Schweizer Revue 5/2022

Toll, wie viel Bewegung in die Schweizer Kammerorchester-Szene geraten ist. Viele haben gemerkt, dass es mit Spielen alleine nicht getan ist: Die immer leicht im Abseits der städtischen Sinfonieorchester stehenden Klein-Klangkörper brauchen Lichtgestalten oder aber ein sehr geschicktes Management, um im Gespräch zu bleiben. Und so wirbelt denn Geiger Daniel Hope seit 2016 mit dem Zürcher Kammerorchester durch die Klassikwelt, Geigerin Patricia Kopatchinskaja entflammt seit 2018 die Camerata Bern und Pianist David Greilsammer treibt die Camerata Genève voran. Auch die Festival Strings Lucerne und das Kammerorchester Basel touren mit berühmten Solisten durch die Welt. Nun kriegen sie Konkurrenz aus Lausanne. Denn: Auch das Orchestre de Chambre de Lausanne will künftig von der Überholspur aus winken. Es könnte gelingen, denn seit 2021 heisst der Chefdirigent Renaud Capuçon. Der französische Meistergeiger wurde vor 20 Jahren zusammen mit seinem Cello spielenden Bruder Gautier weltberühmt. Doch aufgepasst: Capuçon ist in Lausanne nicht der geigende Primus inter pares, der das Orchester via Konzertmeister führt, so wie das in Bern oder Zürich der Fall ist. Capuçon ist der Dirigent des Orchesters. Und das, obwohl der 46-Jährige bis jetzt nie dirigiert hat? Er hat nur auf diese Frage gewartet, strahlend sagt er: «Das ist die offene Tür zu einer gewaltigen Welt!» In Lausanne war er bereits am Unterrichten und war mit dem Kammerorchester schon aufgetreten. Schliesslich dirigierte er es … und erhielt den Job. Das erste Konzert wurde von ARTE übertragen, ein Monat später spielte man im Gefängnis. Und klar: Neue Destinationen werden Tourneeziel des Orchesters. Mit Capuçon kam auch neues Sponsorengeld nach Lausanne. Bereits liegt die erste famose CD vor, «Tabula Rasa» des Esten Arvo Pärt ist darauf zu hören: ein genauso geheimnisvolles wie bezauberndes Werk für zwei Violinen, präpariertes Klavier und Streichorchester. Der 46-Jährige schaut optimistisch in die Zukunft. Er sei nun mal einer, der auf vielen Wegen gehe – immer gegangen sei. Er bewundere andere, die geigen, geigen und geigen. Er aber bietet lieber den Jungen Möglichkeiten, in Lausanne aufs Podium zu kommen: «Das ist das Schönste: Man hilft ihnen aufzusteigen. Würde ich nur Konzerte und Rezitals spielen, würde ich traurig werden.» CHRISTIAN BERZINS Es ist eher die Ausnahme, wenn eine Autorin oder ein Autor ein Buch in zwei Sprachen veröffentlicht. Rebecca Gisler macht eine solche Ausnahme. Ihr Buch «Vom Onkel» erschien 2021 zuerst unter der nicht lupenrein korrekten Überschrift «D’oncle» auf Französisch. Der kleine Makel signalisiert, dass sie gerne frei und kreativ mit der Sprache spielt. Sie beweist es auch in der deutschen Version. «Vom Onkel» spielt in der Bretagne, in einem idyllisch anmutenden Dorf an der Atlantikküste, wo wenig passiert und der nahe Supermarkt neben der örtlichen Vieille Auberge die einzige Attraktion ist. Hier leben die Erzählerin und ihr Bruder in einer «unfreiwilligen Wohngemeinschaft» mit dem Onkel, einem durchaus liebevollen, dickleibigen Zeitgenossen, der an zunehmender Inkontinenz leidet, sich immer weniger wäscht und sein Zimmer mit Abfällen vermüllt. Die Gründe für diese Menage à trois bleiben ebenso im Dunkeln wie andere Familiengeheimnisse, die unter dem Schleier des Schweigens nur vage Umrisse erhalten. Meist herrscht im Haus und im schönen Garten, von dem es umgeben ist, eine ruhige Gelassenheit. Bloss hin und wieder steigt der Puls, etwa wenn der Onkel akut ins Spital gebracht werden muss oder der Bruder wenig später entnervt abreist. Rebecca Gisler erzählt davon in einem unspektakulären, ruhigen Buch, das vor allem durch seine Sprache brilliert. Sie packt ihre Beobachtungen in lange, verwickelt schön komponierte Sätze, die sich der Lektüre nicht verweigern, sondern sie sanft dahin tragen und zum Schwingen bringen. Zwar fehlt es ihrer Geschichte hin und wieder ein wenig an Schärfe, denn der Onkel stört nicht und provoziert nicht. Auch der Reisefilm über die Schokoladenschweiz, den sich der Bruder und die Erzählerin zu Gemüte führen, weil sie von da kommen, wirkt ein wenig klischeehaft. Doch im Zentrum dreht sich das Leben um den Onkel. Wo sich alle angewidert oder überfordert von ihm abwenden, hält ihm die freundliche Erzählerin die Treue, weshalb sie ihn am Ende, als er auf einmal verschwunden ist, suchen geht – und ihn findet, wie er dabei ist, eine Möwe zu verspeisen. Der Charme dieses tragikomischen Buches liegt in der unerschütterlichen Empathie, mit der sich die Erzählerin nicht von den Kapriolen ihres Onkels abschrecken lässt. Für dieses Porträt «voll tiefer Menschlichkeit» ist Rebecca Gisler 2021 mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet worden. BEAT MAZENAUER Ein Franzose bringt das Kammerorchester Lausanne auf die Überholspur Haushalt mit Onkel REBECCA GISLER Vom Onkel. Atlantis-Verlag, Zürich, 2022. 144 Seiten. 27 CHF. D’Oncle. Ed. Verdier, Paris, 2021. 122 Seiten. 24 CHF. ARVO PÄRT: Tabula Rasa, Capuçon /Orchestre de Chambre de Lausanne, CD Erato, 2022 Schweizer Revue / Oktober 2022 / Nr.5 21 Gelesen Gehört

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