Schweizer Revue 6/2022

henge errichteten Megalithen: Obwohl erst etwa 4000 Jahre alt, sind Sinn und Zweck des eindrücklichen Bauwerks nicht mehr entzifferbar. Forscher arbeiten deshalb an einer «Atomsemiotik», einer Ausdrucksform für eine ferne Nachwelt, dies imWissen, dass in 200000 Jahren womöglich gar keine menschlichen Gesellschaften im heutigen Sinn mehr existieren werden – und diverse Eiszeiten dazu geführt haben dürften, dass Gletscher die Landschaft bei Stadel aufs Neue gründlich abhobeln und umgestalten. Ausstieg ist seit 2011 beschlossene Sache Gemessen an all den Protesten gegen die Nagra sind die Reaktionen auf die von ihr getroffene Standortwahl vergleichsweise milde. Selbst heftige Gegner der Atomenergienutzung – unter ihnen die Grüne Partei und die Organisation Greenpeace – räumen ein, die Schweiz komme nicht umhin, ihre Verantwortung wahrzunehmen und die anfallenden radioaktiven Abfälle möglichst sicher zu verwahren. Mit ein Grund für diese Haltung ist, dass der schrittweise Ausstieg der Schweiz beschlossene Sache ist. Unmittelbar nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima (2011) entschied der Bundesrat, keine neuen AKWs zu bewilligen. Der Abbruch des 1972 in Betrieb genommenen AKW Mühleberg hat zwischenzeitlich bereits begonnen. Und die verbleibenden vier Meiler Beznau I (1969), Beznau II (1972), Gösgen (1979) und Leibstadt (1984) laufen zwar noch weiter, nähern sich aber stetig dem Ende ihrer Betriebsdauer. Vor diesem Hintergrund lesen viele das Endlager als voraussichtlich 20 Milliarden Franken teuren Schlusspunkt hinter die Atomenergienutzung in der Schweiz. Oder doch neue AKWs? Politiker und Politikerinnen aus den Reihen der FDP und SVP drängen freilich auf eine Lockerung des faktischen AKW-Bauverbots. Der Bau des Endlagers beeinflusst diese neue Debatte: Angesichts der enormen Kosten eines Endlagers rückt die Frage in den Vordergrund, wie preiswert Atomstrom unter dem Strich überhaupt ist. Das Geld fürs Endlager müssen die AKWs nämlich selber in einen «Stilllegungsfonds» einlegen – und wohl oder übel auf die Strompreise abwälzen. Wohl eher dem kurzfristigen Denken entspringt das Argument, neue Atomkraftwerke könnten die Energieabhängigkeit vom kriegsführenden Russland vermindern: Die heutigen Schweizer Atomkraftwerke setzen zu einem beträchtlichen Teil auf Uran – aus Russland. Ergänzende Informationen finden Sie unter revue.link/nagra Website der Nagra: www.nagra.ch strahlende Gut – durch wen oder was auch immer – wieder an die Oberfläche gelangt. «Deckel drauf» in rund einhundert Jahren Die Suche nach einem Endlager für den in der Schweiz anfallenden radioaktiven Müll erwies sich als ausgesprochen schwierig. Zuweilen verjagten aufgebrachte Bauern die Sondierungsteams der Nagra mit Mistgabel, so etwa in Ollon (VD). Anderorts stellten sich potenzielle Standortgemeinden und -kantone in Volksabstimmungen gegen die Deponie. Stadel und der Standortkanton Zürich haben hingegen kaum noch Möglichkeiten, gegen den gefällten Standortentscheid vorzugehen. Angesichts der enormen Widerstände wurden nämlich die Interventionsmöglichkeiten von Gemeinden und Kantonen in Sachen Endlager gesetzlich stark eingeschränkt. Gleichwohl ist auch jetzt, am Ende der langen Suche, noch vieles unklar. Die Nagra muss nun zunächst beim Bund ein Gesuch für den Bau des Endlagers einreichen. Das dürfte 2024 erfolgen. Erst wenn die Bundesbehörde zum Schluss kommt, eine sichere Verwahrung nuklearer Abfälle sei in Stadel tatsächlich möglich, fällt der definitive Standortentscheid. Vor 2029 ist dieser nicht zu erwarten. Danach dürfte auch das Schweizer Stimmvolk über das Endlager abstimmen wollen. Somit kann dessen Bau bestenfalls 2045 beginnen. Erst im Jahr 2050 könnten somit erste Stahlfässer mit radioaktivem Müll eingelagert werden. Im Jahr 2115 heisst es dann «Deckel drauf»: Das Endlager wird verschlossen. Atomsemiotik: Reden mit der fernen Nachwelt Bis dahin muss die Nagra noch die Antwort auf die Frage finden: Wie warnt man künftige Gesellschaften vor den Gefahren, die bei Stadel im Untergrund lauern? Die Frage ist brisant, weil in 10000 oder 100000 Jahren ein heutiges Warnschild kaum mehr zu deuten sein wird. Als Illustration der Schwierigkeit dienen die im englischen StoneDie Schweiz transportierte ab 1969 ihren in Stahlfässer einbetonierten Atommüll mit Güterzügen quer durch Europa und liess sie im Nordatlantik versenken. Sie hielt bis 1983 an dieser umstrittenen Praxis fest. Zwei Symbole, die für heutige Menschen verständlich sind. Doch wie warnt man künftige Wesen vor den Gefahren? Noch sucht die sogenannte «Atomsemiotik» nach Antworten. Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr.6 14 Natur und Umwelt

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