Schweizer Revue 5/2022

Aus dem Bundeshaus INTERVIEW: MARC LETTAU Im Ausland lebende Schweizerinnen und Schweizer sehen sich selber gerne als Botschafterinnen und Botschafter der Schweiz. Sie als Botschafter müssen es wissen: Stimmt diese Selbstwahrnehmung? Zumindest eines stimmt immer: Wer im Ausland lebt, ist eine Visitenkarte für die Schweiz. Aber ein wenig dürfen wir die in der Fünften Schweiz verbreitete Selbstwahrnehmung auch hinterfragen. In welchem Sinne? Sämtliche Schweizerinnen und Schweizer im Ausland hinterlassen positive und negative Eindrücke. Alle sind also mitverantwortlich dafür, wie die Schweiz wahrgenommen wird. Das gilt aber nicht nur für jene, die im Ausland leben, sondern auch für die vielen, die reisenderweise unterwegs sind. Ob damit alle gleich Botschafter, Botschafterin werden, ist eine andere Frage. Sagen wir es so: Jede Schweizerin und jeder Schweizer imAusland hat zumindest das Potenzial, dies zu sein. Nahezu 800000 Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. Kann sich da die Schweiz – genauer Ihre Konsularische Direktion – überhaupt noch um Einzelfälle und individuelle Anliegen kümmern? Wer im Ausland lebt, ist in aller Regel gut vertraut mit dem Alltag seines Wohnlandes und findet sich alleine zurecht. Für diese Landsleute sind unsere Vertretungen eine Art Gemeinde. Häufiger ersuchen uns ins Ausland reisende Schweizerinnen und Schweizer um Hilfe und konsularischen Schutz. Einige dieser Fälle sind zugleich schwierig und nur mit enormem Aufwand zu lösen. So wie der Fall der 2020 in Belarus verhafteten Schweizerin Natallia Hersche? Für ihre Freilassung unternahm die Schweiz – dies der Eindruck von aussen – sehr viel. In der Tat ein hochkomplexer, von enormer medialer Aufmerksamkeit begleiteter und «Im Mittelpunkt stehen Menschen und ihre Schicksale» Wer greift drängende Anliegen der Fünften Schweiz auf? Wer hilft Schweizer Reisenden, die im Ausland in eine Notlage geraten? – Beides fällt ins Aufgabenfeld der Konsularischen Direktion im Departement für auswärtige Angelegenheiten. Deren Direktor, Botschafter Johannes Matyassy, spricht von der Herausforderung, sich stets neuen und durchaus schwierigen Fragen zu stellen. Der in Bern geborene Diplomat Johannes Matyassy ist seit 2018 Direktor der Konsularischen Direktion im EDA. Zuvor war Matyassy unter anderem Botschafter der Schweiz in Argentinien und im Anschluss daran Chef der Abteilung Asien/Pazifik im EDA. Das Wirken der Schweiz im Ausland stand für Matyassy auch als CEO von «Präsenz Schweiz», der offiziellen Plattform der Schweiz im Ausland, im Zentrum. Anfang 2023 tritt er in den Ruhestand. Fotos Danielle Liniger ren. Wir sahen aber rasch, dass dies nicht alle alleine schaffen können. Diese enorm umfangreiche Aktion lässt sich aber schlecht mit anderen sehr intensiven Fällen vergleichen. Geht es etwa um die Heimholung von entführten Kindern oder Jugendlichen aus einem Jihad-Camp, herrscht oft über Monate – manchmal Jahre – grösste Anspannung. In Notsituationen gewährt die Schweiz ihren Landsleuten im Ausland Hilfe. Was heisst das für binationale Familien: der Vater Schweizer, die Mutter Ausländerin, die Kinder beides? Eine sehr wichtige Frage. Sie beschäftigte uns auch während der Corona-Rückholaktion. Wir entschieden damals pragmatisch: Man kann in solchen Fällen ja nicht Familien auseinanderreissen, weil die Mutter – als Beispiel – Brasilianerin ist. Wir entschieden: In die Schweiz zurückreisen konnten die ganzen Familien. politisch brisanter Fall. Natallia Hersche ist ja schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin. Zunächst galt es zu erreichen, dass die belarussische Behörde dies ebenso sah. Erst danach konnten wir Natallia Hersche Hilfe gewähren. Unser Botschafter in Minsk besuchte sie unzählige Male im Gefängnis. Dazu kamen intensive Verhandlungen zwischen der Schweiz und Belarus auf politischer Ebene. Am Schluss zählt auch dies: Wir liessen nichts unversucht – aber es gab keinerlei «Deal» mit dem Regime in Minsk. Das Gegenteil eines Einzelfalls: Während der Corona-Pandemie wurden 4200 Menschen mit 35 Flügen zurück in die Schweiz geholt. Hier sprechen wir von der grössten Rückholaktion in der Geschichte der Schweiz! Zunächst appellierten wir auch da an die Eigenverantwortung. Vielen gelang es tatsächlich, selber die Rückreise zu organisie24

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