozent der Zeit neblig. Für den Wolkenbericht wird der Horizont in acht Abschnitte unterteilt. Zehn verschiedene Wolkentypen werden registriert. Einfach ist dies bei den Cirren, die sich in 9000 Metern Höhe bilden. Für die Bestimmung der Höhe der anderen Typen dienen die Berggipfel der Umgebung als Referenz: die Jungfrau, die Kleine Scheidegg, das Schilthorn. Wenn der Himmel klar ist, reicht die Sicht bis zum Feldberg (Deutschland) oder zu La Dôle, die 150 Kilometer Luftlinie entfernt liegt. «Dies ist eine zentrale Aufgabe. Es gibt keine Ausrede, sie nicht zu erledigen», sagt Erich. Zu den Aufgaben der beiden gehört der Unterhalt der Räume und gewisser Maschinen, aber auch der Empfang von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die hier ihre Experimente durchführen. Im Labyrinth aus Korridoren und Stockwerken der Forschungsstation treffen wir auf einen Zürcher Forscher der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt. Auf der Sphinx dann auf einen belgischen Forscher. Er wirkt an einem Experiment zu atmosphärischen Gasen mit, das vor 50 Jahren gestartet worden ist. Der bewohnte Teil der Station wurde in die Bergflanke gebaut. Die Stockwerke sind durch einen kleinen Lift miteinander verbunden, dessen Schacht in den Fels gehauen wurde. Im Erdgeschoss befinden sich die Werkstatt des Hauswartspaares, drei Laboratorien und eine Waschküche. Im ersten Stock sind die Forschenden in zehn kleinen Zimmern im ChaletStil untergebracht. Ihnen steht ein schöner, getäferter Salon zur Verfügung, an dessen Wänden die Fotos zweier ausländischer Forscher zu sehen sind, die 1955 in einer Gletscherspalte den Tod fanden. Und das Foto eines Hausmeisters, der 1964 einem Steinschlag zum Opfer fiel. Im dritten Linke Seite: Zu den täglichen Hauswartsaufgaben in der Höhe zählt keineswegs nur das Schneeschaufeln. Es gilt auch, das Wetter zu beobachten und meteorologische Daten zu erfassen. Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 Oben: Erich Furrer und Daniela Bissig auf dem Jungfraujoch. Eines müssen die beiden sein: wetterfest. Ihr Arbeitsort ist Schneetreiben, Frost und Sturm ausgesetzt. Fotos Franziska Frutiger, www.franziskafrutiger.com 11

Paar, das auf der Jungfrau arbeitete, gelang es nicht, zusammenzubleiben. Der Mann blieb aber 30 Jahre lang auf seinem Posten, auch nachdem seine Frau ihn für einen Soldaten verlassen hatte, wie man sich erzählt. Die Forschungsstation gleicht einem Boot auf hoher See. Wie hoch ist das Risiko, sich zu zerstreiten? «Den Grossteil des Tages arbeitet jeder für sich», sagt Erich Furrer. Die Pausen und die Nächte verbringt das Paar zusammen, ebenso die Wetterbeobachtungen am Morgen und am Abend – die schönsten Stunden. Die Höhe erfordert häufige Pausen und es ist unerlässlich, sich ständig Flüssigkeit zuzuführen. Die Menüs werden bereits in Erstfeld geplant. Das in einem Laden in Wengen bestellte Essen kommt per Zug an. «Wir geben hier weniger aus, da wir nur exakt das bestellen, was wir brauchen», sagt die Hausmeisterin, die den Besucherinnen und Besuchern kleine Schokoladen in Form der Jungfrau anbietet. Gut kennt das Hauswartspaar die Auswirkungen der Höhenluft: «Am ersten Tag achten wir darauf, uns langsam zu bewegen. In der ersten Nacht schlafen wir schlecht. Danach akklimatisieren wir uns langsam», sagt Daniela Bissig. Allein während der Pandemie Im Jahr 2020 waren sich unsere beiden Gastgeber sofort einig, dass sie sich für die Stelle bewerben wollten. «Der einzige Punkt, über den wir nachdenken mussten, war die Frage der Finanzen, denn wir würden etwa 30 Prozent unseres Einkommens verlieren», erzählt Daniela Bissig. Dann kam die gute Nachricht: Die Stiftung, bei der sie angestellt sind (siehe Kasten links), hatte ihr Arbeitspensum leicht erhöht. Erich Furrer, der eine der beiden Töchter von Daniela auf den benachbarten Mönch mitgenommen hat, ist hier in seinem Element. «Dies ist mein Traumjob», sagt er. Besonders während der Pandemie war das Hausmeisterpaar manchmal vollkommen allein in der Forschungsstation. Daniela Bissigs Erinnerung an diese Zeit: «Wir lebten wie in einer Blase.» Ein Job im Himmel Die Forschungsstation Jungfraujoch ist der höchstgelegene Arbeitsplatz der Schweiz. Arbeitgeberin der beiden Paare, die sich abwechselnd um die Hauswartarbeiten der Station kümmern, ist die Stiftung Hochalpine Forschungsstationen Jungfraujoch und Gornergrat (HFSJG). Die 1930 gegründete Stiftung vertritt Forschungseinrichtungen aus sechs europäischen Ländern und aus China. Die Schweizer Mitglieder der Stiftung sind die Gemeinde Zermatt, die Gornergrat- und die Jungfraubahn, die Akademien der Wissenschaften Schweiz und die Universität Bern. Tausend Arbeitstage werden jährlich an diesem Forschungsstandort verbracht. Die hoch oben im Fels durchgeführten Versuche drehen sich vor allem um Umwelt- und Klimathemen. Die Station beherbergt rund 50 Experimente aus unterschiedlichen Gebieten wie Meteorologie, Glaziologie, Biologie und Medizin. (SH) © swisstopo www.geo.admin.ch ist ein Portal zur Einsicht von geolokalisierten Informationen, Daten und Diensten, die von öffentlichen Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden Haftung: Obwohl die Bund sbehörden mit aller Sorgfalt auf die Richtigkeit der veröffentlichten Informationen achten, kann hinsichtlich der inhaltlichen Richtigkeit, Genauigkeit, Aktualität, Zuverlässigkeit und Vollständigkeit dieser Informationen keine Gewährleistung übernommen werden.Copyright, Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft. http://www.disclaimer.admin.ch 4 6km 2 0 Massstab 1: 200'000 Gedruckt am 10.06.2022 14:39 https://s.geo.admin.ch/9878fade70 Der Weg ins Tal führt zunächst durch festen Fels: Ein sicherer Stollen verbindet die Forschungsstation mit der Bergstation der Bahn aufs Jungfraujoch. Fotos Franziska Frutiger Feierabend in der Abgeschiedenheit mit recht rustikalem Charme: Besser, man mag dicke Bücher lesen, denn das nächstgelegene Vergnügungsangebot liegt hier doch in ziemlicher Ferne. © Swisstopo 12 Reportage

DENISE LACHAT Die AHV ist ein Haus, das allen Menschen im Alter finanziellen Schutz bieten soll. Praktisch alle Einwohner der Schweiz, Schweizer und Ausländer, sowie viele Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer haben Anrecht auf Leistungen der staatlichen Altersvorsorge. Der Grundstein für dieses Haus wurde 1947 gelegt. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs entwickelte das Parlament die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV); sie trat am 1. Januar 1948 in Kraft. Zuvor war die Fürsorge für erwerbsunfähige und betagte Menschen fast schon Glückssache und hing von den Möglichkeiten respektive der Hilfsbereitschaft von Familienangehörigen, gemeinnützigen Organisationen und der Kirche ab. Am AHV-Haus wurde schon bald nach der Grundsteinlegung weitergebaut. Insgesamt zehn Mal wurde die AHV seit ihrer Einführung revidiert. Und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde auf dieser Baustelle auch häufig fröhlich gesungen – man baute nach Plan aus, aus und um. Das letzte Stockwerk wurde 2001 angefügt: Damals wurde das Rentenalter der Frauen von 62 auf 63 erhöht und ab 2005 auf 64 Jahre festgelegt. Gleichzeitig ist seither auch der Vorbezug der Rente ermöglicht, und die Renten wurden der Teuerung angepasst. Die Krux mit dem Volk Seither drehen die Arbeiter auf der Baustelle im Kreis, die Lust aufs Singen ist ihnen vergangen. Denn die Baupläne der Architekten werden einer nach dem anderen ins Altpapier befördert: entweder direkt vom eidgenössischen Parlament, spätestens aber vom Stimmvolk an der Urne. Was ist los in Gesellschaft und Politik, dass seit 20 Jahren keine echte AHV-Reform mehr zustande kommt? Michael Hermann, Politikwissenschaftler und Leiter des Forschungsinstituts Sotomo, weiss Antwort darauf. Die steigende Lebenserwartung und die sinkende Zahl junger Arbeitskräfte, die in den Rententopf einzahlt, zwingen zu Sparmassnahmen. Doch Sparmassnahmen – oder ein höheres Rentenalter – durch das Volk gutheissen zu lassen, ist zuweilen schier unmöglich. Hermann sagt: «Das Spezielle an der AHV ist, dass sie alle Menschen betrifft, aber schwergewichtig von älteren Männern und Frauen bestimmt wird. 50- oder 60-Jährige sind direkt betroffen und fragen sich, warum ausgerechnet sie nun verzichten Die Schweizer Altersvorsorge ist eine Dauerbaustelle Einmal mehr steht die Zukunft der Schweizer Altersvorsorge am Scheideweg. Im Herbst stimmen die Stimmberechtigten über eine weitere AHV-Reform ab. Doch bereits fordern zwei völlig gegensätzliche Volksinitiativen nächste Umbauschritte für die Renten der Pensionierten. Kurz: Die AHV ist eine Dauerbaustelle. sollen.» Angesichts des Umstands, dass auch bei anderen Abstimmungen die Stimmbeteiligung bei den Älteren höher ist als bei den Jungen, hat diese in Fragen der AHV noch mehr Gewicht. Der Reformstau in der AHV liegt gemäss Einschätzung des Politologen also am politischen System der Schweiz. Hermann verweist dazu auf die Länder Skandinaviens – ihre Politik ist sozialdemokratisch geprägt, aber ohne direkte Demokratie. Fast überall in Skandinavien gilt Rentenalter 67 oder ist in den nächsten Jahren geplant, nicht selten direkt an die Lebenserwartung der Menschen geknüpft. Nach Skandinavien blickt auch Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz. Rentenalter 66 Jassen ist Schweizer Volkssport, beliebt bei älteren Semestern. Die endlose politische Variante des Kartenspiels: die Zukunft der AHV ausjassen. Foto Keystone Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 13 Gesellschaft

für Männer und Frauen, danach eine Koppelung an die Lebenserwartung: Dies fordert die Renteninitiative seiner Partei auch für die Schweiz. Seit 20 Jahren sei die Politik unfähig, die AHV auf eine tragfähige Basis zu stellen. «Das schadet der Reformfähigkeit der Schweiz im Allgemeinen, uns Jungen aber ganz speziell», sagt Müller und spricht von Ernüchterung. Im Herbst stellen die Stimmberechtigten die Weichen Doch bevor die Stimmberechtigten über die AHV-Initiative der Jungfreisinnigen abstimmen, steht ein anderer Brocken an. Am 25. September 2022 gelangt ein weiteres Reformpaket des Parlaments zur Abstimmung, die «AHV 21». Ihr Ziel: Einnahmen und Ausgaben im AHV-Fonds ins Gleichgewicht bringen und das Niveau der Renten halten. Um dies zu finanzieren, würde das Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 Jahre erhöht und die Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte angehoben. Der Zeitpunkt der Pensionierung soll dafür flexibler wählbar sein, möglich wird auch ein schrittweiser Rentenbezug. Die «AHV 21» passt insbesondere den Gewerkschaften und Linksparteien nicht. Für sie ist die Vorlage ein Abbau auf dem Buckel der Frauen. Innert Rekordzeit haben sie die nötigen Unterschriften zusammengebracht, um eine Volksabstimmung zu erzwingen. Linke und Gewerkschaften fordern vielmehr einen Ausbau der Renten – auch sie haben eine Initiative lanciert. Wer ein Leben lang gearbeitet habe, verdiene eine gute Rente, fordern sie und schlagen dazu eine 13. AHV-Rente vor. Doch auch die Jungfreisinnigen sind nicht glücklich mit «AHV 21». Das sei bloss eine «MiniReform, nur ein Zwischenschritt», sagt Müller. Es brauche weitere Schritte, namentlich die Anbindung des Rentenalters an die Lebenserwartung. Davon müssten die Jungen ihre Eltern und Grosseltern freilich noch überzeugen. Zwei gegensätzliche Initiativen im Parlament Mini-Reform oder Leistungsabbau? Spannenderweise kommen die beiden gegensätzlichen Initiativen voraussichtlich just einige Wochen vor der Abstimmung über «AHV 21» ins Parlament – und damit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Sagen die Stimmberechtigten eher Nein zu «AHV 21» aus Furcht, ein Ja würde als Signal für weitere Anhebungen des Rentenalters interpretiert? Oder sagen sie Ja zur Reform und damit Nein zu einem weiteren Ausbauschritt? Immerhin machen Umfragen sowie frühere Abstimmungen klar, dass die Bevölkerung sich der finanziellen Schwierigkeiten der AHV durchaus bewusst ist. So ist die Altersvorsorge in der Schweiz aufgebaut Aktuell beträgt die AHV-Maximalrente 2390 Franken pro Monat und pro Person, die Minimalrente 1195 Franken. Ehepaare erhalten gemeinsam maximal 3585 Franken. Sind die Lebenshaltungskosten im Wohnland tief, entfaltet diese Summe eine beachtliche Kaufkraft, doch in der Schweiz reicht die AHV-Rente allein nicht zum Leben. Dafür braucht es zwei weitere Säulen. Neben der staatlichen Vorsorge aus AHV und Ergänzungsleistungen (1. Säule), gibt es seit 1985 die berufliche Vorsorge über die Pensionskassen (2. Säule) und seit 1987 die gesetzlich geregelte private Vorsorge (3. Säule). Dieses 3-Säulen-Prinzip ist in der Bundesverfassung verankert und hat zum Ziel, den gewohnten Lebensstandard im Alter, bei Invalidität und im Todesfall für sich oder die Hinterbliebenen aufrechtzuerhalten. Allerdings ist bei Tieflöhnen auch die Rente aus der zweiten Säule gering und zum Aufbau einer dritten Säule reicht das Einkommen oftmals nicht. (DLA) Jassen schärft die Rechenfertigkeit. Bezogen aufs Alter: Wer allein auf die AHV-Rente baut, rechnet falsch, denn die Schweizer Altersvorsorge kennt drei Säulen. Foto Keystone Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 14 Gesellschaft

Dichte Folge von Forderungen, die AHV umzubauen Seit 2014 gibt der AHV-Fonds mehr Geld aus, als er einnimmt. Mit der Reform «AHV 21» wollen Bundesrat und Parlament Einnahmen und Ausgaben bei der AHV ins Gleichgewicht bringen und das Leistungsniveau der Renten halten. Zur Finanzierung sollen die Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte angehoben und das Referenzalter der Frauen von 64 auf 65 Jahre erhöht werden. Gleichzeitig wird der Zeitpunkt des Rentenbezugs flexibler wählbar, zwischen frühestens 63 und spätestens 70 Jahren, möglich wird auch ein schrittweiser Rentenbezug. Eine Arbeitstätigkeit über das Referenzalter von 65 Jahren hinaus kann den Rentenbetrag erhöhen und soll Anreiz für eine längere Erwerbstätigkeit sein. Die Initiative der Jungfreisinnigen Schweiz zur «Flexibilisierung des Rentenalters» verlangt die Erhöhung des Rentenalters von Männern und Frauen auf 66 Jahre, anschliessend soll es mit der Lebenserwartung weiter steigen. Berufsspezifische und flexible Lösungen und Vorsorgemodelle sollen für jene Personen entwickelt werden, die nicht bis im Alter von 66 Jahren arbeiten können. Die Initiative «Für ein besseres Leben im Alter» wurde von Gewerkschaften und Linksparteien eingereicht. Sie verlangt für alle Rentenbezügerinnen und -bezüger eine 13. AHV-Rente, und zwar ohne Nachteile für die Höhe der Ergänzungsleistungen respektive den Anspruch darauf. Lanciert ist zudem bereits das nächste Volksbegehren, mit dem Gewerkschaften und SP in Sachen AHV nachdoppeln wollen: Künftig müsse ein Teil der Gewinne der Schweizerischen Nationalbank zur Sicherung der Renten eingesetzt werden, lautet die neue Forderung («Nationalbankgewinne für eine starke AHV»). (DLA) Alle eidgenössischen Abstimmungen vom 25. September 2022 im Überblick Volksinitiative gegen Massentierhaltung Die Würde von Nutztieren in der Landwirtschaft soll in der Verfassung geschützt und die Massentierhaltung verboten werden. Dies verlangt eine Volksinitiative, hinter der Tierschutz- und Umweltorganisationen stehen. Sie wollen der industriellen Aufzucht von Hühnern, Schweinen und Rindern in fabrikähnlichen Betrieben ein Ende setzen. Demnach soll der Bund Kriterien festlegen für tierfreundliche Ställe, den Zugang ins Freie und das Schlachten. Aus Sicht der Gegner ist die Initiative jedoch überflüssig. Bereits heute kümmerten sich die Bauern ums Wohl ihrer Tiere. Zudem verfüge die Schweiz über ein strenges Tierschutzgesetz. Mehr zum Thema Seiten 26 und 27. AHV-Reform – mit zwei Abstimmungsfragen Künftig sollen Frauen erst mit 65 Jahren – statt wie bisher mit 64 – in Pension gehen. Damit wollen Bundesrat und Parlament die finanzielle Zukunft der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) sichern. Frauen der Jahrgänge 1960 bis 1968, die von der Neuerung am stärksten betroffen wären, erhalten als Kompensation einen Rentenzuschlag. Um diesen Ausgleich zu finanzieren, soll die Mehrwertsteuer von heute 7,7 Prozent um 0,4 Prozentpunkte angehoben werden. Dem Stimmvolk werden an der Urne zwei Vorlagen unterbreitet: Die Änderung des AHV-Gesetzes mit der Erhöhung des Frauenrentenalters sowie ein Bundesbeschluss zur Zusatzfinanzierung durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die Linke und die Gewerkschaften lehnen das Reformpaket «auf dem Buckel der Frauen» rundum ab und warnen vor weiteren Abbauplänen bei der Altersvorsorge. Mehr zum Thema Seiten 13–15. Teilabschaffung der Verrechnungssteuer Mit einer Änderung des Verrechnungssteuergesetzes wollen Bundes- rat und Parlament den Fremdkapitalmarkt und damit den Wirtschaftsstandort Schweiz stärken. Konkret soll die Verrechnungssteuer auf Zinserträgen bei Schweizer Obligationen gestrichen werden. Zudem werden diese Wertpapiere von der sogenannten Umsatzabgabe befreit. Gegen die Vorlage, die zu jährlichen Steuerausfällen von mehreren Hundert Millionen Franken führt, wehren sich SP, Grüne und Gewerkschaften. Sie kritisieren, dass nur reiche Anleger von den Erleichterungen profitierten, und die Vorlage ein Freipass für «Steuerkriminalität» sei. (TP) Die Altersvorsorge steht am Scheideweg, die Lage spitzt sich zu: Diese Aussage steht im Argumentarium des linken Komitees der 13. AHV-Rente. Sie könnte aber genauso gut von der Gegenseite stammen. Die Optionen für eine Entspannung heissen je nach politischer Ausrichtung länger arbeiten, weniger Rente beziehen, höhere Lohnbeiträge bezahlen, Mehrwertsteuer anheben, Erbschaftssteuern in die AHV leiten oder ein Mix davon. Oder den AHV-Fonds mit Geldern der Nationalbank alimentieren, wie es SP und Gewerkschaften nun mit einer weiteren Volksinitiative planen. Mit Blick auf die Abstimmung im Herbst lässt sich sagen: Auf der AHV-Baustelle wird weitergearbeitet. Noch ist nicht klar, nach welchem Plan. Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 15

EVELINE RUTZ Man sei auf einem guten Weg. So lässt sich zusammenfassen, was die Bundeskanzlei und die Schweizerische Post im April in Sachen E-Voting kommuniziert haben. Anlass dazu gab ein Bericht: Unabhängige Fachleute hatten das E-Voting-System der Post auf Herz und Nieren geprüft. Sie attestieren ihm «wesentliche» Fortschritte. So ist seit 2019 etwa die Dokumentation klarer, umfassender und besser strukturiert worden. Der Quellcode erhält in weiten Teilen ebenfalls ein gutes Zeugnis. Die Expertinnen und Experten benennen aber auch Schwachstellen. Mängel haben sie zum Beispiel beim kryptografischen Protokoll festgestellt. Ein solches dient dazu, die abgegebenen Stimmen zu verifizieren, ohne dass dabei das Stimmgeheimnis verletzt wird. Für die Sicherheit ist es von entscheidender Bedeutung. Die Post hat einen Teil der Befunde bereits berücksichtigt. Sie spricht davon, dass sich das Projekt nun in einer «weiteren Entwicklungsphase» befinde. Im Lauf von 2023 will sie es abgeschlossen haben. E-Voting, ein Schweizer Dauerthema Ein digitaler Wahl- und Abstimmungskanal schien in den letzten Jahren bereits ein paar Mal greifbar nahe. Auf positive Meldungen folgten jedoch Beim E-Voting ruhen alle Hoffnungen auf der Post Online abzustimmen oder zu wählen, ist in der Schweiz derzeit nicht möglich. Läuft alles nach Plan, können die Kantone 2023 wieder mit Testläufen starten. Dann soll das E-Voting-System der Post zur Verfügung stehen. Rückschläge. Es war ein stetes Auf und Ab. 2004 wurde E-Voting erstmals getestet. 2015 war es in einigen Kantonen sogar möglich, sich via Computer, Tablet oder Smartphone an den nationalen Wahlen zu beteiligen. Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer machten davon rege Gebrauch: Aus der Fünften Schweiz gingen rund ein Drittel mehr Stimmen ein als sonst. 15 Kantone führten über 300 Testläufe durch, bis der Bundesrat 2019 beschloss, die Übung abzubrechen. Finanzielle Überlegungen hatten den Kanton Genf und Sicherheitslücken die Post dazu veranlasst, ihre IT-Lösungen zurückzuziehen. Der Bund passte die Rahmenbedingungen für einen neuen Anlauf an. Er erhöhte die Anforderungen an die Sicherheit, sprach sich für eine Open-Source-Strategie aus und kündigte an, unabhängige Spezialisten für Überprüfungen hinzuzuziehen. Eine solche hat nun erstmals stattgefunden. Drei Kantone planen Versuche für 2023 Ariane Rustichelli, Direktorin der Auslandschweizer-Organisation (ASO), äussert sich vorsichtig optimistisch: «Wir haben Vertrauen in das Vorgehen und hoffen, dass die Post die geforderten Verbesserungen rasch vornehmen kann.» Die Befürworter eines elektronischen Stimmkanals seien schon ein paar Mal enttäuscht worden, sagt sie. «Wir glauben erst, dass es vorwärtsgeht, wenn es tatsächlich passiert.» Der politische Wille, E-Voting in absehbarer Zeit zu ermöglichen, dürfte dank der Corona-Krise zugenommen haben. Die Ausnahmesituation hat gezeigt, wie wertvoll digitale Dienstleistungen sein können. «eGovernment trägt dazu bei, unsere «Wir haben Vertrauen in das Vorgehen und hoffen, dass die Post die geforderten Verbesserungen rasch vornehmen kann» Ariane Rustichelli, Direktorin der Auslandschweizer-Organisation (ASO) Schweizer Revue / August 2022 / Nr.4 16 Politik

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