«Die Neutralität der Schweiz». Publikation EDA 2022 revue.link/neutralitaet «Die Neutralität. Zwischen Mythos und Vorbild». Micheline Calmy-Rey. NZZ Libro (2020) einen unbarmherzigen Wirtschaftskrieg, in den auch die Neutralen gegen ihren Willen einbezogen wurden. Die Schweiz musste praktisch den ganzen Aussenhandel der Kontrolle der beiden Kriegsallianzen unterstellen. Damals kam der Begriff der wirtschaftlichen Neutralität auf. Nach dem Krieg trat die Schweiz dem Völkerbund bei. Die Schweiz war aber nicht bereit, auf die militärische Neutralität zu verzichten. Nach zähen Verhandlungen wurde ihr in der Londoner Erklärung von 1920 zugestanden, dass sie keine militärischen, wohl aber wirtschaftliche Sanktionen übernehmen musste. Diese Spielart der Neutralität wurde nun «differenzielle Neutralität» genannt. Als sich in den 1930er-Jahren herausstellte, dass der Völkerbund nicht in der Lage war, den Weltfrieden zu bewahren, distanzierte sich die Schweiz 1938 mit dem Schlagwort «Rückkehr zur integralen Neutralität» vom Völkerbund. Sie erhielt vom Völkerbund das Zugeständnis, nicht mehr an die Sanktionen des Völkerbunds gebunden zu sein. Diese «integrale Neutralität» verfolgte die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs, wobei sie diese starre und sehr formaljuristische Haltung seit den 1960er-Jahren sukzessive aufweichte. So trat die Schweiz dem Europarat bei, verfolgte eine idealistische Menschenrechtspolitik und nahm aktiv an den Verhandlungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa teil (KSZE, heute OSZE). Seit dem Beitritt der Schweiz zur UNO vor zwanzig Jahren verfolgt die Schweiz wieder eine Art «differenzielle Neutralität». Im Unterschied zu 1920 wurde der Schweiz beim Beitritt zur UNO formell kein neutraler Status zugestanden. Die Schweiz hat aber einseitig deklariert, an ihrer Neutralität festhalten zu wollen. Nun schränkt die UNO-Charta die Neutralität ein und verpflichtet die Schweiz, von der UNO verhängte Sanktionen zu übernehmen. Aber zusätzlich sieht die Schweiz in ihrem eigenen Sanktionsgesetz von 2002 vor, auch Sanktionen, welche die OSZE und die wichtigsten Handelspartner verfügt haben, zu folgen, wie dies jetzt mit den EU-Sanktionen gegen den Aggressor Russland geschehen ist. Ob die von Bundespräsident Cassis jüngst in die Welt gesetzte «kooperative Neutralität» je Realität wird, steht noch in den Sternen. Neutralität im «Historischen Lexikon der Schweiz»: revue.link/neutral Dr. h.c. Marco Jorio ist Historiker (Fachgebiete Neuere Geschichte und Schweizergeschichte). Er war während 30 Jahren Projektleiter und Chefredaktor des «Historischen Lexikons der Schweiz». In Bälde wird eine von ihm verfasste Neutralitätsgeschichte erscheinen. letzt im Herbst bekräftigte. Insbesondere betrachtet die Regierung die jüngste Übernahme von EU-Sanktionen gegen Russland als vereinbar mit der Neutralität. Darüber hinaus will der Bundesrat in Sicherheits- und Verteidigungsfragen stärker mit dem Ausland kooperieren – sowohl mit der EU wie mit der Nato. Zwar schliesst Verteidigungsministerin Viola Amherd (Mitte) einen Nato-Beitritt kategorisch aus, doch soll die Schweizer Armee zum Beispiel an Verteidigungsübungen des Militärbündnisses teilnehmen können. «Wir dürfen nicht einfach nur Trittbrettfahrer sein», betonte Amherd in einem Zeitungsinterview. Die Schweiz brauche Partnerschaften, um im Ernstfall auf eine Unterstützung zählen zu können. Solche Kooperationen seien stets «ein Geben und ein Nehmen». Und letztlich ist es auch eine Frage der Solidarität, zur Stabilität auf dem Kontinent beizutragen. Angesichts eines Kriegs mitten in Europa sind auch in der Schweiz bisherige Gewissheiten von dauerhaftem Frieden und Wohlstand ins Wanken geraten. In einer instabilen Welt muss die neutrale Schweiz ihren Platz neu finden. Cartoon: Max Spring Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr.6 7
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