Schweizer Revue 6/2022

gerade mal so: «In der Schweiz sieht der Fahrplan nicht vor, dass die Züge immer mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit fahren, was Raum lässt, um Verspätungen aufzuholen.» Der Zug als Büro Neue Technologien haben Züge in fahrende Büros verwandelt. «Eine tägliche Fahrt von eineinhalb Stunden ist akzeptabel, wenn man arbeiten kann», sagt Vincent Kaufmann, Professor für Mobilitätsanalyse an der EPFL. Für ihn persönlich stimme dies «aber nur mit einem Erstklass-Abonnement», ergänzt Pierre Dessemontet, Geograf und Studienkollege von Vincent Kaufmann. Die beiden Experten untersuchten den Einfluss der Zürcher S-Bahn auf die Zersiedelung. «In den 1990erJahren wurden die länger werdenden Fahrten im Alltag mit dem Auto gefahren, ab 2000 dann aber mit der Bahn», erläutert Vincent Kaufmann. Dass auch der Schienenverkehr zur Zersiedelung beiträgt, ist jedoch keine neue Erscheinung: «Auch im 19. Jahrhundert führte der Auf- und Ausbau des Das dichteste Netz der Welt Mit durchschnittlich 159 Zügen pro Tag und Strecke einschliesslich Güterverkehr ist das Schweizer Schienennetz das dichteste der Welt. Gemäss dem Verband öffentlicher Verkehr hat es sich von 2000 bis 2019 beinahe verdoppelt. Diese Entwicklung erreichte 2019 mit 21,7 Milliarden gefahrenen Schienenkilometern ihren Höhepunkt. Die Zahl der Generalabonnemente (unbegrenzte Fahrten auf dem gesamten Netz) belief sich im Oktober auf 406000, und es wurden 2,8 Millionen Halbtaxabonnemente verzeichnet. (SH) Tramnetzes zu einer Ausbreitung der Städte», ruft Pierre Dessemontet in Erinnerung. Anders als das Auto, das zu einer Zersiedelung in alle Richtungen führt, «hat die Bahn dieser Entwicklung jedoch einen Rahmen gesetzt, denn die Stadtentwicklung konzentrierte sich um die Bahnhöfe herum.» Die Bahn trennt Wohnen und Arbeiten Schnelle Bahnverbindungen fördern die Sesshaftigkeit. Statt zum Beispiel wegen der Arbeit gleich nach Bern zu ziehen, kann jemand ganz gut weiterhin in Lausanne wohnen. Die Umweltbilanz bleibt dabei intakt, denn die Züge verursachen bloss 0,2 Prozent der CO₂-Emissionen des Landverkehrs. Vincent Kaufmann befürchtet jedoch, dass die neue Sesshaftigkeit der Verständigungsfähigkeit im Lande zusetzt: «Früher bedingte ein Arbeitsplatz in Bern, dass man umzog und Deutsch oder Schweizerdeutsch lernte. Mit der Bahn rücken diese Erfordernisse, die ja auch Chancen und Bereicherungen sind, stärker in den Hintergrund.» Wer die beeindruckenden Zahlen zum Schweizer Schienennetz liest, zieht rasch falsche Schlüsse. Übers Ganze gesehen nimmt die Nutzung des Autos weiter zu: Nach wie vor findet keine massive Verlagerung vom motorisierten Individualverkehr hin zum öffentlichen Verkehr statt. GleichIn Pendlderzügen herrscht vielfach Bürostimmung: Der Zug ist für viele zum Arbeitsort geworden. Foto Keystone zeitig sind viele Züge während der Stosszeit überfüllt. «Die meisten dieser Fahrgäste sind Fernpendler. Es wäre also schwierig, in diesen Zügen auch noch alle unterzubringen, die heute aufs Auto setzen», folgert Vincent Kaufmann. Nach Schätzungen des Bundes dürfte die Nachfrage im Personenverkehr bis 2050 noch um 11 Prozent steigen. Mittlerweile hat die Corona-Pandemie jedoch zu veränderten Gewohnheiten geführt. «Es ist schwierig, die langfristigen strukturellen Auswirkungen der Pandemie, insbesondere auch im Bereich Telearbeit, vorauszusagen. Erst braucht es wieder einmal ein normales Jahr, aber da sind ja der Ukraine-Krieg, die Inflation, die Energiekrise», sagt der Geograf. Ende des Geleises in Scuol, der östlichsten Bahnstation der Schweiz. Hier endet auch die lange West-Ost-Traverse. Foto Stéphane Herzog Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr.6 22 Reportage

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