INTERVIEW: SUSANNE WENGER Schweizer Revue: Michael Hermann, bei den Schweizer Parlamentswahlen 2019 erstarkte die linke Grüne Partei, auch die Grünliberalen legten zu. Zwei Jahre später verwarf das Volk das CO2-Gesetz, das die Klimapolitik voranbringen wollte. Wie passt das zusammen? Michael Hermann: Es wirkt wie ein Widerspruch. Zuerst die grosse grüne Welle bei den Wahlen, eine für Schweizer Verhältnisse historische Verschiebung. Dann in der Abstimmung nicht einmal fünfzig Prozent für das nicht allzu strenge CO₂-Gesetz. Verschiedene Faktoren führten dazu, dass die grüne Welle sich sachpolitisch weniger auswirkte als vielleicht gedacht. Klima und Umwelt stehen zwar bis heute ganz oben auf dem Sorgenbarometer der Bevölkerung. Als aber Benzin und Fliegen teurer werden sollten, war vielen das eigene Portemonnaie näher als der solidarische Beitrag zum Klimaschutz. Kommt dazu: Auch 2019 wählte nur eine Minderheit grün. Die grünen Kräfte gewannen zusammen immerhin 21 Prozent der Wählenden. Die Grüne Partei errang im Nationalrat so viele zusätzliche Sitze wie noch nie eine Partei vor ihr. Ja, die Grünen konnten ausgezeichnet mobilisieren, waren sichtbar und aktiv. Um aber klimapolitisch etwas zu bewegen, braucht es immehrheitlich bürgerlichen Schweizer Parlament breite Allianzen. Diese entstanden erst unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der sich auf die Energieversorgung der Schweiz auswirkte. Plötzlich ging es weniger ums globale Klima als darum, im Winter warm und genug Strom für hiesige Haushalte und Unternehmen zu haben. Das beschleunigte die Energiewende im Rekordtempo, während die politischen Mühlen in der Schweiz sonst langsam mahlen. Was aus der Schweizer Klima- und Frauenwahl geworden ist Am 22. Oktober finden in der Schweiz die Parlamentswahlen statt. Bei den letzten nationalen Wahlen 2019 kam es zu einer grünen Welle und zum Linksrutsch. Zudem schafften so viele Frauen wie noch nie die Wahl. Wie hat sich das alles ausgewirkt? Eine Bestandesaufnahme mit dem Politik- wissenschaftler Michael Hermann zu Beginn des Wahljahrs 2023. chen bildete sich, ehemals skeptische Hausbesitzer wurden Fotovoltaik-Fans. Die Realität des Ukraine-Kriegs hat also fast mehr in Bewegung gesetzt als die grüne Welle bei den Wahlen 2019. Ihr Institut erstellt im Auftrag von Schweizer Radio und Fernsehen Wahl- barometer. Ein Jahr vor den Wahlen 2023 stellten Sie fest, die grüne Welle habe sich abgeschwächt. Die Grünen sind kommunikativ in einer schwierigen Lage. Zwar hat ihr grosses Thema Klima und Umwelt seit 2019 nochmals an Bedeutung gewonnen, gerade auch mit dem Hitzesommer 2022 in der Schweiz. Aber es wird inzwischen nicht mehr nur mit ihnen in Verbindung gebracht und hat den Fokus verändert. Jetzt reden auch Kraftwerkleute und der industrielle Komplex von erneuerbaren Energien. Und es geht mehr um die Versorgungssicherheit der Schweiz als um das, was die Grünen fordern: einen ressourcenschonenden Lebensstil. Die Wahlen 2019 folgten auf eine Phase wirtschaftlicher Prosperität, nun haben wir Krisenzeiten. Da haben es als idealistisch empfundene Themen, wie sie die Grünen bedienen, schwerer. 2019 wurden so viele Frauen wie noch nie seit Einführung des Frauenstimmrechts 1971 ins Parlament gewählt. Der Frauenanteil in der grossen Parlamentskammer, dem Nationalrat, stieg auf über vierzig Prozent. Hat sich das auch sachpolitisch bemerkbar gemacht? Ja, das hat es. Die Frauenwahl von 2019 richtete sich auch ein wenig gegen den Politikertypus des konservativen Alpha-Männchens, der in der Sie sprechen die Solaroffensive inklusive Wasserkraft-Förderung an, die das Parlament im Herbst 2022 beschloss und die sofort in Kraft gesetzt wurde. Fotovoltaik galt in der Schweiz lange als alternativer grüner Spleen, als weiche Technologie. Jetzt wird Solarenergie als Möglichkeit gesehen, um das Land versorgungssouveräner zu machen. Sie ist zur realen Vorstellung geworden, wie die Schweiz ihre Energiezukunft gestalten will. Eine Allianz von Grünen bis zu RechtsbürgerliSchweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 18 Politik
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