Schweizer Revue 6/2022

Die längste Strecke von West nach Ost: von La Plaine nach Scuol Wie kann man die Grösse des Schweizer Eisen-­ bahnnetzes «erleben»? Wir haben die längstmögliche Strecke von Westen nach Osten abgefahren. Die 461 Kilometer lange Reise führt von La Plaine (GE) ins bündnerische Scuol-Tarasp, wo die Schienen enden. Die Fahrt begann frühmorgens im letzten Bahnhof vor der Grenze zu Frankreich. Von Genf nach Brig, der Schnellzug nach Venedig fuhr gerade vorbei. In Brig füllten sich nach dem Umsteigen die roten Waggons des Glacier Express mit Touristen aus der ganzen Welt. Die Reise nach Chur über den 2000 Meter über Meer gelegenen Oberalp-Pass vergeht wie im Flug. Unsere Tischgenossen waren ein Paar aus Atlanta und ein indischer Informatiker. Erstere erzählten von ihren «unzuverlässigen» Bahnen, der Inder von hoffnungslos überfüllten Zügen. In Chur stiegen wir um in den Zug nach Landquart, von wo es erst Richtung Südosten und dann durch den langen Vereina-Tunnel Richtung Osten ging. Im Val Müstair dann bestaunten wir Burgen in schwindelerregender Höhe und Orte mit klangvollen Namen: Sagliains, Lavin, Guarda, Ardez. Die Ansage für unsere Endstation Scuol-Tarasp erfolgte auf Rätoromanisch. Fast schon ein anderes Land, nach zehn Stunden Fahrt. (SH) STÉPHANE HERZOG Die Schweizer neigen dazu, zu glauben, Schweizerinnen und Schweizer sehen ihr Land gerne als einzigartig auf der Welt. Wenn es um die Schweizer Eisenbahnen geht, deren 175-jähriges Bestehen im August gefeiert wurde, haben sie wohl sogar recht. Das Schweizer Schienennetz ist das dichteste der Welt. Die Bevölkerungszunahme verlangt aber auch nach immer mehr Zügen. Und dank höherer Tempi können viele Strecken in immer kürzerer Zeit zurückgelegt werden. Und schliesslich staunen Touristen aus der ganzen Welt über die Qualität des Schweizer Schienennetzes, seine Schönheit und die technische Meisterleistung der Alpenüber- und -durchquerung. Dies alles ruft geradezu nach Wettbewerben wie der Swiss Train Challenge: Da wird versucht, alle 26 Kantone in weniger als 24 Stunden per Zug zu durchreisen. Dazu genügt die rund 40 Franken teure Tageskarte, wie sie bei vielen Gemeindeverwaltungen erhältlich ist. 2015 gelang es einem Westschweizer TV-Reporter, die Challenge in 19 Stunden und 46 Minuten zu absolvieren. Dabei stützte sich das Fernsehteam auf die Berechnungen von Philippe Morf, einem Verkehrsplaner der Schweizer Bundesbahnen (SBB). 2016 nahmen vier junge Tessiner die Herausforderung erneut an und schafften es in 17 Stunden und 19 Minuten. Die Gruppe profitierte von den perfekten Anschlüssen im Land, in dem laut SBB 91,9 Prozent aller Verbindungen pünktlich sind. Herausforderung für spielfreudige Doktoranden 2018 starteten ein deutscher und ein französischer Doktorand der EPFL die nächste Challenge. «Um den bestehenden Rekord zu brechen, mussten wir schweres Geschütz auffahren», erzählen Dirk Lauinger und Emmanuel Clédat. Die beiden Wissenschaftler setzten einen an ein geografisches Datensystem gekoppelten Algorithmus ein. Dieser schlug nach einer zehntägigen Berechnungszeit eine Reiseroute vor, die in 16 Stunden und 54 Minuten zu schaffen wäre. Die prakDie Schweiz hat das dichteste Schienennetz der Welt Immer schneller und häufiger fahren die Züge in der Schweiz. Sie bieten eine Rekordanzahl an Verbindungen. Das Netz, das seit 175 Jahren auf- und ausgebaut wird, prägt auch das Leben im Lande. Und skurrile Bähnler-Wettbewerbe rücken die Stärken der Eisenbahn ins Scheinwerferlicht. tische Umsetzung allerdings scheiterte an einer Reihe von Verspätungen. Zudem sah die Route eine Strecke von 3,7 Kilometern zwischen Schaffhausen und Thurgau vor, die mit dem PubliBike zu fahren wäre. Doch diese Velos waren ausser Betrieb. Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Unterwegs auf dem weltweit dichtesten Schienennetz. Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr.6 20 Reportage

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