Schweizer Revue 6/2022

5 THEODORA PETER Wie die direkte Demokratie gehört die Neutralität zur Identität der Schweiz. Man mischt sich nicht in fremde Konflikte ein, hilft aber bei humanitären Krisen und bietet sich als Vermittlerin an. Dieses Rollenverständnis stiess in der Vergangenheit international auf ein zwiespältiges Echo. Zuspruch gab es für den Willen und die Bemühungen zur Friedensförderung, Kritik für das Abseitsstehen und Profitdenken – etwa während dem Zweiten Weltkrieg oder der Apartheid. Das helvetische Selbstbild der Unparteilichkeit steht erneut auf dem Prüfstand, seit Russland im Februar dieses Jahres in der Ukraine einmarschierte. Nach anfänglichem Zögern übernahm auch die Schweiz in nie dagewesenem Ausmass die harten Sanktionen der Europäischen Union (EU). «Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral», erklärte Bundespräsident Ignazio Cassis (FDP) nach demKriegsausbruch die Haltung des Bundesrates – und verwies dabei auf Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch Russland. Waffenlieferungen an die Ukraine schloss die Regierung hingegen explizit aus. Kaum ein anderes Land praktiziert die Neutralität so lange wie die Schweiz. Doch ist sie noch zeitgemäss? Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die politische Debatte dazu neu aufgeflammt. Früher oder später wird die Grundsatzfrage an der Urne entschieden. Denn als neutraler Staat darf die Schweiz gemäss dem Haager Abkommen von 1907 keine Kriegspartei bevorteilen. «Kooperative» und «aktive» Neutralität Zur Neutralität gab und gibt es im Lauf der Jahrhunderte verschiedene Konzepte und Begrifflichkeiten, wie der Historiker Marco Jorio in seinem Beitrag («Welche Neutralität?», Seite 7) illustriert. Zuletzt proklamierte Bundesrat Cassis im Mai am Weltwirtschaftsforum Davos die «kooperative Neutralität». An die Adresse der Weltöffentlichkeit gerichtet, unterstrich der Aussenminister, dass sich die Schweiz als neutrales Land sowohl für die eigenen wie auch für die gemeinsamen Grundwerte einsetze. «Deshalb steht die Schweiz mit den Ländern zusammen, die diesem Angriff auf die Grundfesten der Demokratie nicht tatenlos zuschauen.» Kooperativ sei die Schweiz darüber hinaus auch beim Engagement für eine «stabile Sicherheitsarchitektur», die nur multilateral entstehen könne. Damit warb Cassis für die Rolle der Schweiz In Europa herrscht Krieg – und die Schweiz ringt um ihre Neutralität. als neutrale und von allen Seiten akzeptierte Vermittlerin. Bereits die frühere Aussenministerin Micheline Calmy-Rey (SP) hatte während ihrer Amtszeit (2003−2011) den Begriff einer «aktiven Neutralität» geprägt. Das Land sei von einer «aus der Not geborenen Neutralität, die auf ihrem Sicherheitsbedürfnis beruhte, zu einer aktiven Neutralität übergegangen, die sich auf das Völkerrecht stützt», schreibt die alt Bundesrätin im 2020 erschienenen Buch «Die Neutralität. Zwischen Mythos und Vorbild». Gar als Paradigmenwechsel bezeichnet Calmy-Rey darin den Beitritt der Schweiz zu den Vereinten Nationen im Jahr 2002 sowie die 2011 vomBundesrat beschlossene Kandidatur für einen nicht ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat. Diese Aufgabe wird die Schweiz erstmals in den Jahren 2023/2024 übernehmen. Christoph Blocher lanciert Idee einer Neutralitäts-Initiative Gar nicht einverstanden mit der aktiven Weiterentwicklung der Schweizer Neutralität ist die SVP. Insbesondere die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland kommt für die Partei Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr.6

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