einem «Bruch der Neutralität» gleich. Die Schweiz sei aus «purem Opportunismus» selber zur Kriegspartei geworden und habe deshalb ihre Glaubwürdigkeit als Vermittlerin verloren, kritisiert SVP-Doyen Christoph Blocher. Um zu verhindern, dass das Land künftig «in Kriege hineingezogen wird», hat Blocher zusammen mit Mitstreitern eine Volksinitiative lanciert. Sie soll nicht nur die «umfassende, immerwährende und bewaffnete Neutralität» in der Bundesverfassung verankern, sondern auch festschreiben, dass die Schweiz weder Sanktionen gegen kriegsführende Staaten ergreifen noch einem Verteidigungsbündnis beitreten darf. Am 8. November 2022 wurde die Unterschriftensammlung für die Initiative gestartet. Bislang ist die Neutralität in der Bundesverfassung nur rudimentär beschrieben. Parlament und Bundesrat sind demnach dazu verpflichtet, «Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz» zu treffen. Zur Aussenpolitik schreibt die Verfassung vor, dass sich der Bund für die «Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt» einsetzt und zur «Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen» beiträgt. Diese Formulierungen lassen einen erheblichen politischen Spielraum zu, den Blocher mit einem zusätzlichen Neutralitätsartikel beschränken möchte. Internationale Zusammenarbeit ausbauen Bis das Stimmvolk an der Urne über eine allfällige Ergänzung der Bundesverfassung befinden wird, dürften noch ein paar Jahre vergehen. Doch mit der Lancierung der Unterschriftensammlung hat die SVP das Thema Neutralität auf die politische Agenda des eidgenössischen Wahljahres 2023 gesetzt. Aktiv unterstützt wird die Initiative von der Vereinigung «Pro Schweiz», die sich als Nachfolgeorganisation der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) den Kampf gegen jegliche Annäherung der Schweiz an die EU auf die Fahne geschrieben hat. Die übrigen politischen Parteien erachten das Neutralitätsverständnis der SVP als überholt. Angesichts des Ukraine-Kriegs brauche es statt Isolation mehr internationale Zusammenarbeit, so der Tenor. Die FDP schliesst auch eine Annäherung an die Nato nicht aus. Im Raum steht zudem eine Forderung nach Lockerung der strengen Regeln zum Export von Schweizer Kriegsmaterial. Zwar steht eine Lieferung von Waffen direkt an eine Kriegspartei ausser Frage. Doch erachten es bürgerliche Parlamentarier als stossend, wenn zum Beispiel Länder wie Deutschland in der Schweiz gekaufte Panzermunition nicht an die Ukraine weitergeben dürfen. Eine Kommission des Ständerates prüft nun Ausnahmen vom sogenannten Wiederausfuhrverbot. Dieses dient im Normalfall dazu, dass Schweizer Waffen nicht über Umwege in «falsche» Hände geraten. Auch eine Frage der Solidarität Der Bundesrat hält an seiner bisherigen Neutralitätspolitik fest, wie er zuWelche Neutralität? MARCO JORIO «Es kommt niemand mehr draus», rief der Moderator während einer politischen Diskussionssendung im Schweizer Fernsehen zur Neutralität schon fast verzweifelt aus, als die Politikerinnen und Politiker in der Runde mit Adjektiven gespickte Neutralitätskonzepte um sich warfen. Auch in der öffentlichen Debatte gehen Begriffe wie «integrale», «differenzielle», «kooperative» Neutralität wild durcheinander. Die Liste solcher Adjektiv-Neutralitäten belegt, dass Neutralität kein feststehendes Konzept ist. «Die Neutralität färbt sich je nach Entwicklung der Ereignisse», meinte schon während des Zweiten Weltkriegs Aussenminister Marcel Pilet-Golaz. Zwar gibt es seit 1907 ein international vereinbartes Neutralitätsrecht, aber dieses legt nur einige wenige Grundsätze über die Pflichten und Rechte des Neutralen im Krieg fest. Darum herum entwickelte sich die Neutralitätspolitik, die jeder neutrale Staat in eigener Verantwortung in Friedens- und Kriegszeiten betreibt, um seiner Neutralität Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Diese ist noch offener als das Neutralitätsrecht. Unter den verschiedenen «Neutralitäten» gibt es einerseits die «immerwährende» Neutralität, wie sie die Schweiz seit 400 Jahren praktiziert, andererseits die «gelegentliche» Neutralität, die nur in einem präzisen Krieg verfolgt und von fast allen Staaten in fast allen Kriegen angewendet wird. Die Neutralität kann bewaffnet (Schweiz, Österreich) oder unbewaffnet sein (Costa Rica); sie kann völkerrechtlich anerkannt sein (Schweiz, Österreich) oder als selbst gewählte Praxis ohne völkerrechtliche Anerkennung umgesetzt werden (Irland). Aber auch die von der Schweiz praktizierte immerwährende, bewaffnete und seit 1815 völkerrechtlich anerkannte Neutralität wandelte sich. Bis zum Ersten Weltkrieg war Neutralität ausschliesslich militärisch konnotiert. Im Ersten Weltkrieg führten die beiden Kriegsparteien Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr.6 6 Schwerpunkt
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