JANUAR 2023 Schweizer Revue Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Im Schatten des Krieges setzt die Schweiz auf die Kraft der Sonne Brienzersee: Wie aus einem eher trüben Gewässer der wohl sauberste See der Schweiz wurde Vor den Wahlen 2023 steigt das Interesse der politischen Parteien an der Fünften Schweiz
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Kennen Sie die «Banane» der Ingenieurschule Biel? Sie war keine Frucht. Sie war ein bananenförmiges, bananengelbes Rennsolarmobil, Baujahr 1985. Daher ihr Übername. Als Kraftquelle nutzte sie nichts ausser der direkt einstrahlenden Sonne. Ansonsten war der fragil wirkende Flitzer primär eine Art utopische Seifenkiste mit Sinn für günstiges Bastelmaterial: Fürs Fahrgestell wurden alte Alu-Skistöcke aus den Beständen der Schweizer Armee rezykliert. Schön war die «Banane» nicht. Aber schnell. Am Langstreckenrennen von 1985 quer durch die ganze Schweiz lag sie am Schluss direkt hinter dem Sieger Mercedes. 1986 waren die Bieler bereits nicht mehr zu schlagen. Mit einem weiterentwickelten Fahrzeug wurden sie erste offizielle Rennsolarmobil-Weltmeister. Und am längsten und härtesten Rennen für Solarmobile – quer durch Australien – erreichten die Bieler 1990 den Zenit: Mit ihrem Fahrzeug «Spirit of Biel II» deklassierten sie den haushohen Favoriten Honda und alle anderen angetretenen Hightech-Konzerne. Die Sonne meinte es oft gut mit den Bielern. Allein 1996 sammelten sie zehn Geschwindigkeits- und Distanzweltrekorde. Mit einer 161 km/h schnellen Fahrt stellten sie damals den bisherigen Rekord von General Motors in den Schatten. Warum dieser Blick zurück? Weil er die Frage zulässt, warum sich die Solar-Pioniernation von damals heute in Sachen Solarenergienutzung nur im hinteren europäischen Mittelfeld bewegt. Der Bieler Spirit trug Lorbeeren ein. Er leitete aber keine grosse energiepolitische Wende ein. Eine solche Wende beschloss das Schweizer Parlament im September 2022. Es entschied, dass in der Schweiz nun sehr rasch auch grosse Solarkraftwerke in den Alpen gebaut werden dürfen. Die Triebkraft war nicht die Utopie, sondern die Angst. Wegen des Krieges in der Ukraine ist Energieversorgung auch in der Schweiz unsicher geworden – und die Energiepreise stiegen in der Folge enorm. Wenig überraschend steckt in der neuen Schweizer Solaroffensive ein innerer Konflikt, denn sie wiegt Naturgüter gegeneinander auf: mehr Energie aus natürlichen Quellen, dafür weniger Schutz der natürlichen Berglandschaften. Wir zeichnen dies in unserem Schwerpunkt nach (ab Seite 4). Zur «Spirit of Biel» liefern wir Ihnen unter revue.link/spirit noch ein paar nostalgische Bilder. Gut 30-jährige Bilder aus einer Zeit, als der Durchbruch der Solarenergie in der Schweiz zum Greifen nahe schien. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Die Schweiz macht nun Tempo bei der Produktion von Solarstrom 9 Nachrichten Bundesratswahlen 2022: Einmal mehr viel Stabilität und nur dezenter Wandel 10 Reportage Das Beispiel Brienzersee: einst gut gedüngt und heute fast allzu sauber ... 13 Wirtschaft Kampf um den Kaffee: Die Migros fordert Marktführer Nespresso heraus 14 Natur und Umwelt Die Kastanie erlebt ihr Revival als Schweizer Kulturgut Nachrichten aus Ihrer Region 17 Schweizer Zahlen 18 Politik Was blieb von den Wahlen 2019? Der Politikwissenschafter blickt zurück Die Schweizer Parteien reagieren aufs wachsende Gewicht der Fünften Schweiz 22 Literatur 24 Aus dem Bundeshaus Wie das EDA die Senior:innen in der Fünften Schweiz sensibilisieren will 27 SwissCommunity-News Der Auslandschweizerrat bezieht Position zur Schweizer Neutralität 30 Diskurs Die schnelle Banane Titelbild: Solarmonteuere auf dem Dach der Turnhalle von Sevelen, St. Gallen. Archivbild Keystone (2011) Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 3 Editorial Inhalt
STÉPHANE HERZOG Die Schweizer Fachleute im Bereich der Fotovoltaik können es kaum fassen. Seit der Invasion Russlands in die Ukraine erlebt die Branche einen markanten Boom, die Bestellbücher sind voll. Die Solar-Unternehmen werden von Aufträgen geradezu überschwemmt. «Gegenüber 2021 haben wir unser Personal verdoppelt», sagt etwa Yvan Laterza, Inhaber von I-Watt, einem kleinen Unternehmen mit Sitz in Martigny (VS). Und Jean-Louis Scartezzini, Leiter des Labors für Solarenergie und Gebäudephysik der EPFL, spricht von einer Zeitenwende: «Vor vierzig Jahren waren wir die Prediger in der Wüste. Jetzt sind die BeMit Fotovoltaik deckt die Schweiz rund sechs Prozent ihres Stromverbrauchs. Im europäischen Vergleich ein nur mittelmässiger Wert. Doch der Ukraine-Krieg wirkte wie ein Stromschlag. Vielerorts wird auf Solarprojekte gesetzt, auch in den Alpen. Mit ihnen nimmt aber auch die Polemik zu. dingungen für erneuerbare Energien und insbesondere für die Fotovoltaik günstig.» Der Ingenieur beschreibt eine Schweiz, die zwischen 1985 und 1995 im Bereich Solarenergie führend war, sich dann aber auf ihren Lorbeeren ausruhte und die Ausbildung von Fachleuten auf diesem Gebiet vernachlässigte. Stéphane Genoud, Professor für Energiemanagement an der HES-SO Valais–Wallis, bedauert diesen Rückstand. «Die Gesetzgebung in Europa schreibt Sonnenkollektoren auf allen Neubauten vor. Diese Pflicht dürfte bald auch auf bestehende Gebäude ausgedehnt werden», sagt er. Auch im politischen Diskurs ist von Vom Krieg geweckt, hofft die Schweiz auf Solarstrom aus den Alpen Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 Schwerpunkt 4
5 Fassaden installiert werden. Dabei werden die raumplanerischen und umweltschützerischen Prioritäten neu gewichtet: Der Zubau neuer Solaranlagen hat grundsätzlich Vorrang, die nationalen, regionalen und lokalen Schutzinteressen verlieren an Gewicht. Das dringliche Bundesgesetz hat zumindest im Wallis bereits zu heftigen Debatten geführt, denn hier manifestiert sich die Solaroffensive am deutlichsten: Propagiert wird ein alpines Super-Solarkraftwerk bei Grengiols (siehe Zusatzbeitrag Seite 6). Für die grüne Walliser Kantonspolitikerin Céline Dessimoz sind die gefallenen Beschlüsse Ausdruck einer gewissen Hysterie. «Das Parlament fällt von einem Extrem ins andere und foutiert sich um die hart erarbeiteten Raumplanungs- und Umweltschutzgesetze», kritisiert sie. Als Umweltschützerin ist sie der Ansicht, dass die Installation von Sonnenkollektoren auf Alpweiden reinem Kommerzdenken folgt. «Die Gemeinden haben das Potenzial solcher Projekte erkannt – und alles muss jetzt schnell gehen. Die Fotovoltaik sollte aber nicht auf Kosten der Landschaft und der Biodiversität forciert werden.» Diese Ansicht löst bei Jacques Bourgeois ein Lächeln aus. «Erst fordert man den Ausstieg aus der Atomkraft, und wenn diese Möglichkeit dann besteht, ist man dagegen», sagt er. Für den FDP-Politiker gehen die durch das dringliche Bundesgesetz ermöglichten Alpenprojekte in die richtige reich, aber auch von deutschem Strom, für dessen Herstellung teilweise russisches Erdgas eingesetzt wird. Als kollaterale Kriegsfolge schossen die Strompreise auch in der Schweiz in die Höhe, teils um mehr als 30 Prozent. Nach 20 Jahren stabiler Preise müssen etwa die Stromkunden im Zentralwallis statt wie bisher 20 Rappen pro Kilowattstunde nun 28 Rappen hinlegen, rechnet Arnaud Zufferey vor, dessen Büro Gemeinden bei der Energiewende berät. Alles beschleunige sich, «aber eigentlich war Solarstrom schon vor fünf Jahren rentabel», betont er. Sein Haus hat Zufferey mit Solarpanels ausgestattet. Der so erzeugte Strom kostet 15 Rappen/kWh und betreibt ein Elektroauto. Ein 10 Quadratmeter grosses Solarpanel liefert genug Strom für 10 000 Kilometer Fahrt pro Jahr, hält er fest. Bundesparlament forciert Solarenergie Mit der Annahme eines dringlichen Bundesgesetzes Ende September 2022, das den Bau grosser Solaranlagen in den Alpen ermöglicht, setzte das Schweizer Parlament ein starkes Zeichen. Anlagen mit einer Jahresproduktion von mehr als 10 Gigawattstunden werden von vereinfachten Planungsverfahren profitieren können und vom Bund finanziell unterstützt. Und bei Neubauten mit einer Fläche von mehr als 300 m2 muss eine Solaranlage auf dem Dach oder an den Mängeln die Rede: «Wir haben hier die Kurve tatsächlich etwas langsam gekriegt», räumt etwa Nationalrat Jacques Bourgeois (FDP, FR) ein und verweist auf Süddeutschland, wo die Fotovoltaik bestens etabliert ist. Der neue Solarboom wurde unter anderem auch von Bundesrat Guy Parmelin angestossen. Gestützt auf einen Bericht über die Stromversorgungssicherheit im Lande warnte er im September 2021 vor einer möglichen Stromknappheit – und löste damit eine mittlere Panik aus. Die Invasion in die Ukraine verdeutlichte schliesslich die enorme Energieabhängigkeit der Schweiz – insbesondere von Nuklearstrom aus FrankDie Solaroffensive der Schweiz ermöglicht neu den Bau grosser Fotovoltaikanlagen ausserhalb der Bauzonen, etwa in alpinen Höhenlagen. Foto iStock Die Auftragsbücher der Schweizer Solarfirmen sind prallvoll, doch es fehlt an Personal: In der Branche ist der Fachkräftemangel enorm. Foto Keystone Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1
Eine Kolumne in einer Lokalzeitung lanciert den Traum eines Solarkraftwerkprojekts in den Walliser Alpen. Ihr Verfasser? Der Politiker Peter Bodenmann, der frühere Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (1987–1997). Der im Februar 2022 im «Walliser Boten» unter dem Titel «Make Grengiols Great Again!» veröffentlichte Text präsentierte die Idee eines Solarkraftwerks, das eine Milliarde Kilowattstunden generieren könne – und dies insbesondere im Winter. Konkret: Die Alpweiden von Grengiols, im Naturpark Binntal gelegen, sollten auf einer Fläche von 700 Fussballfeldern mit Solarpanels ausgestattet werden. Das von der Gemeinde Grengiols unterstützte Projekt würde den Strombedarf von mindestens 100000 Einwohnern abdecken. Vorteil: Die Effizienz der Panels wäre dank der Höhenlage und idealen Sonneneinstrahlung gross. Das Super-Solarkraftwerk von Grengiols hängig. «Zwar ist es möglich, riesige Anlagen in unberührten Gegenden zu bauen, aber auf politischer Ebene ist man nicht fähig, die Installation von Solarpanels auf Dächern, Parkhäusern oder Autobahnen vorzuschreiben», bedauert Clivaz. Im Gespräch mit Peter Bodenmann in seinem Hotel wischt dieser die Argumente beiseite. Berechnungen der Fachhochschule Westschweiz und der Universität Genf zufolge soll der Stromtransport von Grengiols ins Tal technische Probleme verursachen? «Diese Leute sind nicht informiert», antwortet Bodenmann. Die Umweltauswirkungen? «Die Kollektoren werden die Biodiversität fördern, indem sie geschützte Wärmezonen schaffen. Wir haben ein Problem im Winter. Aber genau im Winter produzieren Panels, die in hohen Lagen installiert sind, viermal mehr Energie als im Tiefland», sagt Bodenmann. (SH) Richtung. «In Höhenlagen verdoppelt sich der Ertrag von Sonnenkollektoren», argumentiert er. Solarpanels auf Zügen und Autobahnen Für den Ingenieur und EPFL-Professor Jean-Louis Scartezzini sollten Solarpanels freilich in allererster Linie auf Autobahnen, Dächern und Zügen installiert werden, denn dies seien Flächen, die bereits ans Stromnetz angeschlossen sind und sich in Verbrauchernähe befinden. Er verweist dabei auf das 850 km2 grosse Strassennetz der Schweiz und die Dachflächen, die 500 km2 ausmachen. Aber auch er findet, dass ein Gleichgewicht zwischen Energieproduktion und Umweltschutz gefunden werden muss. «Seit 1990 hat die Schweiz zwei Drittel der Insektenmasse verloren, mit unabsehbaren Folgen für die Biodiversität und das Leben im Allgemeinen. Das darf nicht ausser Acht gelassen werden.» Die Umwandlung von Alpweiden in Solaranlagen würde somit ein im Vergleich mit den Zielen unverhältnismässig hohes Risiko darstellen. «Die Anlage könnte sofort realisiert werden», erklärte der Walliser CVPStänderat Beat Rieder gegenüber der Presse. Er hatte Peter Bodenmanns Idee nach Bern getragen, was im September im Parlament in Rekordzeit zu den Beschlüssen zugunsten der Solarenergie führte. Doch das Projekt löste Wellen der Opposition von Umweltschutzorganisationen aus, etwa der Fondation Franz Weber. Aber selbst die Akademien der Wissenschaften Schweiz riefen zu Zurückhaltung auf. Der Walliser Nationalrat Christophe Clivaz (Grüne) kritisiert, dass hier ein Projekt ohne vorherige Machbarkeitsstudie gestartet werde. Er sagt, der Transport des erzeugten Solarstroms ins Tal könne gar nicht in der im dringlichen Bundesgesetz festgelegten Frist realisiert werden. Gemäss Gesetz ist die Finanzierung jedoch von einer Betriebsaufnahme bis 2025 abDie alpine Landschaft bei Grengiols heute (linkes Bild) – und die Visualisierung der Projektidee durch die IG Saflischtal. Sie steht dem Ansinnen kritisch gegenüber. Bildmaterial IG Saflischtal «Vor vierzig Jahren waren wir die Prediger in der Wüste. Jetzt sind die Bedingungen für erneuerbare Energien und insbesondere für die Fotovoltaik günstig.» Jean-Louis Scartezzini Ingenieur und EPFL-Professor Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 6 Schwerpunkt
Die Entwicklung der Schweizer Solarenergie verläuft so steil wie die Alpen Wenn sich die Fotovoltaik im jetzigen Tempo weiterentwickelt, könnten die für 2050 festgelegten Klimaziele erreicht werden. Der Preis der Paneele sinkt, ihre Leistung steigt. Und im Winter bietet sich die Windkraft als Ergänzung an. Die Solarstromproduktion in der Schweiz beträgt rund 3 Terawattstunden (TWh), also etwas mehr als die Jahresproduktion des (stillgelegten) Kernkraftwerks Mühleberg (BE). Dies entspricht ungefähr 6 Prozent des schweizerischen Stromverbrauchs, ein im europäischen Vergleich nur mittelmässiger Anteil. Nach Schätzung von Swissolar könnten die Dächer und Fassaden der Gebäude in der Schweiz in Zukunft 67 Terawattstunden pro Jahr an Solarstrom generieren. Im Jahr 2021 wurden 700 Megawatt (MW) an Strom aus Fotovoltaik produziert. 2022 dürfte ein Rekordwert von 1000 MW erzielt werden, schätzt Jean-Louis Scartezzini, Professor an der EPFL. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, könnte das vom Bund für die Solarenergie gesetzte Ziel von 34 Terawattstunden bis 2050 erreicht werden, schätzt Scartezzini. Derzeit beträgt der Gesamtstromverbrauch 58 TWh, wovon 18 TWh durch Kernenergie und 10 TWh durch die grossen Walliser Wasserkraftwerke generiert werden. Die für den Ausbau der Solarenergie bestimmenden Faktoren sind die Effizienz und der Preis der Solarpaneele. Innerhalb von zwölf Jahren ist ihr Preis um über 90 Prozent gesunken, während sich die Effizienz innerhalb von 30 Jahren verdoppelt hat. Eine Studie der EPFL hat gezeigt, dass nur schon die Nutzung von Süddachflächen über 40 Prozent des Strombedarfs decken könnte. Der Ausbau der Solarenergie wird zuerst über die Installation grossflächiger Solarkraftwerke umgesetzt. «Je grösser, umso günstiger», fasst der Walliser Ingenieur Arnaud Zufferey zusammen. Der Einstandspreis pro Kilowattstunde, die auf einem grossen Dach generiert wird, schwankt zwischen drei und fünf Rappen. Bei einer Villa ist er dreimal höher. Ein Panel und viele Meinungen Seit der zweiten Revision des Raumplanungsgesetzes 2018 muss lediglich ein Anmeldeformular für die Installation von Sonnenkollektoren ausgefüllt werden. Demgegenüber erfordert die Installation von Panels ausserhalb von Bauzonen und Gebäuden viel Zeit, denn dafür gibt es keine klaren gesetzlichen Grundlagen. Aber gerade hier hat das Parlament nun Lockerungen beschlossen. Yvan Laterza plant in seinem Solarunternehmen in Martigny rund 20 Stunden für die rechtlichen Formalitäten im Hinblick auf eine Solarinstallation ein. «Die Feuerwehr und sogar die Kaminfeger können Dokumente verlangen, und diese erst noch auf Papier – ein grosser Zeitaufwand», meint er. Der selbstständige Genfer Ingenieur François Guisan weist auf die Einschränkungen hin, die sich aus dem Schutz des Kulturerbes ergeben. Diese können Gebäude betreffen, die in den 1960er-Jahren gebaut wurden. Die Cousine der Solarenergie: die Windkraft Nebst der Solarenergie gibt es auch die Windkraft, die im Winter, wenn die Fotovoltaikproduktion zurückgeht, mehr Energie liefert. «In Österreich gibt es über 1400 Windturbinen, in der Schweiz rund 40, obwohl die Topografie dieser Länder sehr ähnlich ist», meint Jean-Louis Scartezzini. Gemäss einer Studie des Bundesamtes für Energie liegt das Potenzial der Windenergie in der Schweiz bei geschätzten 5 TWh pro Jahr. «Der aktuelle gesetzliche Rahmen ermöglicht aber auch die Installation von Windturbinen in Wäldern, womit dieser Wert nach oben korrigiert wurde» und jetzt bei 30 TWh liegt. (SH) In der Schweiz würde alleine auf die südlich ausgerichteten Dachflächen genug Energie einstrahlen, um 40 Prozent des Strombedarfs zu decken. Aber auch Fassaden werden vermehrt genutzt, wie hier in Winterthur. Foto Keystone Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 7
Kanton Basel-Stadt wird zum Klima-Pionier Der Kanton Basel-Stadt will bis im Jahr 2037 klimaneutral werden, also netto null Treibhausgas ausstossen. Das hat die Stimmbevölkerung des Stadtkantons im November 2022 an der Urne entschieden. Basel-Stadt wird damit zum Klima-Pionier: Es ist dies das ehrgeizigste Ziel, das in der Schweiz bisher auf politischer Ebene beschlossen wurde. Auf nationaler Ebene wird das Jahr 2050 anvisiert. Die Stadt Zürich beispielsweise will bis 2040 klimaneutral werden, Bern bis 2045. (MUL) Bundesrat verlängert den Schutzstatus S Weil mit einem raschen Ende des Krieges in der Ukraine nicht zu rechnen ist, verlängert der Bundesrat den Schutzstatus S für Schutzsuchende aus der Ukraine. Anfänglich wurde beschlossen, den Geflüchteten während eines Jahres Schutz und Unterstützung zu gewähren, also bis im März 2023. Nun werden die Unterstützungsmassnahmen aber um ein Jahr verlängert. (MUL) Bundesbahnen mit Millionenverlusten Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) produzieren einen grossen Teil des benötigten Stroms mit eigenen Wasserkraftwerken. Wegen extremer Trockenheit mussten die SBB heuer aber Strom in grossen Mengen zukaufen und rechnen nun für 2022 mit einem Verlust von 180 Millionen Franken. Die wegen dem Krieg in der Ukraine stark gestiegenen Energiepreise schlagen somit voll auf das Bahnunternehmen durch. (MUL) Walliser Ja zur Sterbehilfe in Altersheimen Begleitetes Sterben, der sogenannte assistierte Suizid, ist in der Schweiz erlaubt. Im katholisch und konservativ geprägten Kanton Wallis liessen ihn viele Alters- und Pflegeheime aber nicht zu. Ein kantonaler Volksentscheid korrigiert dies nun. Gut 75 Prozent der Stimmenden sagten Ja zum Ansinnen, künftig begleitetes Sterben in allen Walliser Alters- und Pflegeheimen zu ermöglichen. (MUL) Grünliberale werben für den EWR Das ungeklärte, vertragslose und deshalb zunehmend getrübte Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) lässt den Ruf nach alternativen Wegen laut werden. So propagierte etwa die Grünliberale Partei (GLP) im Dezember den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Zur Erinnerung: Die Schweiz sprach sich 1992 sehr knapp gegen einen EWR-Beitritt aus. Die GLP argumentiert, die Nicht-EU-Länder Norwegen, Island und Liechtenstein lebten mit ihrer EWR-Mitgliedschaft hervorragend. Die Schweiz hingegen komme bei ihren Nachverhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU nicht vom Fleck und verheddere sich in Details. Der Beitritt zum EWR hingegen böte der Schweiz eine rasche und langfristig stabile Lösung, argumentiert die GLP: Er sei ausgehandelt und decke über die Bilateralen hinaus den ganzen Binnenmarkt ab. Offen ist, ob die Schweiz im EWR überhaupt willkommen wäre. (MUL) Julia Steinberger Letzten Herbst blockierten Aktivistinnen und Aktivisten zehn vielbefahrene Strassen in Schweizer Städten. «Renovate Switzerland» nennt sich die Bewegung. Sie fordert, mehr Gebäude energetisch zu sanieren. Das sei ein rasch umsetzbarer Beitrag zum Klimaschutz. Mit der Aktion wollte sie darauf aufmerksammachen. In Bern setzte sich auch eine international anerkannte Klimawissenschaftlerin in oranger Signalweste auf die Autobahn: Julia Steinberger, Professorin für ökologische Ökonomie an der Universität Lausanne. «Die Bewohnbarkeit unseres Planeten wird vor unseren Augen zerstört», sagte die 48-Jährige, «wir müssen alles tun, um unsere Zukunft zu retten.» Als die Polizei kam, klebte Steinberger ihre Hand an den Asphalt. Dann liess sie sich unsanft wegtragen. Eine halbe Stunde dauerte die nicht ungefährliche Blockade, viel länger die Aufregung danach. Das war zwar einkalkuliert. Doch in der Politik stiess das radikale Verhalten der Wissenschaftlerin teilweise auf harsche Kritik. Es zieme sich nicht für eine Staatsangestellte. Auch die Medien fragten: Gehören Forschung und Aktivismus nicht getrennt? Steinbergers Antwort: Daten habe die Wissenschaft längst genug geliefert. Die gebürtige Genferin arbeitete selber am Bericht mit, den der «Intergovernmental Panel on Climate Change» (IPCC) 2022 publizierte. All die Hinweise der Forschung hätten nicht genug bewirkt, stellt sie fest. Jetzt brauche es andere Formen, damit die Leute die Dringlichkeit realisierten. «Gewaltfreien zivilen Protest» hält sie für legitim. Die Universität Lausanne verbietet ihrer Dozentin den Protest nicht. So wurde Professorin Julia Steinberger zum ernsten Gesicht der Klimabewegung in der Schweiz. SUSANNE WENGER Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 8 Herausgepickt Nachrichten
9 Ende letzten Jahres besetzte das Parlament gleich zwei Sitze im siebenköpfigen Bundesrat neu. Denn die beiden amtsältesten Regierungsmitglieder hatten zuvor ihren Rücktritt erklärt: der Zürcher Ueli Maurer von der rechtskonservativen SVP und die Bernerin Simonetta Sommaruga von der Sozialdemokratischen Partei SP. Zu Maurers Nachfolger wählte das Parlament den Berner Nationalrat und ehemaligen SVP-Parteipräsidenten Albert Rösti. Zu Sommarugas Nachfolgerin bestimmte es die jurassische Ständerätin Elisabeth Baume-Schneider, die frühere Bildungsdirektorin des Kantons Jura. Damit änderte sich nichts an der parteipolitischen Zusammensetzung der Landesregierung mit ihrer bürgerlichen Mehrheit. Traditionell sind darin die wählerstärksten Kräfte rechts, links und in der politischen Mitte vertreten, um gemeinsam die Geschicke des Landes zu lenken und nach austarierten Lösungen zu suchen. Die Schweiz kennt kein System von Mehrheit und Opposition. Die beiden Neugewählten gehörten zu den von ihren Parteien vorgeschlagenen Kandidaturen, wenn auch die Wahl Elisabeth Baume-Schneiders überraschend kam. Nach wie vor sitzen drei Frauen und vier Männer im Bundesrat. Deutschschweiz und urbane Schweiz sind untervertreten Während die Ersatzwahl also insgesamt von Stabilität geprägt war, finden sich doch auch Besonderheiten. Der Randkanton Jura, jüngstes Mitglied der Eidgenossenschaft, ist zu seiner grossen Freude erstmals überhaupt in der Regierung vertreten. Und in dieser besteht jetzt eine lateinische Mehrheit: Drei Romands und ein Tessiner stehen drei Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern gegenüber. Eine ähnliche Konstellation gab es erst einmal in der Geschichte des 175-jährigen Bundesstaats, und dies nur kurz, von 1917 bis 1919. Kritische Stimmen forderten, die lateinische Mehrheit dürfe auch jetzt nur vorübergehend sein. Weil 70 Prozent der Bevölkerung in der Deutschschweiz lebten, sei diese jetzt stark untervertreten. Tatsächlich schreibt die Verfassung eine angemessene Vertretung der Sprachregionen vor. Ebenfalls für kontroverse Diskussionen sorgte der Umstand, dass die grösseren Städte nicht mehr im Bundesrat vertreten sind. Die Linke verliert ein Schlüsseldepartement Der neue SVP-Bundesrat Rösti übernahm das frei werdende Departement für Umwelt, Verkehr und Energie. Damit verlor die Linke dieses Schlüsseldepartement, das bis anhin von Simonetta Sommaruga geleitet wurde, an die Bürgerlichen. Die neue SP-Bundesrätin Baume-Schneider steht dem Justiz- und Polizeidepartement vor und ist damit für die Asylpolitik zuständig. Dieses Departement wurde frei, weil die bisherige FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter ins Finanzdepartement wechselte. Die anderen Bundesratsmitglieder behielten ihre Departemente. Ob im Bundesrat alles genau so bleibt, zeigt sich schon dieses Jahr. Nach den nationalen Wahlen vom Herbst erfolgt im Dezember die Gesamterneuerungswahl der Regierung durch das neue Parlament. Je nach Abschneiden der Parteien – und je nachdem, ob es allenfalls einen weiteren Rücktritt gibt – könnte wieder Bewegung in die Exekutive kommen. Die erstarkten grünen Kräfte etwa drängen seit Jahren auf einen Sitz in der Regierung. (SWE) Zwei neue Köpfe in der Schweizer Regierung Der Berner Albert Rösti (SVP) und die Jurassierin Elisabeth Baume-Schneider (SP) sind neu in den Bundesrat eingezogen. Die Ersatzwahl durch das Parlament bestätigte vorläufig die Kräfteverhältnisse in der Landesregierung. Für Diskussionen sorgte die Vertretung der Regionen. Zurückgetreten: Ueli Maurer (SVP, ZH) trat auf Ende 2022 als Bundesrat zurück. Der Finanzminister sah sich selbst als mahnenden Sparer. Zurückgetreten: Der Rücktritt von Simonetta Sommaruga (SP, BE) per Ende 2022 erfolgte eher überraschend. Als Umweltministerin prägte sie die Klima- und Energiepolitik. Angetreten: Elisabeth Baume- Schneider (SP, JU) folgte auf Sommaruga für die SP in den Bundesrat. Sie ist die neue Justizministerin. Fotos Keystone Angetreten: Der Berner Albert Rösti zog für die SVP in den Bundesrat ein. Er ist der neue Umwelt-, Verkehrs- und Energieminister. Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 Nachrichten
MIREILLE GUGGENBÜHLER Klärmeister Michael Baumann steht auf dem Dach der neuen Kläranlage im bernischen Brienz und lässt seinen Blick schweifen. Unten stehen Baufahrzeuge, hinter ihm sind die Klärbecken und vor ihm, in dreihundert Meter Entfernung, liegt der Brienzersee mit dem Haslistrand. Hier baden im Sommer die Bewohnerinnen und Bewohner des Haslitals. Heute ist kein Mensch da; am Kiesstrand schlagen kleine Wellen auf; ansonsten ist das smaragdgrüne Wasser ruhig – die Hochsaison ist längstens vorbei, die Schiffe haben ihren Betrieb eingestellt. Zirka hundert Meter vom Seeufer entfernt, und in 18 Meter Tiefe, wird das in der Kläranlage gereinigte Wasser in den See gespült. «Die Abwassermenge, die wir hier reinigen, ist in der Hochsaison im Sommer am grössten», sagt Michael Baumann. Dann, wenn der nahe Campingplatz besetzt, das Freilichtmuseum Ballenberg geöffnet ist und die Hotels ausgelastet sind. Im Winter wiederum geht es länger, bis das Abwasser gereinigt ist. «Die Mikroorganismen, die das Wasser säubern, bewegen sich in der Winterkälte langsamer – so wie die Menschen auch», erklärt Michael Baumann. Würmer, Insekten und Krebse gedeihen besonders gut Die Kläranlage am oberen Ende des Brienzersees ist neu und der Ersatz für die 50-jährige, bisherige Anlage. Sie ist computergesteuert und wird von Michael Baumann und seinem Arbeitskollegen überwacht. Noch ist sie nicht ganz fertig gebaut, aber bereits in Betrieb. Auch die alte Anlage konnte bereits zahlreiche chemische Verbindungen abbauen. Aber: «Dank der neuen Anlage ist es möglich, dass wir das Abwasser noch viel besser reinigen können», sagt Michael Baumann. Und plötzlich war der Brienzersee einigen allzu sauber Der grösste Bergsee der Schweiz erlebte stürmische Zeiten. Noch 1980 war er zu sehr «gedüngt», zu phosphathaltig. Dann wurde er innert weniger Jahre so sauber und nährstoffarm, dass die Fische hungerten. Mittlerweile ist das Ökosystem des Sees intakt – und den Fischen gehts gut. Der Brienzersee, gesäumt von den Bergflanken der Berner Alpen, gilt heute als der wohl sauberste See der Schweiz. Das war er lange Zeit nicht. Fotos Danielle Liniger Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Am Ufer des saubersten Sees der Schweiz. 10 Reportage
Und sie tut dies mit eindrücklichem Erfolg: Die Kläranlage ist einer der Hauptgründe, weshalb es dem Brienzersee im Vergleich mit anderen Schweizer Seen im Moment sehr gut geht. Der grosse und in den 1980erJahren noch stark stickstoffbelastete See am Alpenrand gilt als der wohl sauberste See der Schweiz. Er hat ein verhältnismässig intaktes Ökosystem, in welchem tierische Organismen – etwa Krebstiere wie Wasserflöhe, Insektenlarven oder Würmer – besonders gut gedeihen. Diese Organismen dienen den Fischen als Nahrung. Ist ihr Anteil in einem Gewässer hoch, ist das ein Indikator dafür, dass dieses relativ unverschmutzt ist. Vor einem Jahr wurde dem Brienzersee dieser positive, biologische Zustand in einem Bericht bescheinigt, den das Bundesamt für Umwelt erstellen liess. Fischer und Fische erlebten schwierige Zeiten Der gute Zustand von heute steht in starkemKontrast zu den zurückliegenden, sorgenvollen Jahren. Zu den sehr Besorgten gehörte Beat Abegglen. Er ist ausgebildeter Fischer und wohnt in Iseltwald, dem kleinen, ehemaligen Fischerdorf am südlichen Ufer des Brienzersees. Ende der 1980er-Jahre baute er sich dort seine Fischerei auf. Doch kurz darauf brachen die Fangerträge ein. «Mitte der 1990er-Jahre waren die Fische im vierten Lebensjahr zwischen 150 und 200 Gramm schwer, um die Jahrtausendwende dann im Schnitt noch rund 40 Gramm», sagt Beat Abegglen. «Ein solcher Gewichtsverlust und drastischer Rückgang der Fangerträge ist immer ein Zeichen dafür, dass in einem Gewässer etwas nicht stimmt.» In derselben Zeit wie Beat Abegglen stellten die Fachleute des Gewässerschutzamtes des Kantons Bern fest, dass auch die Wasserflöhe, die sogenannten Daphnien, verschwunden waren. Von den Wasserflöhen, die einen Teil des Planktons bilden, ernähren sich die Felchenfische hauptsächlich. Sie sind die am stärksten verbreitete Fischart im Brienzersee. Aufgrund all dieser Beobachtungen gab der Kanton Bern ein Forschungsprojekt in Auftrag mit dem Ziel herauszufinden, welches die Gründe für den Rückgang des Fischertrags und der Wasserflöhe sind. Die Untersuchungen zeigten, dass die beobachteten Veränderungen mit demNährstoffrückgang im See zusammenhängen. Hauptgrund für den Nährstoffrückgang war der massiv reduzierte Eintrag von Phosphor – etwa aus Fäkalien sowie Wasch- und Reinigungsmitteln – in den See. Dieser Rückgang ist gemäss Forschungsbericht wiederum auf «die jahrzehntelangen Anstrengungen beim technischen Gewässerschutz» zurückzuführen, – also auf die gute Arbeit, die in der Kläranlage geleistet wird. Für den von Natur aus bereits nährstoffarmen Brienzersee hatte dieser Erfolg im Gewässerschutz also seine Schattenseite: «Das geringe Nährstoffangebot schränkt das ohnehin bescheidene Algenwachstum ein Die neue Brienzer Abwasserreinigungsanlage, die Michael Baumann überwacht, ist in sehr hohem Mass für die gute Wasserqualität im See verantwortlich. Beat Abegglen schaut als Fischer auf schwierige Jahre zurück. Erst brachen die Fangerträge ein. Inzwischen zieht er wieder mehr Fische aus dem See. 11
und schmälert die Nahrungsgrundlage des Planktons, wodurch auch die Felchen weniger Futter finden», heisst es im Bericht. Der Rückgang der Fischerträge im Brienzersee führte in Fischereikreisen, aber auch in der Politik zu Diskussionen. So wurde etwa gefordert, den Phosphoreintrag in die Gewässer durch eine Reduktion der Reinigungsleistung von Kläranlagen künstlich zu erhöhen. Der Kanton lehnte allerdings ab. Willentlich dreckigeres Wasser in den See zu leiten, war umweltpolitisch nicht opportun. Klimaerwärmung verbessert Futterproduktion Weil der Rückgang der Fischerträge so massiv war, musste Beat Abegglen seinen Beruf als Fischer aufgeben. Heute betreibt er seine Fischerei als Hobby und übt hauptberuflich eine andere Tätigkeit aus. Seinen Fisch verkauft er an Kunden in der Region, die flexibel auf seine Fangerträge reagieren. Allerdings: Seit vier Jahren nehmen die Fangerträge von Beat Abegglen wieder zu. Die Fische sind nicht mehr nur rund 40, sondern zwischen 170 und 180 Gramm schwer. «Parallel dazu gibt es wieder mehr Weissfische und Egli», sagt Beat Abegglen. Theoretisch könnte Abegglen nun wieder vom Fischen leben. Doch das will er nicht mehr: «Die Sicherheit eines festen Einkommens gebe ich nicht auf.» Weshalb es den Fischen nun wieder besser geht, dafür hat Beat Abegglen eine Erklärung: Das Wasser, welches aus den Zuflüssen in den Brienzersee gelangt, ist wärmer als noch vor einigen Jahren. Grund dafür ist laut Beat Abegglen die Klimaerwärmung. «Durch das Abschmelzen der Gletscher floss jahrelang sehr kaltes Wasser in den Brienzersee». Nun ist das Gletschervolumen deutlich kleiner geworden und es fliesst weniger Gletscherwasser in die Aare und die Lütschine, welche die Hauptzuflüsse des Brienzersees bilden. Die Flüsse transportieren auch weniger Geschiebe in den See. Entsprechend ist der See weniger trüb, das Sonnenlicht dringt dadurch tiefer in den See. Die Wärme des Wassers und die Einstrahlung des Sonnenlichts in grosse Tiefen haben einen Einfluss auf die Planktonproduktion im See. «Es wird so mehr Futter für die Fische produziert», sagt Beat Abegglen. Ein labiler See seit Jahren Ob sich das Ökosystem des Brienzersees auch weiterhin so gut halten kann, ist schwer vorhersehbar. «Der Brienzersee war eigentlich schon immer in einem labilen Zustand», sagt Beat Abegglen. Dies steht auch im Forschungsbericht des Kantons Bern. Hinzu kommt, dass es auch mit der neuen Kläranlage noch nicht möglich ist, alle Stoffe aus dem Abwasser zu eliminieren. Wie sich sogenannte Mikroverunreinigungen künftig auf das Ökosystem des Sees auswirken, weiss niemand. Aber: «In ein paar Jahren wird es bestimmt möglich sein, dass man diese in den Kläranlagen herausfiltern kann», sagt Klärmeister Michael Baumann. Der Faszination für den grössten Bergsee in der Schweiz tut das allerdings keinen Abbruch. Er ist und bleibt ein beliebtes Ausflugsziel – auch seiner besonderen Farbe wegen: In diesem Jahr verzeichnete die kommerzielle Schifffahrt auf dem Brienzersee die höchste Besucherzahl seit zehn Jahren: 496 000 Passagiere liessen sich auf einem Schiff auf dem See herumfahren. Das sind rund 179000 Gäste mehr als 2013. Im Gegensatz zum benachbarten Thunersee ist der Brienzersee vor allem Ausflugsziel für ausländische Gäste. Dennoch sei der Rummel nie so gross wie auf anderen Seen, sagt Beat Abegglen, der auch nach über 30 Jahren Fischen immer noch fasziniert ist vom Brienzersee: «Ende August sieht man jeweils viele Sternschnuppen über dem See. Es sind so viele, dass man in diesem Moment ganz ehrfürchtig und klein wird.» In Iseltwald ragt eine pittoreske Halbinsel in den Brienzersee. Und während des Sommers durchpflügen historische Raddampfer das oft smaragdgrüne Wasser des Bergsees. Fotos Keystone © Swisstopo Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 12 Reportage
13 STÉPHANE HERZOG Für die Degustation eines Tässchens CoffeeB, dem Kaffee aus der biologisch abbaubaren Kapsel der MigrosTochter Delica, führt uns der orange Riese in eine seiner HeimelektronikFilialen. An einem Verkaufsstand nimmt eine Verkäuferin ein braunes Bällchen aus einer Kartonbox. Die speziell für diese Innovation entwickelte Maschine – für 169 Franken – serviert einen säurefreien Espresso. Nicht schlecht! ImAuffangbehälter liegen die gebrauchten, lauwarmen Kaffeebällchen. Ein leichter Fingerdruck reicht und schon platzt die pflanzliche Membran, die den Kaffee umhüllt. Der Kaffeesatz verteilt sich in unserer Hand. Wir schauen uns nach einer anständigen Topfpflanze um und schütten das Ganze hinein. Ein Kaffeeball erobert die Welt Genau darum geht es bei diesem Produkt, das in der Schweiz und in Frankreich direkt unter der Nase von Nespresso verkauft wird, dessen Alukapseln den Planeten seit 1986 überschwemmen. Die Migros rühmt sich damit, die Vorteile einer Kaffeekapsel – jedoch «ohne den bitteren Nachgeschmack von Abfall» – zu bieten, dies dank einer Schutzhülle auf Pflanzen- und Algenbasis, also ohne Verpackung. Die Kaffeebällchen von CoffeeB werden in Birsfelden (BL) hergestellt, aber die Kaffeemaschinen kommen aus China. Migros sichert jedoch sowohl Ersatzteile als auch Reparaturen zu. Jann, 50 Jahre alt, ist beim Testen ebenfalls mit dabei. Der Data Manager hat die Kaffeebällchen in Korea entdeckt, als sie am Fernsehen gezeigt wurden. Er besitzt eine NespressoMaschine, bevorzugt aber die Kapseln einer anderen Marke. Die Auswahl ist gross, denn weltweit stellen 200 UnterDie alufreie Kaffeekapsel, die Nespresso herausfordert Die Migros, grösste Einzelhändlerin der Schweiz, verkauft seit September 2022 eine Kaffeekapsel ohne Hülle: CoffeeB. Der Markteintritt dieses biologisch abbaubaren Produkts hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Wie reagiert Nestlé, Marktführerin im Kaffeegeschäft? coffeeb.com nespresso.com nestle-nespresso.com nehmen Kaffeekapseln her. Mit CoffeeB mischt die Migros den Schweizer Kaffeemarkt nun aber gründlich auf. Im ersten Halbjahr 2022 generierte Nespresso, dessen sämtliche Kaffeesorten in der Schweiz geröstet und aufbereitet werden, 3,2 Milliarden Franken Umsatz. Der Marktriese produziert auch die Kapseln von Starbucks, dessen Umsatz 20 Prozent des Weltmarkts an kompatiblen Kapseln ausmacht. Eine «Umweltsünde» «Es ist schade, dass der Leader des Kaffeekapselmarktes nicht innovativ ist und weiterhin Alukapseln verwendet, die eine wahre Umweltsünde darstellen», kritisiert Philippe Nicolet, früherer Generaldirektor von Ethical Coffee. Diese Schweizer Marke hatte Nestlé mit ihren kompatiblen Kapseln die Stirn geboten, bevor sie 2017 vor dem Riesen kapitulierte. Nestlé sieht das Ganze etwas anders. «Die CO2-Belastung einer Tasse Kaffee aus einem Vollautomaten ist 30 Prozent höher als beim Nespresso-System», kontert Jessica Chakhsi, Sprecherin von Nespresso Schweiz. Durch die Verwendung der exakt richtigen Menge an Kaffee, Wasser und Strom dämme Nestlé die Verschwendung von Ressourcen ein. «Die Grösse des ökologischen Fussabdrucks einer Tasse Kaffee wird von zwei Hauptfaktoren beeinflusst: den Produktionsschritten und den einzelnen Etappen des Kaffeegenusses», lautet die Aussage dieser Marke, die in der Schweiz 3700 Sammelstellen für gebrauchte Alumuniumkapseln anbietet. Der Grossteil der 63 Milliarden Aluminium- und Plastikkapseln, die jedes Jahr weltweit verkauft werden, landet imMüll, gab Migros-Chef Fabrice Zumbrunnen bei der Einführung von CoffeeB, seinem «revolutionären» Produkt, zu bedenken. Ende November reagierte Nespresso und kündigte für das Frühjahr die Einführung von Kapseln auf der Basis von kompostierbarem Papier an. Kein Aluminium, kein Plastik, kein Abfall: Eine rein pflanzliche Hülle schützt bei CoffeeB das Pulver. Die Rückstände sind kompostierbar. Foto Keystone Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 Wirtschaft
Kastanien: Schweizer Kulturgut erlebt Revival Einst ein Grundnahrungsmittel, heute eine Tourismusattraktion: Edelkastanien haben in der Schweiz zwar an wirtschaftlicher Bedeutung eingebüsst, feiern derzeit aber ein kulturelles Comeback EVA HIRSCHI «Heissi Marroni, heissi Marroni», erklingen in den kalten Monaten die Rufe aus den kleinen braunen Häuschen in den Gassen, der Duft von über Holzkohle gerösteten Edelkastanien steigt in die Nase. Auch wenn dieses Bild fester Bestandteil der Schweizer Wintermonate ist und Gerichte wie Vermicelles, Marronisuppe oder karamellisierte Kastanien nicht mehr wegzudenken sind, so stammen nur rund 100 Tonnen dieser Nussfrüchte von hier. Ganze 2500 Tonnen werden importiert, hauptsächlich aus Italien, aber auch aus Portugal, Spanien oder Frankreich. Dennoch hat die Kastanie in der Schweiz sehr wohl Tradition. Bis ins 19. Jahrhundert war sie wichtiger Bestandteil der Selbstversorgung. Insbesondere in den südlichen Alpentälern, im Tessin und im Wallis, wurde sie angebaut und als Mehl, gedörrt oder in der Pfanne geröstet zubereitet. Wegen des hohen Nährwerts und des tiefen Preises galt sie auch als «Brot der Armen». Von den Römern eingeführt, ist die Edelkastanie eine der ältesten Kulturpflanzen Europas. Mit der Verbreitung der Kartoffel verlor sie im 19. Jahrhundert aber ihre wirtschaftliche Bedeutung. Die lichten Kastanienhaine – sogenannte Selven – blieben allerdings landschaftsprägend. Aufwendige Pflege «Hunderte Hektare Selven sind in der Schweiz bereits verschwunden», sagt Patrick Schoeck, Leiter Baukultur des Schweizer Heimatschutzes. Oft wurden Kastanienbäume zugunsten von Weideland oder Ackerbau gerodet. Andere wiederum sind verwaldet. Denn: Kastanienhaine verlangen intensive Pflege und viel Handarbeit. «Das rentiert sich für die Bauern oftSchweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 14 Natur und Umwelt
mals nicht», sagt Schoeck. Um dieses Kulturerbe nicht ganz zu verlieren und gegen die Verwilderung der Selven anzukämpfen, starteten in den 1980er-Jahren gerade im Tessin mehrere lokale Initiativen. Nicht ohne Widerstand der Bevölkerung. Bäume zu roden, um die Kastanien von der Verwaldung zu befreien, wirkte damals für viele umweltschädlich. «Dabei bieten Kastanienhaine mit ihren vielen hellen Flächen ein Biotop für eine ganz andere Flora und Fauna als Wälder», erklärt Schoeck. «Für die Biodiversität ist das wichtig. Auch Kastanienhaine sind Hotspots von Artenvielfalt, einfach in einer anderen Mischung.» Neben dem ökologischen Aspekt unterstreicht Mark Bertogliati, Kurator des Ethnografischen Museums des Muggiotals, auch den kulturellen Wert: «In den 90er-Jahren begann ein Prozess der geschichtlichen Aufarbeitung. Die Kastanien als Kulturerbe waren im Tessin schon fast in Vergessenheit geraten.» Im Muggiotal, zum Beispiel, hat das Museum zusammen mit anderen lokalen Organisationen verschiedene Initiativen zur Förderung und Wiederbelebung dieser alten Tradition als ein Element der Identität auf lokaler Ebene gestartet. So kann man etwa ehemalige Kastaniendörrhäuser besichtigen und es gibt Aktivitäten für die ganze Familie, vom Sammeln bis zum Sortieren. Tessiner Verein ausgezeichnet Der Tessiner Verein Associazione dei castanicoltori della Svizzera italiana setzt sich seit 1999 ebenfalls für den Erhalt von Kastanienhainen ein: «Wir arbeiten eng mit Schulen zusammen und organisieren Ausflüge in die Kastanienhaine», sagt Vereinspräsident Giorgio Moretti. Publikationen und Anlässe gehören ebenso dazu wie die wissenschaftliche Mitarbeit. So unterstützte der Verein den Bund bei der Inventarisierung der Kastanienarten in der Südschweiz und führte DNA- Analysen zur Sortenbestimmung durch. «Es wurden rund 50 Sorten gefunden», sagt Moretti. Für das zivilgesellschaftliche Engagement wurde der Verein kürzlich mit dem Schulthess-Gartenpreis 2022 des Schweizer Heimatschutzes ausgezeichnet. Moretti: «Wir freuen uns sehr über die Anerkennung unseres Einsatzes.» Wirtschaftlich haben die Kastanien in der Schweiz zwar nach wie vor keine grosse Bedeutung. Hingegen sind sie zu einer touristischen Attraktion geworden: Heute laden besonders im Herbst die grossen Kastanienwälder zu ausgedehnten Spaziergängen ein. Und im Oktober finden in verschiedenen Städten und Dörfern Kastanienfeste statt, so etwa das Herbst- und Kastanienfest in Ascona oder die «Fête de la Châtaigne» in Fully im Wallis. Dass für die meisten Feste ein Teil der Marroni importiert werden muss, tut zumindest der festlichen Stimmung keinen Abbruch. Links: Die lichten Kastanienhaine, sogenannte Selven, bilden vorab im Tessin eine ganz typische und punkto Artenvielfalt wertvolle Kulturlandschaft. Foto Giorgio Moretti Rechts: Die Kastanie prägt in der Schweiz auch den urbanen Winter. In vielen Stadtzentren werden «heisse Marroni» verkauft. Und auch die Vermicelles halten sich allen neuen Trends zum Trotz als populäres Dessert. Fotos Giorgio Moretti (1) und Keystone (2) Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 15
Angebote für Jugendliche von Offres pour les jeunes de Offerte per i giovani tra i Offers for young people aged 15–25 Jahren ans anni years old 2023 WEITERE INFORMATIONEN UNTERSTÜTZEN SIE DEN JUGENDDIENST MIT EINER SPENDE Angebote für Jugendliche von Offres pour les jeunes de Offerte per i giovani tra i Offers for young people aged 15–25 Jahren ans anni ye rs old 2023 WEITERE INFORMATIONEN UNTERSTÜTZEN SIE DEN JUGENDDIENST MIT EINER SPENDE
Der längste Personenzug der Welt 236000 Ist es Mitleid mit Menschen, die sich keine Zahlen merken können? Auf jeden Fall hat der Kanton Zürich im Spätherbst die sehr einprägsame Autonummer «ZH 100» versteigert. Ein Automobilist bot 236000 Franken. Mehr wurde noch nie für ein Zürcher Nummernschild bezahlt. Das Geld floss direkt in die etwas klamme Staatskasse des Kantons. 1910 Am 19. Oktober 2022 fuhr der längste Personenzug der Welt ganz sachte über die pittoreske, kurvenreiche Bergstrecke der Rhätischen Bahn zwischen Preda und Alvaneu. 1910 Meter lang war der Zug. In den 100 Eisenbahnwagen durften aber nur gerade 150 Personen mitfahren. Die Fahrt war so exklusiv, dass sich die Fahrgäste wohl nicht über den einzigen Makel der Rekordfahrt geärgert haben dürften: Der Zug fuhr mit 20 Minuten Verspätung ab. > revue.link/rhb 5512 Gute Gesundheit lässt sich nicht mit Silbermünzen kaufen. Dazu brauchts tägliche Bewegung – und die gibts gratis. Eine Messgrösse ist die Zahl der Schritte, die wir täglich tun. 7500 Schritte pro Tag gelten als guter Grundwert. In keiner westlichen Industrienation wird dieser Wert erreicht. Die Schweizer:innen trippeln mit 5512 Schritten im Mittelfeld herum. Auch wer kein Nummernschild à la «ZH 100» hat, zieht also vermutlich oft das Fahren dem Gehen vor. ZAHLENRECHERCHE: MARC LETTAU Die «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizer:innen, erscheint im 49. Jahrgang sechsmal jährlich in deutscher, französischer, englischer und spanischer Sprache. Sie erscheint in 13 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 431 000 Exemplaren (davon 253 000 elektronische Exemplare). Regionalnachrichten erscheinen in der «Schweizer Revue» viermal im Jahr. Die Auftraggeber:innen von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Herausgeberin. Alle bei einer Schweizer Vertretung angemeldeten Auslandschweizer:innen erhalten die Zeitschrift gratis. Nichtauslandschweizer:innen können sie für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). ONLINEAUSGABE www.revue.ch REDAK T ION Marc Lettau, Chefredaktor (MUL) Stéphane Herzog (SH) Theodora Peter (TP) Susanne Wenger (SWE) Paolo Bezzola (PB; Vertretung EDA) AMTLICHE MITTEILUNGEN DES EDA Die redaktionelle Verantwortung für die Rubrik «Aus dem Bundeshaus» trägt die Konsularische Direktion, Abteilung Innovation und Partnerschaften, Effingerstrasse 27, 3003 Bern, Schweiz. kdip@eda.admin.ch | www.eda.admin.eda REDAK T IONSASSISTENZ Sandra Krebs (KS) Überset zung SwissGlobal Language Services AG, Baden GESTALTUNG Joseph Haas, Zürich DRUCK & Produk t ion Vogt-Schild Druck AG, Derendingen Herausgeber in Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO). Sitz der Herausgeberin, der Redaktion und der Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. revue@swisscommunity.org Telefon +41 31 356 61 10 Bankverbindung: CH97 0079 0016 1294 4609 8 / KBBECH22 Redaktionsschluss DieSER AUSGABE 28. November 2022 ADRESSÄNDERUNGEN Änderungen in der Zustellung teilen Sie bitte direkt Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit. Die Redaktion hat keinen Zugriff auf Ihre Adressdaten. 999,9 Wir bleiben beim Geld. Die Eidgenössische Münzstätte versorgt die Schweiz zuverlässig mit Kleingeld. Sie prägt aber auch edle Münzen. Ihre Silbermünzen werden nun noch edler. Deren Silberfeingehalt steigt von 835 auf 999,9. Die erste solche Münze ist dem Berner Chansonnier Mani Matter (1936–1972) gewidmet. Die 20-Franken-Silbermünze kostet rund 80 Franken. Es ist also kein Batzen, den wir gleich in den nächsten Snackautomaten einwerfen würden. > revue.link/swissmint 100 Zur einprägsamen Zahl 100 liefern wir noch einen Nachtrag: In einem sauberen Fluss fliesst zu 100 Prozent Wasser. Aber Wasser ist nicht einfach Wasser. Im Fluss Aare zum Beispiel fliesst Wasser aus 55 Prozent geschmolzenem Schnee, 32 Prozent Regen, 13 Prozent Gletschereis. Wer diesen Wassercocktail mag, muss auf möglichst schneereiche, eisige Winter hoffen. Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 17 Schweizer Zahlen Impressum
INTERVIEW: SUSANNE WENGER Schweizer Revue: Michael Hermann, bei den Schweizer Parlamentswahlen 2019 erstarkte die linke Grüne Partei, auch die Grünliberalen legten zu. Zwei Jahre später verwarf das Volk das CO2-Gesetz, das die Klimapolitik voranbringen wollte. Wie passt das zusammen? Michael Hermann: Es wirkt wie ein Widerspruch. Zuerst die grosse grüne Welle bei den Wahlen, eine für Schweizer Verhältnisse historische Verschiebung. Dann in der Abstimmung nicht einmal fünfzig Prozent für das nicht allzu strenge CO₂-Gesetz. Verschiedene Faktoren führten dazu, dass die grüne Welle sich sachpolitisch weniger auswirkte als vielleicht gedacht. Klima und Umwelt stehen zwar bis heute ganz oben auf dem Sorgenbarometer der Bevölkerung. Als aber Benzin und Fliegen teurer werden sollten, war vielen das eigene Portemonnaie näher als der solidarische Beitrag zum Klimaschutz. Kommt dazu: Auch 2019 wählte nur eine Minderheit grün. Die grünen Kräfte gewannen zusammen immerhin 21 Prozent der Wählenden. Die Grüne Partei errang im Nationalrat so viele zusätzliche Sitze wie noch nie eine Partei vor ihr. Ja, die Grünen konnten ausgezeichnet mobilisieren, waren sichtbar und aktiv. Um aber klimapolitisch etwas zu bewegen, braucht es immehrheitlich bürgerlichen Schweizer Parlament breite Allianzen. Diese entstanden erst unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der sich auf die Energieversorgung der Schweiz auswirkte. Plötzlich ging es weniger ums globale Klima als darum, im Winter warm und genug Strom für hiesige Haushalte und Unternehmen zu haben. Das beschleunigte die Energiewende im Rekordtempo, während die politischen Mühlen in der Schweiz sonst langsam mahlen. Was aus der Schweizer Klima- und Frauenwahl geworden ist Am 22. Oktober finden in der Schweiz die Parlamentswahlen statt. Bei den letzten nationalen Wahlen 2019 kam es zu einer grünen Welle und zum Linksrutsch. Zudem schafften so viele Frauen wie noch nie die Wahl. Wie hat sich das alles ausgewirkt? Eine Bestandesaufnahme mit dem Politik- wissenschaftler Michael Hermann zu Beginn des Wahljahrs 2023. chen bildete sich, ehemals skeptische Hausbesitzer wurden Fotovoltaik-Fans. Die Realität des Ukraine-Kriegs hat also fast mehr in Bewegung gesetzt als die grüne Welle bei den Wahlen 2019. Ihr Institut erstellt im Auftrag von Schweizer Radio und Fernsehen Wahl- barometer. Ein Jahr vor den Wahlen 2023 stellten Sie fest, die grüne Welle habe sich abgeschwächt. Die Grünen sind kommunikativ in einer schwierigen Lage. Zwar hat ihr grosses Thema Klima und Umwelt seit 2019 nochmals an Bedeutung gewonnen, gerade auch mit dem Hitzesommer 2022 in der Schweiz. Aber es wird inzwischen nicht mehr nur mit ihnen in Verbindung gebracht und hat den Fokus verändert. Jetzt reden auch Kraftwerkleute und der industrielle Komplex von erneuerbaren Energien. Und es geht mehr um die Versorgungssicherheit der Schweiz als um das, was die Grünen fordern: einen ressourcenschonenden Lebensstil. Die Wahlen 2019 folgten auf eine Phase wirtschaftlicher Prosperität, nun haben wir Krisenzeiten. Da haben es als idealistisch empfundene Themen, wie sie die Grünen bedienen, schwerer. 2019 wurden so viele Frauen wie noch nie seit Einführung des Frauenstimmrechts 1971 ins Parlament gewählt. Der Frauenanteil in der grossen Parlamentskammer, dem Nationalrat, stieg auf über vierzig Prozent. Hat sich das auch sachpolitisch bemerkbar gemacht? Ja, das hat es. Die Frauenwahl von 2019 richtete sich auch ein wenig gegen den Politikertypus des konservativen Alpha-Männchens, der in der Sie sprechen die Solaroffensive inklusive Wasserkraft-Förderung an, die das Parlament im Herbst 2022 beschloss und die sofort in Kraft gesetzt wurde. Fotovoltaik galt in der Schweiz lange als alternativer grüner Spleen, als weiche Technologie. Jetzt wird Solarenergie als Möglichkeit gesehen, um das Land versorgungssouveräner zu machen. Sie ist zur realen Vorstellung geworden, wie die Schweiz ihre Energiezukunft gestalten will. Eine Allianz von Grünen bis zu RechtsbürgerliSchweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 18 Politik
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