OKTOBER 2022 Schweizer Revue Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Für die Schweizer Forschung wirds enger: Sie steht in Europa unverhofft im Abseits Das Dorf der starken Männer und Frauen: Ebersecken ist die Hochburg des Seilziehens Heizen mit Öl hat in der Schweiz keine Zukunft: Trotzdem setzen Tausende auf neue Ölheizungen
©marcelo braga luzzi Konsularische Dienstleistungen überall, komfortabel auf Ihren mobilen Geräten www.eda.admin.ch Buenos Aires (2022) Für einenach- haltigeZukunft der Fünften Schweiz Mit einem Legat ermöglichen Sie, dass die Auslandschweizer- Organisation die Rechte der Auslandschweizer:innen weiter- hin unterstützt und vertritt. www.swisscommunity.link/legate SwissCommunity –Wo sich die Fünfte Schweiz vernetzt Unsere Partner: Sie sind Schweizerin oder Schweizer im Ausland und wollen sich mit anderen Auslandschweizer:innen austauschen? Werden Sie Mitglied der OnlinePlattform für die internationale SwissCommunity und gehen Sie auf Entdeckungsreise. Es lohnt sich! Installieren Sie die SwissCommunity-App auf Ihrem Smartphone!
Morgens in aller Frühe die Fenster aufreissen; die Kühle der Nacht ins Haus strömen lassen; danach alle Fenster wieder schliessen, die Vorhänge ziehen und die tägliche Bruthitze aussperren. Das ist eine der Gewohnheiten, die sich viele in der Schweiz diesen Sommer angeeignet haben. Der Juli 2022 war an unzähligen Schweizer Messstationen der sonnenscheinreichste und auch heisseste Monat seit Messbeginn im Jahr 1886. Unberührt von der enormen Hitze dauert die Eiszeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) an. Das Verhältnis ist frostig. Wir erinnern uns: Die Schweiz brach im Mai 2021 die Verhandlungen über das künftige Regelwerk zu den Beziehungen Schweiz–EU ab. Sie tat dies in der Annahme, der radikale Schritt führe zu einem Neuanfang der Verhandlungen. Das war höchstwahrscheinlich – ein Irrtum. Sichtbarer werden bis jetzt lediglich die für die Schweiz nachteiligen Folgen des Verhandlungsabbruchs. So wurde die Schweiz in der europäischen Forschungszusammenarbeit zum Drittstaat ohne Privilegien degradiert. Das benachteiligt und schwächt die Forschung in der Schweiz, wie wir im Schwerpunkt dieser Ausgabe aufzeigen (Seite 4). Die neuen Nachteile wiegen schwer, denn die Schweiz erachtet Bildung und Forschung als einen ihrer wichtigsten «Rohstoffe». Längst ist der Bundesrat der Kritik ausgesetzt, er habe gar keinen Plan, wie das Verhältnis mit der EU zu reparieren sei. Auch der Auslandschweizerrat (ASR) befand an seiner Sitzung vom 19. August 2022 in Lugano, die Landesregierung müsse jetzt entschiedener handeln. Dabei steht für den ASR die Sorge um die Personenfreizügigkeit im Mittelpunkt, die den Alltag von 440000 in der EU lebenden Schweizerinnen und Schweizern prägt und deren langsame Erosion er befürchtet. Das Seilziehen zwischen Bern und Brüssel gleicht einem Seilziehwettkampf, bei dem eine der Mannschaften denkt, es sei von Vorteil, das Seil einfach für eine Weile loszulassen, und meint, man könne es dann schon wieder richtig fassen. Im luzernischen Ebersecken sieht man das vermutlich anders: Dort prägt einer der erfolgreichsten Seilziehklubs der Schweiz das gesellschaftliche Leben (Seite 12). Wir liessen uns dort von den starken Seilzieherinnen und Seilziehern zeigen, wie sehr es in diesem kraftvollen Sport auch um Durchhaltewillen und Einigkeit geht. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Schweizer Forschung: Drohende Isolation nach Jahren der engen Zusammenarbeit 9 Nachrichten Der herausfordernde Alltag der in die Schweiz geflüchteten Ukrainer:innen 10 Gesehen Künstler Youri Messen-Naschin spielt gekonnt mit unseren Sinnen 12 Reportage Auf Visite bei den starken Frauen und Männern von Ebersecken (LU) 15 Corona Beim Rückblick auf die Pandemie spart der Bund nicht mit Selbstlob Nachrichten aus Ihrer Region 17 Schweizer Zahlen 18 Natur und Umwelt Ölheizungen sind ein Auslaufmodell. Warum werden trotzdem neue installiert? 22 Wissen Erforschte Expats: Ihre Bindung zur Schweiz bleibt auch in der Ferne stark 24 Aus dem Bundeshaus Botschafter Johannes Matyassy zieht im Interview Bilanz 27 SwissCommunity-News 400 Vertreter:innen der Fünften Schweiz tagten in Lugano 31 Diskurs Das grosse Seilziehen Titelbild: Forscher Thomas Hott bei Montagearbeiten im Cern, dem Forschungszentrum für Hochenergie- und Kernphysik in Genf. Archivbild Keystone (2004) Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 3 Editorial Inhalt
DENISE LACHAT «Wir sind ein kleines Land, das sich schon immer auf die Anwerbung ausländischer Forscherinnen und Forscher gestützt hat», sagt Michael Hengartner, Präsident des ETHRats. Darum herrsche an allen Schweizer Hochschulen eine internationale Atmosphäre, die sich für die Integration von Personen aus dem Ausland als förderlich erweise. Wissen und Bildung gehören zu den wichtigsten Ressourcen der Schweiz. Dies spiegelt sich in einem leistungsstarken Bildungssystem, erstklassiger Infrastruktur und Schweizer Hochschulen, die in internationalen Rankings regelmässig Spitzenplätze belegen. Hengartner spricht von einem veritablen «Ökosystem», das Spitzenforschung fördert und über ein solides, flexibles und zugleich wettForscherinnen ziehen weg, Professoren zögern, an Schweizer Unis zu arbeiten, Schweizer Studierende erfahren Nachteile: Die Forschernation Schweiz erlebt schwere Zeiten. Grund ist das ungeklärte Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU. In der europäischen Forschung ist die Schweiz zum «Drittland» ohne Privilegien geworden. bewerbsfähiges Finanzierungssystem verfügt. «Natürlich können wir auch sehr gute Arbeitsbedingungen bieten», ergänzt Martin Vetterli, Präsident der ETH Lausanne (EPFL). So sei die Dichte an renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Schweiz weit überdurchschnittlich, was wiederum weitere junge Talente ins Land lockt, wie Vetterli sagt. Oder müsste man heute eher sagen «lockte»? Schweiz verliert Zugang zur «Champions League» Der Abbruch der Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen ist für die Forschung folgenschwer. Die Schweiz wurde von der EU in ihrem ForschungsEuropäische Spitzenforschung – in der Schweiz: Zwei Wissenschaftler aus der Halbleiterforschung an der Hochschule EPFL in Lausanne. Foto Keystone Die Angst der Schweizer Forschung vor der Isolation Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 4 Schwerpunkt
5 rahmenprogramm zum «nicht assoziierten Drittland» degradiert. Im weltweit grössten Programm für Forschung und Innovation, Horizon Europe, verliert die Schweiz damit ihre bisherige Stellung und ihren bisherigen Einfluss. Immerhin ist Horizon Europe das weltweit grösste Programm für Forschung und Innovation mit einem Budget von knapp 100 Milliarden Euro für einen Zeitraum von sieben Jahren (2021–2027). Die finanzielle Ausstattung ist im Vergleich zu den 79 Milliarden Euro des Vorgängerprogramms Horizon 2020, bei dem die Schweiz noch assoziierte Partnerin war, nochmals deutlich gestiegen. Ganz ausgeschlossen von der Zusammenarbeit mit ihrem wichtigsten Forschungspartner ist die Schweiz zwar nicht. Aber: Schweizer Forschende können keine grossen Kooperationsprojekte mehr leiten und erhalten keine Grants des Europäischen Forschungsrats (ERC) mehr. Hengartner bezeichnet diese Stipendien des ERC als «Champions League der Forschung». EPFL-Präsident Martin Vetterli kennt sie aus eigener Erfahrung: «Ich hätte meine Forschung im Bereich der digitalen Signalverarbeitung ohne ein Stipendium des ERC in Höhe von fast Schweizer Leuchttürme in der EU-Forschung Welche konkreten Ergebnisse haben die europäischen Forschungsrahmenprogramme gebracht, welchen Nutzen zieht die Schweiz aus der Zusammenarbeit? Der Genfer Uni- Rektor und Präsident von swissuniversities, Yves Flückiger, muss bei der Frage nicht lange überlegen. ■ Cern: Das Forschungslabor ist gleichermassen die Wiege von Europas Forschung: 1954 an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz bei Genf gegründet, war es eines der ersten gemeinsamen europäischen Projekte und hat heute 23 Mitgliedsstaaten. Dieser Wissenschaftsraum wurde 1984 durch die europäischen Forschungsrahmenprogramme gestärkt. Flückiger: «Diese Programme spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Grundlagenforschung und ihrer Umsetzung in industrielle Anwendungen, indem sie insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Laboren und Unternehmen förderten.» Seit 2012 und der Entdeckung des Higgs-Teilchens ist das Cern der ganzen Welt ein Begriff. ■ BioNtech: Das in jüngster Zeit wohl prominenteste Resultat von Forschungstransfer ist der erste Boten- RNA-Impfstoff gegen Covid-19, direktes Ergebnis einer Forschung, die seit etwa 20 Jahren vom Europäischen Forschungsrat finanziert wird. «Dieser Impfstoff war das Werk des Biotechnologieunternehmens BioNtech, eines europäischen Unternehmens, dessen Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci, beide mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland, vom Europäischen Forschungsrat finanziert wurden», sagt Flückiger. ■ ID Quantique: Als weiteres Beispiel nennt Flückiger ID Quantique. 2001 in Genf von vier Wissenschaftlern der Universität Genf gegründet, die wichtige Finanzmittel vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF), aber auch von verschiedenen europäischen Programmen erhielten, hat sich ID Quantique vom kleinen Spin-off zum weltweit führenden Anbieter von Lösungen für sichere Quantenkryptografie entwickelt. Zu den Investoren gehören die Telekomriesen SK Telecom (Südkorea) und Deutsche Telekom. ID Quantique hat seinen Hauptsitz in Genf und unterhält enge Beziehungen zu akademischen Einrichtungen über die Teilnahme an mehreren schweizerischen, europäischen und koreanischen F&E-Programmen, um Innovation auf den Markt zu bringen. (DLA) Das Forschungslabor Cern bei Genf bietet riesige Anlagen zur Erforschung winziger Teilchen. Foto Keystone Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5
zwei Millionen Euro über fünf Jahre nicht so weit vorantreiben können.» Yves Flückiger, Präsident der Schweizer Universitäten swissuniversities, ergänzt, dass Schweizer Forschende von mehreren wichtigen Forschungsbereichen völlig ausgeschlossen sind. Flückiger nennt das Flaggschiffprogramm für Quantenforschung, das für die Entwicklung der Digitalisierung von strategischer Bedeutung sei, den Bau des internationalen Kernfusionsreaktors ITER, bei dem die Schweiz seit 2007 an der Projektsteuerung beteiligt war, und das Programm Digital Europe, das auf Hochleistungsrechnen, künstliche Intelligenz und Cybersicherheit fokussiert. Die Erosion hat bereits begonnen Die Schweizer Forschung gehörte bisher laut Vetterli zu den aktivsten der assoziierten Länder der EU-Forschung, vor allem in den Bereichen Gesundheit, Umwelt, Klima und Quantentechnologie. Jetzt wird sie seit über einem Jahr ins Abseits gedrängt, trotz der 1,2 Milliarden Franken, die der Bund für Übergangsmassnahmen in der Schweiz zur Verfügung gestellt hat. Vetterli berichtet von Start-ups, die auf dem Campus der EPFL entstanden sind und nun Büros in Europa eröffnen, um sicherzustellen, dass sie weiterhin Talente anziehen und von europäischen auch Kasten auf Seite 5) eine Niederlassung in Wien eröffnet, um den Zugang zu Horizon Europe aufrechtzuerhalten. Flückiger sagt, die 100 Arbeitsplätze, die sonst in der Schweiz geschaffen worden wären, befänden sich jetzt in Wien. Es geht um den Wohlstand der Schweiz Es geht bei Horizon Europe für die Schweiz nicht nur um ihre Forschung und die Forschenden, die um ihre Spitzenpositionen fürchten. Sondern auch um Studentinnen und Studenten sowie Professorinnen und Professoren, die plötzlich zögern, in die Schweiz zu kommen. Und es geht bei Horizon Europe auch um Technologietransfer, der zu Gründungen von Start-ups und KMUs und zur Schaffung von Stellen in der Forschung und in Unternehmen führt. Letztlich also, so sind sich die Hochschulvertreter einig, Geldern profitieren können. Yves Flückiger weiss von ersten Forschenden, die die Schweiz mit ihren ERC- Stipendien Richtung Frankreich, Österreich und Belgien verlassen haben. Und Hengartner stellt fest, dass Kandidierende für Professuren an den beiden ETH nun alle nach den Aussichten der Schweiz auf eine baldige Wieder-Assoziierung fragen. Isoliert arbeiten? Das ist in der Welt der Forschung undenkbar. Ebenso in der Welt der Innovation: Als Reaktion auf die Nicht-Assoziierung der Schweiz hat das renommierte Genfer Unternehmen ID Quantique (siehe Die Schweiz ist bei der Forschung international verflochten wie kaum ein anderes Land: Zwei Drittel der Forschenden, die in der Schweiz arbeiten, haben ihr Doktorat im Ausland gemacht. Die Beziehungskrise Schweiz–EU dauert an Rund ein Jahr nach dem Abbruch der Verhandlungen für einen Rahmenvertrag nimmt die Schweiz einen neuen Anlauf zur Regelung ihrer künftigen Beziehungen mit der EU. Doch der Weg zu einer tragfähigen Lösung zwischen Bern und Brüssel ist noch lang – und auf beiden Seiten von Misstrauen geprägt. Auch innenpolitisch ist kein breit abgestützter Konsens in Sicht. Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 6 Schwerpunkt
Nach einer Denkpause entschied der Bundesrat im Februar 2022, das EU-Dossier nochmals neu anzupacken. Dabei setzt die Regierung – statt auf einen «unverdaubaren» Rahmenvertrag – auf ein Paket mit verschiedenen Elementen. Ziel ist es, den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu sichern, neue Abkommen – etwa zum Strom – zu ermöglichen und den Anschluss an EU-Programme wie Horizon Europe wiederherzustellen. Die institutionellen Fragen – zum Beispiel, welche Instanz im Streitfall entscheidet – würden jeweils separat geregelt. Die Krux: Von einem Vorgehen, das diese grundlegenden Fragen «von Fall zu Fall» regelt, wollte die EU-Kommission bislang explizit nichts wissen. Auch hält sie daran fest, dass der Europäische Gerichtshof bei Streitfragen einbezogen wird – was in der Schweiz innenpolitisch auf grossen Widerstand stösst. Der Bundesrat hofft dennoch, dass in der EU-Zentrale die Einsicht wächst, die Fortsetzung des bilateralen Wegs sei auch im Interesse der europäischen Nachbarländer. Seit dem Frühling sondiert nun die für das Dossier zuständige Staatssekretärin Livia Leu das Terrain in Brüssel. Bis zum Redaktionsschluss fanden mehrere Treffen zwischen den Unterhändlern statt. Bis es jedoch auf höchster politischer Ebene zu neuen Verhandlungen kommt, dürfte es noch länger dauern. Der Bundesrat will nämlich erst dann über ein entsprechendes Mandat entscheiden, wenn «eine ausreichende Basis» vorliegt. Bislang lägen die Positionen noch «weit auseinander», stellte der Bundesrat im Juni klar. Das klang noch nicht nach Tauwetter. Auch innenpolitisch herrscht kein Kongeht es bei Horizon Europe um den Wirtschaftsplatz und den Wohlstand der Schweiz. Yves Flückiger findet, der Bundesrat solle sich jetzt nicht auf neue Forschungspartnerschaften ausserhalb der EU fokussieren: Der Forschungswettbewerb finde zwischen der EU, den USA und China statt. Deshalb bleibe die Nichtassoziierung der Schweiz das eigentliche Problem. Die EU-Delegation erklärt auf Anfrage, dass Schweizer Forscherinnen und Forscher stets willkommene und geschätzte Partner in den EU-Forschungsprogrammen waren. Sie seien es auch jetzt: «Schweizer Forschende sind zugelassen, an Horizon-Europe-Projekten teilzunehmen unter den Bedingungen, die für nicht assoziierte Drittstaaten gelten. Für eine vollständige Assoziierung, was auch die Berechtigung zum Erhalt von EU-Mitteln einschliesst, verlangt die EU-Verordnung, dass Drittstaaten ein Dachabkommen abschliessen, das die Bedingungen und Modalitäten der Assoziierung regelt. Die weiteren Entwicklungen in dieser Frage sind im Kontext der Gesamtbeziehungen zwischen der EU und der Schweiz zu betrachten.» «Eine Loose-loose-Situation» Die EU setzt also die Schweiz unter Druck, ihre Beziehungen zu ihren europäischen Nachbarn umfassend zu klären. Bis dahin sieht sie keinen Grund, die Schweizer Forschung privilegiert zu behandeln. Daran haben bisher weder die Bemühungen der Schweizer Diplomatie noch ein Appell der Forschenden etwas geändert. ETH-Ratspräsident Michael Hengartner sagt, diese Situation sei nicht nur für Schweizer Forscherinnen und Forscher nachteilig, sondern auch für die europäische Forschung selbst: «Das ist unverkennbar eine Lose-lose-Situation.» sens, wie es in der EU-Frage weitergehen soll. Die Parteien überbieten sich gegenseitig mit eigenen Strategien und Aktionsplänen – und bedauern gleichzeitig, dass es bei der Lösungsfindung nicht vorwärtsgeht. Aus Sicht des Politologen Fabio Wasserfallen, Professor für europäische Politik an der Universität Bern, zeugt es von einem Führungsvakuum, dass der Bundesrat die in der Schweiz geführte Debatte nicht stärker moderiert: «Innen- und Aussenpolitik sind leider entkoppelt.» Im Schatten der Wahlen 2023 Diese beiden Ebenen zu verbinden, wäre gemäss Wasserfallen Aufgabe der Landesregierung. «Das Paket muss innenpolitisch abgesichert werden, wenn es in einer Volksabstimmung eine Chance haben soll.» Dabei könnte der Bundesrat mit realistischen Modellen aufzeigen, wie man die Schweizer Interessen wahren und allfällige Konzessionen abfedern könnte. «Dazu müsste sich das Gremium auf eine gemeinsame Linie festlegen und diese längerfristig durchziehen.» Doch je mehr Zeit verstreiche, je eher warte man wohl die eidgenössischen Wahlen vom Herbst 2023 ab, so die Einschätzung des Politologen. Denn je nach Abschneiden der Parteien werden auch die Karten bei der Zusammensetzung der Landesregierung neu gemischt. «Im Idealfall kann man aber vor den Wahlen noch eine Diskussion über die Vor- und Nachteile des bundesrätlichen EU-Planes diskutieren.» Dies hätte den Vorteil, dass im kommenden Wahljahr alle Akteure Farbe bekennen müssen. THEODORA PETER Sondiert in Brüssel das schwierige Terrain: die Schweizer Staatssekretärin Livia Leu. Archivbild Keystone Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 7
Nationalbank mit 100 Milliarden Franken Verlust Die Schweizerische Nationalbank (SNB) weist im ersten Halbjahr 2022 einen Verlust von fast 100 Milliarden Franken aus. Es handelt sich um den grössten Verlust der SNB in ihrer über 100-jährigen Geschichte. Ursache des von Experten erwarteten Tauchers sind vor allem Kursverluste auf Aktien und Zinspapieren. Sorge bereitet der Verlust insbesondere den Kantonen und dem Bund, denn ein Teil der SNB-Gewinne wird jeweils an sie ausgeschüttet. Noch ist unklar, was der Rekordverlust für die erhofften Ausschüttungen heisst. (MUL) Schwieriger Kampf gegen Kampfjet Das Schweizer Militär will in den USA für sechs Milliarden neue Kampfjets des Typs Lockheed Martin F-35 beschaffen. Doch eine Mitte August von 103000 Personen unterzeichnete Volksinitiative will dies verhindern. Der von der Behörde ausgewählte Jet sei ungeeignet und zu teuer, finden die Initiant:innen. Das Volksbegehren bringt den Bundesrat in die Zwickmühle, denn die Kaufofferte der US-Regierung ist nur noch bis Ende März 2023 gültig. Bis dahin die Initiative vors Volk zu bringen, ist angesichts der in der Schweiz gängigen Fristen aber kaum möglich. Die Initiative überhaupt nicht zur Abstimmung zu bringen, wäre aber demokratiepolitisch problematisch. (MUL) Vierte Absage in Folge des Genfer Autosalons Der Autosalon Genf wird auch 2023 nicht stattfinden. Er wurde damit bereits zum vierten Mal in Folge abgesagt. Erst zwang die Corona-Pandemie zu Absagen. Jetzt argumentieren Organisatoren mit der Weltwirtschaftslage und geopolitischen Unsicherheiten. Ob die Messe, die jeweils weit über eine halbe Million Besucher:innen anlockte, noch eine Zukunft hat, wird immer ungewisser. Zu kämpfen hat der Salon auch, weil der Klimawandel die Wahrnehmung des Statusobjekts Auto verändert: Es steht nicht mehr nur für die grosse persönliche Freiheit. (MUL) Fischsterben in Schweizer Flüssen Die anhaltend sehr hohen Temperaturen führen in der Schweiz zu ausgetrockneten Flüssen und erwärmten Seen. Die Folge ist ein Fischsterben von «historischem Ausmass», wie der Schweizerische Fischerei-Verband Mitte August warnend sagte. Wassertemperaturen von über 25 Grad werden für viele in der Schweiz heimischen Fische – etwa die Forelle – lebensbedrohlich. (MUL) Kambundji ersprintet EM-Gold über 200 Meter «Sprinterin Mujinga Kambundji greift nach den Sternen»: So titelte die «Schweizer Revue» in ihrer Juli-Ausgabe. Inzwischen hat die 30-jährige Bernerin eine weitere Sternstunde erlebt: Sie gewann im August an den LeichtathletikEuropameisterschaften in München Gold über 200 Meter. Zuvor holte sie sich über 100 Meter mit hauchdünnem Rückstand Silber. Der «Neuen Zürcher Zeitung» sagte die Sympathieträgerin im Interview, sie könne noch etwas schneller werden: «Ich kann das toppen.» (MUL) Louis Nusbaumer alias Ara Sein Pfadiname ist Ara. Warum? Daran kann sich Louis Nusbaumer nicht mehr erinnern. Er sei mit 7 Jahren Wolf geworden, erklärt der 21-jährige Geografie- und Umweltwissenschaftsstudent. Ara ist Leiter bei den 15- bis 17-jährigen Pios in der jurassischen Pfadigruppe Saint-Michel aus Delémont. Wie Tausende andere Pfadfinder arbeitete er am BuLa mit, dem Bundeslager der Schweizer Pfadfinderbewegung, das im Gomsertal (VS) stattgefunden hat. Ara war bereits vor der Eröffnung mit den Pios-Verantwortlichen aus den Kantonen Jura und Bern vor Ort. Die Delegation errichtete im Lager einen Turm aus Baumstämmen. «Die Aussicht war schön. Wir knüpften vier Planen zusammen und verwendeten sie als Dach», erzählt er. Die Pios halfen unter anderem auch beim Bau eines riesigen Baumhauses mit. Sie bewegten sich frei unter den 30000 Pfadis im gigantischen Lager. Nur zwei Regeln gab es zu befolgen: Zusammenbleiben und per Telefon erreichbar sein. «Wir haben zwei Wochen lang miteinander verbracht und es sind enge Bindungen entstanden», erzählt Ara, für den sich selbst und andere zu akzeptieren einer der wichtigsten Werte der Pfadi ist. Wozu eine Uniform? «Die Pfadfinderbewegung ist aus demMilitär entstanden. Die Uniform ist ein Überbleibsel davon», sagt der junge Mann, der die Frage durchaus legitim findet. Anhand der Uniform ist das Alter der Pfadfinderinnen und Pfadfinder zu erkennen: Türkis für Wölfe, beige für Pfadis, rot für Pios und grün für die Leiterinnen und Leiter. In der Pfadigruppe Saint-Michel haben Letztere sich für Rot entschieden, «um den Pios näher zu sein». Wird Ara am nächsten BuLa in 14 Jahren dabei sein? «Warum nicht, die Bewegung braucht immer Freiwillige.» STÉPHANE HERZOG Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 8 Herausgepickt Nachrichten
THEODORA PETER Über ein halbes Jahr nach der Invasion Russlands in die Ukraine ist der Schrecken eines Krieges mitten in Europa noch nicht vorbei. Die anfängliche Hoffnung vieler Ukrainerinnen und Ukrainer, nur für kurze Zeit ins Ausland fliehen zu müssen, hat sich zerschlagen. In der Schweiz richten sich die Vertriebenen auf einen längeren Verbleib ein. Auch die Menschen, die im bernischen Mittelhäusern Unterschlupf gefunden hatten (siehe «Schweizer Revue» 3/2022), sind daran, ihr Leben neu zu organisieren. Einige konnten inzwischen von ihren Gastfamilien in Mietwohnungen umziehen. Die meisten Geflüchteten haben sich inzwischen gut im Schweizer Alltag eingelebt, ihre Kinder besuchen die Schule, die Verständigung fällt zunehmend leichter. Doch gerade die Sprache bleibt eine hohe Hürde, wenn es darum geht, Arbeit zu finden. Von den rund 60000 ukrainischen Flüchtlingen in der Schweiz sind etwa 33000 Personen im erwerbsfähigen Alter. Nur zehn Prozent von ihnen fanden bis im Sommer einen Job. Diese tiefe Quote hängt auch damit zusammen, dass 80 Prozent der arbeitsfähigen Flüchtlinge Frauen sind. Viele von ihnen haben Kinder im Vorschulalter, die betreut werden müssen. Bei einer im vergangenen Juli durchgeführten Umfrage des Forschungsinstitutes Sotomo zeigten sich mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen grundsätzlich interessiert, Ukrainerinnen und Ukrainer anzustellen. Die Firmen wünschen sich aber mehr staatliche Förderung von Sprachkursen, um die Hürden für eine Integration in den Arbeitsmarkt zu senken. Auch verlangen die potenziellen Arbeitgeber Planungssicherheit im Hinblick auf die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen der Betroffenen. Im Frühling 2023 läuft der vorerst für ein Jahr geltende Schutzstatus S aus. Weniger heizen und Strom sparen Der Krieg in der Ukraine wirkt sich europaweit auf die Energieversorgung aus: Russland nutzt seine Reserven als Druckmittel und hat die Gaslieferungen in den Westen stark reduziert. Für den kommenden Winter rechnen viele Länder mit Engpässen – auch die Schweiz, wo 20 Prozent der Haushalte mit Gas heizen. Der Rohstoff spielt zudem bei der Stromproduktion und beim Betrieb von Industrieanlagen eine wichtige Rolle. Dazu kommt, dass die Schweiz imWinter auf Stromimporte angewiesen ist, doch überall wird die Energie knapp. Bund und Energiebranche setzen zunächst auf Appelle zum Sparen: Duschen statt Baden, die Heizung herunterdrehen, Wäsche an der Luft trocknen, Geräte im Standby-Modus ganz ausschalten. Durch freiwillige Massnahmen könnte der Energieverbrauch um 10 bis 20 Prozent reduziert werden. Denkbar sind auch staatliche Vorgaben zu Raumtemperaturen in öffentlichen Gebäuden und das Ausschalten von Strassenbeleuchtungen. Hilft dies alles nicht, könnte es gar zu einer Gas- und Stromrationierung für Industrie und Haushalte kommen. Für den schlimmsten Fall plant der Bundesrat mit Reserve-Kraftwerken, die im Notfall auch mit Erdöl statt mit Gas betrieben werden können. Die langen Schatten des Krieges Für die über 60000 Ukraine-Flüchtlinge in der Schweiz ist die Hoffnung auf die schnelle Rückkehr in ihre kriegsversehrte Heimat verflogen. Die Folgen des Kriegs sind auch für die Schweizer Bevölkerung zunehmend spürbar: Im Winter droht ein Energiemangel. Die Ukraine-Flagge im Schweizer Alltag: Kaum eine Schweizer Schule, die nicht ukrainische Kinder aufgenommen hat. Im Bild: Einblick ins Schulhaus Landhaus in Herisau (AR). Foto Keystone Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 Politik 9
Beim Betrachten der Werke des Schweizer Künstlers Youri Messen-Jaschin stellen sich leichte Schwindelgefühle ein, wie nach einer Schiffsreise auf bewegter See. Es hat sich herausgestellt, dass kontrastreiche Bilder einen Einfluss auf den Gleichgewichtssinn im Innenohr ausüben können. Bilder erzeugen manchmal seltsame Effekte im kognitiven Apparat des Betrachters: Das Gehirn vergleicht visuelle Eindrücke mit in der Erinnerung gespeicherten Elementen, wobei Dissonanzen entstehen können. Die Op-Art oder optische Kunst spielt mit diesen Mechanismen. So entstehen die Resonanzen zwischen Kunst und Neurologie, die Youri Messen-Jaschin und Bogdan Draganski, Direktor des Laboratoire de recherche en neuro-imagerie in Lausanne, in ihrem Buch «L’Op art rencontre les neurosciences» beschreiben. Die beiden haben die Hirnaktivität von Freiwilligen im Magnetresonanztomografen beobachtet, während diese Bilder von Werken betrachteten, die eigens für die Studie angefertigt worden waren. «Wenn Op-Art eine solche Wirkung auf das Gehirn ausübt, könnte sie vielleicht dazu beitragen, bestimmte Krankheiten zu lindern oder sogar zu heilen», schreibt der Fotograf, Maler und Bildhauer. Das Buch vereint reine Kunst mit Erläuterungen zur Funktionsweise optischer Täuschungen. Es liest sich wie ein Kunstband und Essay in einem. Youri Messen-Jaschin ist deutsch-lettischer Herkunft und wurde 1941 in Arosa geboren. In seiner langen Laufbahn wirkte er in Paris, Göteborg, Hamburg, Caracas und Bern. Er lebt in Lausanne. STÉPHANE HERZOG Youri Messen-Jaschin – ein Künstler spielt mit Ihrem Gehirn Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 10 Gesehen «Apophenia», Öl auf Leinen, 2021. Um 90 Grad gedreht, verändert sich der Ausdruck des Bildes komplett. © Youri Messen-Jaschin
Juri Messen-Jaschin, Bogdan Draganski «L’Op art rencontre les neurosciences» (Op-Art trifft auf Neurowissenschaften) Favre-Verlag, November 2021 175 Seiten, 34 CHF revue.link/youri Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 11 Youri Messen-Jaschin im Kleinstformat: «Red Ball», «Blue Red Black» und «Circle Red Blue» auf Briefmarken der Schweizer Post (2010). «Wormhole», 2018, Druckgrafik auf Papier. © Youri Messen-Jaschin
Von Zelten gesäumte Arena Ebersecken im Luzerner Hinterland (Bild links): endlich wieder Seilziehfest. Fotos Danielle Liniger Kraftstrotzende Zielstrebigkeit, neckische Hüte: das Herrenteam in der Kategorie 580 Kilogramm am Heimturnier (oben). Klebriges Hilfsmittel: Um das Seil besser greifen zu können, reiben die Athletinnen und Athleten ihre Hände mit Harz ein. (Bild rechts). «Cooler Teamsport»: Junge Seilzieh-Asse vor und nach einem Zug (Bilder links und rechts). 12 Reportage
SUSANNE WENGER Ein Samstag Anfang Juli in Ebersecken, die Sonne bescheint die sanfte Hügellandschaft des Luzerner Hinterlandes. Bimmelnde Kühe, gaukelnde Schmetterlinge. Auf dem Sportplatz beim Schulhaus jedoch wird in der Hitze Schwerarbeit verrichtet, und es geht laut und kämpferisch zu und her. Über zwanzig Schweizer Seilzieh-Teams sind gekommen, um an diesem Wochenende ein Meisterschaftsturnier in mehreren Gewichts- und Altersklassen auszutragen. Der organisierende Seilziehclub Ebersecken, der fünf Mannschaften stellt, macht aus dem Turnier gleich ein dreitägiges Dorffest. Endlich wieder Seilziehfest in Ebersecken, nach zwei Jahren Pandemie. «Wir freuen uns», sagt Peter Joller, Co-Präsident des Clubs. Im blauen Team-Tenue weibelt der 32-Jährige über den Platz. Trotz der schwierigen Zeit seien die Mitglieder nicht stillgestanden, unterstreicht er. Bei den unter 19-Jährigen treten gemischte Teams an, in den Elitekategorien 580 und 640 Kilogramm bleiben die Männer diesmal unter sich. Wer noch nie an einem Seilziehturnier war, merkt rasch: Die archaisch anmutenden Wettkämpfe sind durchreglementiert, mit festen Rollen und Abläufen, mit der Kontrolle von Gewicht und Schuhwerk. Muskeln und Mentales Seil auf! Spannen! Bereit! Pull! So lauten die Kommandos, mit denen der Schiedsrichter einen Zug starten lässt. Den linken Fuss synchron ins Gras gerammt, das gut 33 Meter lange Seil zwischen den harzigen Händen, nehmen die Athletinnen und Athleten eine maximale Schräglage ein, und der Kampf um den Einzug in den Final nimmt seinen wuchtigen Lauf. Ziel ist jeweils, die gegnerische Mannschaft weit genug auf die eigene Seite zu ziehen. Wer das Seil unter den Arm klemmt, wird verwarnt, auch Rudern und Sitzen ist verboten. «Blybe, blybe, blybe, undenuse, undenuse, undenuse»: Die Coaches stehen dicht dabei und geben unentwegt Anweisungen. Wegen der körperlichen Strapazen komme es auch auf die mentalen Voraussetzungen an, erklärt der clubeigene Platzspeaker Adrian Koller über die leistungsfähige Lautsprecheranlage. Eine der Ebersecker Jungmannschaften demonstriert sogleich, was das heisst. Nach zwei Verwarnungen droht die Niederlage, doch dann kann das einheimische Team den Vorrunden-Zug doch noch für sich entscheiden. Jubel auf und neben dem Platz. Das Festzelt füllt sich, die Festwirtschaft floriert. Erst Plausch, dann Ambition Ebersecken ist landwirtschaftlich geprägt, noch rund 400 Personen leben hier. Vor zwei Jahren fusionierte das Dorf mit der grösseren Nachbargemeinde Altishofen. Alleine hätte Ebersecken die Aufgaben einer Gemeinde nicht mehr tragen können. Dafür kam Altishofen gratis zu einem Weltmeistertitel, wie es unter Anspielung auf die siegreichen Seilzieher hiess, nur halb im Scherz. Vom alten GemeindeDie starken Frauen und Männer von Ebersecken Die Randsportart Seilziehen ist in einem kleinen Luzerner Ort das Grösste: Der Seilziehclub Ebersecken war in den letzten zehn Jahren der erfolgreichste Schweizer Verein. Besuch bei einem Kräftemessen, das Teamgeist erfordert und ein Bauerndorf mit der Welt verbindet. wappen mit dem Eber musste die Ebersecker Bevölkerung Abschied nehmen, doch das borstige Tier darf im Logo des Seilziehclubs weiterschnauben. Und auch als Altishofer Ortsteil bleibt Ebersecken eine Seilzieh-Hochburg. Die Ebersecker Elite gewann seit 2010 jährlich mindestens einen Schweizermeister-Titel, ihre Spitzenleute im Nationalteam brachten Goldmedaillen von drei Weltmeisterschaften nach Hause. Der Erfolg beruhe auf Wille, Training und Zusammenhalt, ist vor Ort zu vernehmen. Gegründet 1980 nach Plauschturnieren, entwickelte der Club zunehmend Ambitionen. Ein paar Mitglieder hätten sich zum Ziel gesetzt, den Verein sportlich Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Auf Besuch bei den stärksten Seilzieher:innen der Schweiz. Vereinsland Schweiz Der Seilziehclub Ebersecken ist einer von schätzungsweise 100000 Vereinen in der Schweiz. Die Schweiz ist ein Vereinsland. Drei Viertel der Bevölkerung ab 15 Jahren sind gemäss FreiwilligenMonitor 2020 Mitglied in einem Verein oder einer gemeinnützigen Organisation, über 60 Prozent machen dort aktiv mit. Die grösste Gruppe sind die Sportvereine, vor Freizeit und Kultur. Vereine haben historisch in der Schweiz eine grosse Bedeutung. Und trotz Mobilität und Individualisierung ist nach Einschätzung von Fachleuten kein Vereinssterben festzustellen. Das Kleinräumige und Lokale sei gerade in einer globalisierten Welt attraktiv. Die besten Voraussetzungen haben Vereine, die sich modernisieren. Das kann etwa bedeuten, das Internet zu nutzen oder projektbezogene Engagements zu ermöglichen. (SWE) Carmen Rölli und Peter Joller präsidieren ehrenamtlich den Seilziehclub Ebersecken. Beide ziehen auch selber am Seil. Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 13
feuerungsrufen gewinnt die Jugendequipe ihren Final und sichert sich damit erneut den Meistertitel. Die Älteren bleiben diese Saison leicht hinter den hohen Erwartungen zurück. Aber: «Wir kommen wieder», versichert Co-Präsident Peter Joller. Er wirkt dabei entspannt und strahlt. Im Festzelt läuft jetzt ein Song der Mundartband Züri West. Irgendeinmal finde das Glück einem, heisst es im Refrain. In Ebersecken hängt das Glück gerade an einem reissfesten Seil. www.szce.swiss/ www.tow2023.ch/ gross zu machen, erzählt Co-Präsident Peter Joller: «Darauf können wir heute aufbauen.» Ausserhalb der Saison wird mindestens zweimal wöchentlich trainiert, während der Saison nahezu täglich. Der Seilziehclub verfügt über eine eigene Trainingsanlage und einen Kraftraum. Auf Social Media präsent Was ist so schön am Seilziehen, dass Schreiner, Hochbauzeichnerinnen, Bauingenieure und Lastwagenchauffeurinnen neben ihren Berufen viel Zeit und Ressourcen investieren? «Teamgeist», antwortet Carmen Rölli, «etwas zusammen erreichen.» Die 26-Jährige ist Co-Präsidentin des Seilziehclubs Ebersecken und selber Seilzieherin. «Gute Kollegen, auf die man fest. Das Einzugsgebiet reiche in die umliegenden Gemeinden, derzeit gebe es keine Nachwuchsprobleme. Vielleicht auch, weil der Verein kommunikativ mit der Zeit geht? Er ist auf Social Media präsent und hat analoge Einfälle. Der Kalender zum 35-Jahr-Jubiläum, in dem die Seilzieh-Männer ihre nackten Oberkörper zeigten, war im Nu ausverkauft. 110 Mitglieder zählt der Club, mehr als die Hälfte zieht nicht am Seil, sondern engagiert sich ehrenamtlich in Vereinsaufgaben. WM 2023 in die Schweiz geholt Für Ebersecken, den kleinen Ort mitten in der Schweiz, stiftet der Seilziehclub Identität. Er ist wichtig fürs Dorfleben und ein Aushängeschild. «Der Verein trägt den Namen Ebersecken in die Welt hinaus», bemerkt CoPräsidentin Carmen Rölli. Gekämpft wurde schon an Turnieren in Südafrika, den USA, Schweden, Spanien. Und nächsten Spätsommer reisen Sportlerinnen und Sportler aus 30 Nationen hierher: Ebersecken hat vom internationalen Tug-of-War-Verband den Zuschlag erhalten, die Weltmeisterschaft 2023 durchzuführen. Es wird das grösste Ereignis der Vereinsgeschichte. Präsidentin des Organisationskomitees ist die Luzerner Mitte-Nationalrätin Ida Glanzmann- Hunkeler. Sie ist in Ebersecken aufgewachsen und sagt: «Es ist mir eine Ehre.» Seilziehen sei für sie «immer eine Sportart unserer Region» gewesen, so die Politikerin, die Bevölkerung sei stolz auf die Leistungen des Clubs. Austragungsort der WM ist aus Platzgründen der Campus in der nahegelegenen Kleinstadt Sursee. Ein Ziel ist es laut Glanzmann, den Seilziehsport in der Schweiz bekannter zu machen. Während das Schwingen auch in urbanen Kreisen populär und hip geworden ist, wird das Seilziehen wenig beachtet. In Ebersecken selber verwandelt sich der Sportplatz an diesem Juli-Samstag in einen Hexenkessel. Unter ohrenbetäubenden AnBereit zum Siegen: Der Ebersecker Seilzieh-Nachwuchs beim Einlaufen. Fotos Danielle Liniger Die Schuhe sind Spezialanfertigungen. Eine Metallplatte am Absatz ist erlaubt. Das Mannschaftsgewicht muss stimmen und wird vor dem Wettkampf bei allen kontrolliert. Zofingen Olten Langenthal Roggwil Willisau Sursee Schöftland Ebersecken Dagmersellen Altishofen Ebersecken liegt im Dreieck der Städte Langenthal (BE), Sursee (LU) und Zofingen (AG). sich verlassen kann», sagt Erich Joller, der 34-Jährige trainiert die Elite. «Dass alle auf alle schauen, vom Stärksten bis zum Schwächsten», fügt Sarah Lüönd an, Helferin und Zuschauerin am Fest. Auch die 13-jährigen Nachwuchsseilzieherinnen Svenja Krauer und Julia Marti finden, es sei «ein cooler Teamsport», der aber noch mehr Frauen brauche. «Schreiben Sie das», so die beiden atemlos zwischen zwei Einsätzen am Seil. Der Seilziehclub Ebersecken investiert bewusst in die Jugendförderung. «Wir bieten den Jungen etwas Positives», hält Co-Präsident Peter Joller Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 14 Reportage
15 SUSANNE WENGER Seit Ende März gelten in der Schweiz keine landesweiten Corona-Schutzmassnahmen mehr. Auf die unerwartete Omikron-Sommerwelle reagierten die Behörden lediglich mit der Empfehlung an über 80-Jährige, den Impfschutz vor schwerem Verlauf mit dem zweiten Booster aufzufrischen. Damit zog die Schweiz ihren vergleichsweise zurückhaltenden Kurs durch. Gesundheitsminister Alain Berset hatte sich schon im Frühjahr auf die Schultern geklopft: «In welchem anderen Land als der Schweiz hätten Sie leben wollen während der Pandemie?», entgegnete der SP-Bundesrat auf eine Journalistenfrage zur Corona-Bilanz. Trotzdem wolle man das Corona-Management «schonungslos» aufarbeiten, versprach Berset. Seither sind verschiedene Berichte erschienen, so vom Bundesamt für Gesundheit, der Bundeskanzlei, von Parlamentskommissionen und der Konferenz der Kantonsregierungen. Die Pandemiebewältigung kommt darin insgesamt gut weg. Bund und Kantone hätten «meist angemessen und, von Ausnahmen abgesehen, zeitgerecht auf die Covid-19-Bedrohungslage reagiert», halten etwa die vom Bundesamt für Gesundheit beauftragten Expert:innen in ihrer Evaluation fest. Doch es finden sich in den Analysen auch kritische Hinweise. Besonders die Schweizer Krisenorganisation wird als mangelhaft erachtet. Die Behörden seien zudem ungenügend vorbereitet gewesen, etwa bei der Lagerhaltung von Schutzmasken. Krisentauglicher werden Bund und Kantone müssten in einer Pandemie besser zusammenarbeiten, ausserdem sei der Einbezug der Wissenschaft zu klären: So lauten weitere Befunde. Auch hinter einzelne Massnahmen gegen die Virus-Verbreitung werden Fragezeichen gesetzt, namentlich die Schulschliessungen im Frühjahr 2020 und die Isolierung älterer Menschen in Pflegeeinrichtungen. Auffallend wenig beleuchtet wird der Tiefpunkt des Schweizer Vorgehens im Herbst/Winter 2020. Weil die Behörden wegen Uneinigkeit der verschiedenen Staatsebenen erst spät Massnahmen ergriffen und die Impfung da noch nicht verfügbar war, kam es zeitweise zu einer markanten Übersterblichkeit. Ein grosser Anteil der bisher über 13000 bestätigten Corona-Todesfälle in der Schweiz fällt in diese Phase der zweiten Welle. Das fatale Zögern wird etwa im BAG-Bericht nur am Rand erwähnt. Pandemie: Welche Lehren zieht die Schweiz? Bund und Kantone arbeiten das Schweizer Corona-Management in Berichten auf. Es gibt viel Selbstlob, einige kritische Hinweise und einen grossen blinden Fleck. Bundesrat Alain Berset, hier bei einem Treffen mit Spitalpersonal in Neuenburg im Jahr 2020, versprach die «schonungslose» Aufarbeitung der schweizerischen Corona-Politik. Foto Keystone Bedauernde Worte fand im Rahmen der Aufarbeitung bisher einzig der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektor:innen, der Basler Mitte-Politiker Lukas Engelberger. Auch die in der Schweiz im westeuropäischen Vergleich tiefere Impfquote war noch kein Thema. Die Berichte listen Empfehlungen auf, die meisten zielen auf verbesserte Krisenstrukturen. Welche Änderungen tatsächlich ins Epidemiengesetz und in den nationalen Pandemieplan einfliessen werden, ist offen. Bereits mahnten Stimmen im Parlament und in den Medien, aus der Aufarbeitung müssten wirklich Lehren gezogen werden. Sonst bringe sie nichts. Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 Corona
Ein Land, ein Ticket. Swiss Travel Pass: Reisen Sie auf dem gesamt Bahn-, Bus- und Schiffsnetz der Schweiz, so viel Sie wollen – freier Eintritt in viele Museen und Ermässigungen auf Bergbahnen inklusive. MySwitzerland.com/swisstravelpass Bergstation Monte Generoso, Tessin
Bambi – zwischen Leben und Tod 3000 Rehkitze flüchten nicht, wenn der Bauer mit der Mähmaschine naht. Oft kommen sie deshalb zu Tode – zerstückelt von der Maschine. Vermehrt kommt nun Hilfe aus der Luft: Die Organisation Rehkitzrettung sucht vor dem Mähen mit Drohnen Zehntausende Hektaren Wiesland ab. So wurden dieses Jahr 3000 Rehkitze geortet und gerettet. Vielleicht verändert das unseren Blick auf Drohnen? 3 Während die Nation übers Wasser- und Energiesparen redet, machten die Pfadfinder:innen im Bundeslager ernst: Pro Woche lief die Dusche für die Verschwitzten maximal drei Minuten lang. Der strenge Zeitplan für die duschenden Gruppen: Eine Minute Wasser zum Annetzen, zwei Minuten ohne Wasser zum Einseifen, zwei Minuten Wasser zum Abspülen. Selbstverständlich kaltes Wasser. 470 Zirka zeitgleich explodierte in der Schweiz – aber ausserhalb des Bundeslagers! – der Handel mit kleinen Elektroöfen. Galaxus, der grösste Schweizer Onlineshop, verkaufte im Juli 470 Prozent mehr kleine Heizgeräte als im Vergleichsmonat des Vorjahres. Die Käufer:innen reagieren damit auf die Furcht, dass im kommenden Winter das Gas fürs Heizen fehlen könnte. 30000 Nur mit filmenden Drohnen zu erfassen war diesen Sommer die Dimension des Bundeslagers 2022, des grössten Schweizer Pfadfinderlagers aller Zeiten: Die Zeltstadt, in der 30000 Pfadfinderinnen und Pfadfinder heisse Sommertage verbrachten, erstreckte sich im Talboden des Goms (VS) über fast vier Kilometer. – www.mova.ch/bula 27 Alle hier zitierten Zahlen sind verifiziert und korrekt. Das festzuhalten ist wichtig, denn auch in der Schweiz sagen viele: Die Medien lügen und die Politik manipuliert uns. 27 von 100 Schweizer:innen teilen gemäss einer neuen Umfrage diese Sichtweise und gelten als Verschwörungstheoretiker:innen. Das Verblüffende: Ihre Zahl ist während der Corona-Pandemie um gut einen Viertel gesunken. Der Erklärungsversuch der Forschenden: Die Vehemenz einiger kritischer Wortführer hat viele, die an sich empfänglich für Verschwörungstheorien sind, abgeschreckt. ZAHLENRECHERCHE: MARC LETTAU Die «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizer:innen, erscheint im 48. Jahrgang sechsmal jährlich in deutscher, französischer, englischer und spanischer Sprache. Sie erscheint in 13 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 431 000 Exemplaren (davon 253 000 elektronische Exemplare). Regionalnachrichten erscheinen in der «Schweizer Revue» viermal im Jahr. Die Auftraggeber:innen von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Herausgeberin. Alle bei einer Schweizer Vertretung angemeldeten Auslandschweizer:innen erhalten die Zeitschrift gratis. Nichtauslandschweizer:innen können sie für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). ONLINEAUSGABE www.revue.ch REDAKTION Marc Lettau, Chefredaktor (MUL) Stéphane Herzog (SH) Theodora Peter (TP) Susanne Wenger (SWE) Paolo Bezzola (PB; Vertretung EDA) AMTLICHE MITTEILUNGEN DES EDA Die redaktionelle Verantwortung für die Rubrik «Aus dem Bundeshaus» trägt die Konsularische Direktion, Abteilung Innovation und Partnerschaften, Effingerstrasse 27, 3003 Bern, Schweiz. kdip@eda.admin.ch | www.eda.admin.eda REDAKTIONSASSISTENZ Sandra Krebs (KS) ÜBERSETZUNG SwissGlobal Language Services AG, Baden GESTALTUNG Joseph Haas, Zürich DRUCK & PRODUKTION Vogt-Schild Druck AG, Derendingen HERAUSGEBERIN Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO). Sitz der Herausgeberin, der Redaktion und der Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. revue@swisscommunity.org Telefon +41 31 356 61 10 Bankverbindung: CH97 0079 0016 1294 4609 8 / KBBECH22 REDAKTIONSSCHLUSS DIESER AUSGABE 17. August 2022 ADRESSÄNDERUNGEN Änderungen in der Zustellung teilen Sie bitte direkt Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit. Die Redaktion hat keinen Zugriff auf Ihre Adressdaten. Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 17 Schweizer Zahlen Impressum
STÉPHANE HERZOG Rund eine Million Öl- und Gasheizungen in Schweizer Haushalten müssen durch Wärmepumpen, Erdsonden oder − ausserhalb der Städte − durch Holzheizungen ersetzt werden. Dadurch würden die CO₂-Emissionen um ungefähr 30 Prozent sinken. «Der Entscheid für die Wärmepumpe drängt sich auf, denn mit ihr lässt sich eine Ölheizung auf einfache Weise ersetzen. Ein weiterer Aspekt der Energiesanierungen ist der politische: Wir erkennen jetzt, dass wir nicht länger von fossilen Energieträgern aus dem Ausland abhängig sein sollten», fasst Stéphane Genoud, Professor für Energiemanagement der Walliser Fachhochschule, zusammen. Immer mehr Kantone schreiben in ihren Gesetzen den Ersatz von Öl- und Gasheizungen durch nachhaltige Systeme vor. Aber ein Teil der Bevölkerung schaut in erster Linie aufs Portemonnaie. 2021 wurden immer noch über 17000 neue Heizungen mit fossilen Brennstoffen eingebaut – gegenüber 33 000 Wärmepumpen. Heizungsfirmen haben in Erwartung der Gesetzesverschärfungen ohne zu zögern neue Ölheizungen zu Tiefpreisen als Ersatz für alte angeboten. Der Trend war in Glarus, St. Gallen und Zürich besonders ausgeprägt. «Die Zeche dafür werden zukünftige Generationen zahlen, denn diese Heizungen werden noch ein Vierteljahrhundert lang Öl verbrennen», sagt StéphaneGenoud. Der ehemaligeElektromonteur schätzt, dass die CO₂-Emissionen in der Schweiz und der Welt bis 2050 zu einer Erwärmung von 3 bis 4 Grad führen werden − mit noch nicht abschätzbaren Folgen. Die Wärmepumpe steht im Mittelpunkt der Energiewende Das wichtigste Instrument der Energiewende ist die Wärmepumpe. Das Gerät extrahiert Wärme aus Flüssigkeit oder Luft und ist heute in etwa einem von fünf Gebäuden Die Energiewende bringt in der Schweiz das Ende für eine Million Gas- und Ölheizungen Die Klimakrise verlangt die Abkehr von Öl- und Gasheizungen. Technische Lösungen existieren bereits, aber es fehlen Arbeitskräfte und Material. Deshalb werden immer noch Tausende neue mit fossilen Brennstoffen betriebene Heizungen installiert. Ein in der Schweiz typisches Bild: Für eine Erdsonde werden mit einer mobilen Bohranlage tiefe Löcher gedrillt. Das Ziel: Mit Wärmeenergie aus dem Erdreich das Haus heizen. Foto Keystone Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 18 Natur und Umwelt
in der Schweiz eingebaut. Der Einbau wird vom Bund, den Kantonen und einigen Gemeinden gefördert. «Aus einer Kilowattstunde Strom produziert eine Wasser-WasserWärmepumpe bis zu 4,5 Kilowattstunden Wärmeenergie. Die Lösung behält also auch bei steigenden Stromkosten ihre Berechtigung», erklärt François Guisan, Leiter eines Beratungsunternehmens für nachhaltige Entwicklung in Genf. Im Idealfall wird das System durch Fotovoltaikaneele versorgt. In Genf verfügt zum Beispiel ein Mietshaus mit 260 Wohnungen über diesen Heizungstyp. «Wenn Heizungen alle 25 Jahre erneuert werden sollen, müsste die Erneuerungsquote 4 Prozent betragen. Sie beträgt jedoch aktuell nur 2,3 Prozent», rechnet Fabrice Rognon, Vorstandsmitglied der Fachvereinigung Wärmepumpen Schweiz, vor. Der Ingenieur verweist auch auf den Einbau von Ölheizungen in Neubauten. «Wenn wir null CO₂-Emissionen erreichen wollen, dürfen wir keine einzige mit fossilen Brennstoffen befeuerte Heizung mehr installieren!» Haushalte im Zangengriff der fossilen Energieträger Die Sorge um die Kosten nachhaltiger Heizsysteme spielt hier eine entscheidende Rolle. «Gas- und Ölheizungen kosten zwar weniger, aber im Betrieb ist eine Wärmepumpe günstiger. Man sollte nicht vergessen, dass die Belastung der Haushalte durch die Kosten fossiler Energieträger hoch ist, denn die Preise steigen», fasst François Guisan zusammen. Der Spezialist hat kürzlich die Energiesanierung eines Herrenhauses ausserhalb der Stadt Genf geleitet. Die Heizung hatte jährlich 9000 Liter Öl verbraucht. Der Einbau einer Pellet-Holzheizung kostete 80000 Franken. Die Vorteile: Sie wurde in der Schweiz hergestellt, Holz ist billiger als Öl und der Treibhausgasausstoss ist zehnmal geringer als derjenige fossiler Brennstoffe. Im Kanton Genf ist der Einbau von Ölheizungen seit 2022 verboten. Die Kostenfrage bei Energiesanierungen betrifft selbstverständlich auch die Mieter. «Nach Sanierungen müssen die Mieten angehoben werden, was die Mieter ablehnen. Die Eigentümer müssen einsehen, dass sie zehn Jahre lang den Rückgang der Hypothekarzinsen nicht an die Mieter weitergegeben haben. Aber auch die Mieterschützer müssen nachgeben, um diesen Knoten zu lösen, denn letztlich ist die Sanierung günstiger als der Status quo», so Stéphane Genoud. Aufwertung der Berufe im Bereich Energiesanierung In der Schweiz herrscht ein Mangel an Fachkräften für die Ausführung der erforderlichen Arbeiten. «Es fehlen 300 000 Monteure», schätzt der Walliser Professor und weist auf ein von ihm entwickeltes Ausbildungsprogramm hin, das sich an junge diplomierte, aber arbeitslose Fachkräfte aus dem Maghreb richtet. «Nach einigen Jahren Arbeit in der Schweiz kehren sie mit neuen Fachkenntnissen und etwas Kapital nach Hause zurück.» Stéphane Genoud weist darauf hin, dass zahlreiche Berufe verschwinden werden. «Für Elektroautos wird es kaum noch Mechaniker brauchen, aber diese könnten dafür Solarpaneele installieren», meint er. Marc Muller, Chef eines auf Energiesanierungen spezialisierten Unternehmens in Yverdon, stellt sich eine Art Mobilisierung vor: «Einem Soziologiestudenten, der nach Abschluss des Studiums eine Velotour um die Welt machen will, könnte vorgeschlagen werden, sich zum Zimmermann ausbilden zu lassen», meint er. Mit dem Hinweis darauf, dass die Wartefristen für Energiesanierungen an grossen Gebäuden bereits heute fünf bis acht Jahre betragen. Für Stéphane Genoud liegt es am Schweizer Bildungswesen, Berufe im Sanierungsbereich stärker zu fördern. «Das Installieren von Wärmepumpen ist ein interessanter, gut bezahlter Beruf», versichert er. Das 2021 in der Abstimmung abgelehnte CO₂-Gesetz sah Mechanismen zur Unterstützung von Sanierungsarbeiten vor. «Der Bund hätte Wärmepumpen in Chargen von 10000 Stück kaufen müssen, so wie er es in der Pandemie mit den Masken machte», schlägt der Walliser Professor vor. Denn es droht auch eine Verknappung von Fotovoltaik-Paneelen und Dämmstoffen. Im April sprach sich die Umweltkommission des Nationalrats für einen indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative aus. Wie die Initiative verlangt der Gegenvorschlag eine lineare Senkung des Treibhausgasausstosses bis 2050 auf netto null. Der Gegenvorschlag regt dazu die Ausarbeitung eines mit 2 Milliarden Franken dotierten, zehn Jahre andauernden Sonderprogramms an, das den Ersatz von Heizungen mit fossilen Brennstoffen unterstützen und die Energiesanierung von Gebäuden vereinfachen soll. Ein Kaminfeger reinigt eine Ölheizung. Ihm geht die Arbeit nicht aus. Obwohl sie ein Auslaufmodell sind, werden überraschend viele neue Ölheizungen installiert. Foto Keystone Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 19
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