MÄRZ 2023 Schweizer Revue Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Der Sarkophag der Aufregung: Eine Mumie diktiert der Schweiz eine Kulturdebatte Ein Papierschnipsel wird zur Batterie: Die winzige Schweizer Erfindung verblüfft die Fachwelt Das Rätoromanische, die kleinste Schweizer Landessprache, erneuert sich im Express-Tempo
© Alisha Lubben Konsularische Dienstleistungen überall, komfortabel auf Ihren mobilen Geräten www.eda.admin.ch Santiago de Chile (2023) Schweizer Schulabschluss von jedem Ort der Welt Jetzt schnuppern! Info und Kontakt unter swissonlineschool.ch wissonlineschool-hoch.indd 1 20.10.21 11:49 © Kurzschuss Vom 18.-20. August 2023 findet der 99. Auslandschweizer-Kongress in St. Gallen statt. Unsere Partner: Entdecken Sie das Programm und gehören Sie zu den Ersten, die sich anmelden. Günstiges Angebot für die Schnellsten! www.swisscommunity.link/kongress2023
Was ist Kultur? – Das ist eine echt kurze Einstiegsfrage. Eine ebenso klare und knappe Antwort erhalten Sie hier aber nicht: Es gibt eine verwirrende Vielfalt von Definitionen, was Kultur ist, was wir mit ihr und sie mit uns macht – und warum sie nicht bloss eine nette Nebensache ist. Eine mögliche Annäherung an die Antwort: Kultur umfasst alles, was der Mensch schafft. Bauen wir noch den Begriff Kunst ein, kommen wir auf die Formel: Kunst und Kultur sind Ausdruck des menschlichen Daseins. Kultur und die Kunst, die aus ihr hervorgeht, schaffen Identität – über das rein Individuelle hinaus. Gemeinschaften schaffen Kultur; und das Erschaffene schenkt ihnen Zugehörigkeit, Erinnerung, Perspektive, also Vergangenheit und Zukunft zugleich. Wer anderen Kulturgüter raubt, greift genau diese Werte an. Das wissen auch jene Schweizer Museen, die derzeit ihre Bestände genau untersuchen, weil sie auch Raubkunst besitzen: etwa Schätze aus dem von Kolonialmächten geplünderten afrikanischen Königreich Benin. Andere Staaten haben sich bereits zur Rückgabe von Benin-Kunst entschieden. In der Schweiz ist die Debatte dazu zumindest voll angelaufen. Nicht immer steht ein Raub am Anfang des Konflikts. Manchmal ist es eine etwas obskure Form des «wissenschaftlichen Interesses». Das lehrt uns zum Beispiel Schepenese, die ägyptische Priestertochter, die als Mumie samt kunstvoll verziertem Sarkophag in der Stiftsbibliothek St.Gallen haust. Auf Schepenese gehen wir in unserem Schwerpunkt ein. Schepenese selbst, so tot wie sie halt ist, schweigt zwar. Aber sie schweigt sehr laut, denn auch sie diktiert der Schweiz eine Kulturgüterdebatte: Warum ist sie, ein Zeugnis altägyptischer Kultur, überhaupt aus ihrem Grab am Nil geholt und nach St.Gallen verfrachtet worden? Ist dies nicht Quelle ständiger Irritation für alle? Wie wärs mit einer Rückreise? Wie diese Debatte endet, ist offen. Spannend ist, dass sie sich ausgerechnet in St.Gallen abspielt, in einem Kanton also, der sich selber als Opfer von Kulturräubern sieht: Zürcher Truppen raubten hier Anfang des 18. Jahrhunderts wertvolle Kulturgüter. Ein 300 Jahre dauernder Disput zwischen St.Gallen und Zürich war die Folge. Übrigens: Die Kultur wird am Auslandschweizer-Kongress im August 2023 das Schwerpunktthema sein. Stattfinden wird der Kongress passenderweise – in St.Gallen. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Im Zentrum einer Kulturdebatte: die Mumie der Priestertochter Schepenese 8 Herausgepickt / Nachrichten 10 Gesellschaft Ohne Teufelsaustreiber: Das Bistum Chur stellt keinen neuen Exorzisten an 12 Gesehen Schweizer Museen gewähren Gemälden aus ukrainischen Galerien Schutz 14 Reportage Eine der weltbesten Erfindungen: die winzige, extrem simple Papierbatterie 18 Kultur Rätoromanisch, die kleinste Schweizer Nationalsprache, erneuert sich rasant Nachrichten aus Ihrer Region 22 Politik Jugendliche vom Rauchen abzuhalten, gelingt der Schweiz erst ungenügend Wahlen 2023: Wer mitmachen will, muss sich jetzt registrieren lassen 25 Porträt Marco Sieber, der Schweizer Astronaut der Zukunft 26 Aus dem Bundeshaus Im neuen Schweizer Pass hat auch die Fünfte Schweiz ihren Platz 29 SwissCommunity-News Neues Bankenangebot für Schweizer:innen im Ausland 30 Diskurs Schepenese schweigt ganz laut Titelbild: Der Schepenese-Sarkophag in der Stiftsbibliothek St. Gallen. Foto iStock Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 3 Editorial Inhalt
4 Schepenese diktiert der Schweiz eine schwierige Debatte Kulturgüter stiften ganzen Gemeinschaften Identität. Darum wirft der Raub von Kulturgütern hohe Wellen, vor allem in Ländern, die Kolonien hatten. Doch auch die Schweiz beherbergt kulturelle Schätze, die Fragen aufwerfen. Leidenschaftlich diskutiert wird dies etwa am Fall einer Mumie in St. Gallen. DENISE LACHAT Sie liegt im prachtvollen Barocksaal der Stiftsbibliothek St. Gallen, eine der ältesten und bedeutendsten historischen Bibliotheken der Welt: die ägyptische Mumie Schepenese, nach heutigem Wissensstand eine im Alter von gut 30 Jahren verstorbene Priestertochter aus dem siebten Jahrhundert vor Christus. Ob Schepeneses St. Galler Ruhestätte im gläsernen Ausstellungssarg der richtige Ort ist für sie, gar wie von der Stiftsbibliothek geschrieben «das schönste Mausoleum, das man sich denken kann»? Das ist eine Frage, die gerade wieder heftig diskutiert wird. Als der St. Galler Theatermacher Milo Rau im November 2022 den Kulturpreis seiner Stadt erhielt, liess er die St.Galler wissen, dass er sein Preisgeld von 30 000 Franken für die Rückführung der Mumie nach Ägypten spende. Er zog in einer «Kunstaktion» zur Heimführung von Schepenese mit einer Mumienattrappe durch die Stadt, und kritisierte ihre Ausstellung als «ständige moralische Irritation». Und er prangerte in einer gemeinsam mit einem Komitee verfassten «St. Galler Erklärung für Schepenese» einen «räuberischen, respekt- oder zumindest gedankenlosen Zustand» an, der einer Kulturmetropole wie St. Gallen unwürdig sei. Einst in Luxor begraben Was ist passiert? Schepenese, so wird angenommen, war in Ägypten ursprünglich in der Nekropole bei Luxor begraben. Dass sie «ihrem Grab von Grabräubern entrissen worden ist», wie es das Komitee um Milo Rau schreibt, kann gemäss der St.Galler Stiftsbibliothek indes nicht belegt werden. Sie hält in einem Kommentar zur «St.Galler Erklärung» fest, man könne korrekterweise nicht von einer Plünderung Ägyptens im 18. Jahrhundert sprechen. Vielmehr hätten sich französische, englische und später auch deutsche Wissenschaftler seit dem Ägyptenfeldzug Napoleons ab 1798 wissenschaftlich intensiv mit dem Erbe der altägyptischen Kultur auseinandergesetzt – ganz im Gegensatz zu den Ägyptern selbst, die ihrem Erbe wenig Wertschätzung entgegengebracht hätten. Veranschaulicht wird die Aussage mit dem Beispiel des ägyptischen Vizekönigs Mohammed Ali, der 1830 eine der heute weltberühmten Pyramiden von Gizeh einen «armseligen Berg» nannte und mit ihrem «Schutt» in Ägypten Kanäle bauen wollte. Die Zerstörung sei Dank dem damaligen französischen Konsul in Alexandrien verhindert worden, heisst es im Kommentar. Eine Frage der Würde Nach St.Gallen kam Schepenese vor rund 200 Jahren. Philipp Roux, ein deutscher Geschäftsmann, soll sie in Alexandrien mit zwei dazugehörigen Holzsärgen gekauft und sie einem befreundeten Politiker, Karl MüllerFriedberg, dem Gründervater des Kantons St.Gallen, geschickt haben. Ob Müller-Friedberg die Mumie geschenkt erhielt oder gekauft hat, scheint nicht restlos geklärt. Bei ihrer Ankunft in St. Gallen wurde Schepenese laut Berichten aus jener Zeit von eingeladenen Gelehrten bis zu den Schultern ausgewickelt, und Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 Schwerpunkt
schloss die Leitung des Konfessionsteils, eine mögliche Rückführung von Schepenese in ihr Herkunftsland «seriös zu prüfen». Dazu solle mit den zuständigen ägyptischen Behörden zusammengearbeitet werden. Kulturschätze aus der Nazi-Zeit Debatten über die Erforschung der Herkunft von ausländischem Kunst- und Kulturgut, die sogenannte ProveSchepenese, wie sie zu Lebzeiten wohl ausgesehen hatte: Forensikern aus Italien gelang Anfang 2022 nach einer Tomografie der Mumie eine Rekonstruktion ihres Kopfes. Foto IMAGO Der Theatermacher Milo Rau führt eine Mumienattrappe durch St.Gallen. Seine Forderung: Schepeneses Reise zurück in ihre Heimat. Foto Keystone Bibliothek den Medien zur Verfügung stellt, zeigen die Mumie aus Distanz, das Gesicht im Profil. Genügen diese Erklärungen, um Schepenese in St.Gallen zu behalten? Der sogenannte «Katholische Konfessionsteil des Kantons St. Gallen», ein kirchenrechtliches Organ, dem sämtliche Bestände der Stiftsbibliothek gehören, scheint auf die Kritik von Milo Rau zu reagieren und umzudenken. Drei Wochen nach der Kunstaktion benach einem Festakt durfte jeder Geladene ein Stück des Mumienstoffes als Erinnerung mit nach Hause nehmen. Ist dies die Respektlosigkeit, die Milo Rau anprangert? Die deutsche Ethnologin Wiebke Ahrndt sagte dazu unlängst, dass im 19. Jahrhundert oft ganze Partys gefeiert wurden, an denen Mumien ausgewickelt wurden – nicht nur in Europa, sondern auch in Ägypten selbst. Das lasse sich nicht mehr rückgängig machen. Ahrndt, die einen Leitfaden zum «Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen» verfasst hat, ist der Ansicht, dass Mumien ausgestellt werden können – solange dies auf würdevolle Weise geschehe und sich das Herkunftsland nicht daran störe. Ägyptische Museen stellen Mumien ebenfalls aus; ihr Export war gemäss Ahrndt sogar bis 1983 legal. Die Verantwortlichen der Stiftsbibliothek St. Gallen betonen ihrerseits, mit Schepenese werde keine Schaulust befriedigt. Die Präsentation entspreche gängigen musealen Konzepten zur Ausstellung sterblicher Überreste von Menschen. Selbst Fotos, die die Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2
in den neu entstehenden Nationen als unverdächtige Partnerin gegenüber ehemaligen Kolonien auftreten können. Tatsächlich findet selbst in der Politik allmählich ein Umdenken statt. Davon zeugen gemäss SAP-Präsident Sieber die zahlreichen Debatten, Motionen und Interpellationen im eidgenössischen Parlament – «auch wenn es unangenehm ist und am Selbstverständnis der Schweiz als neutraler Staat rüttelt und das Selbstbild einer egalitären, solidarischen und humanitären Nation in Frage stellt». Teil einer weltweiten Debatte Etliche europäische Länder stecken in einer Debatte über koloniale Raubkunst. Einige sprechen offizielle Entschuldigungen aus wie die Niederlande. Andere, wie die belgischen und britischen Royals, belassen es bei Worten des Bedauerns. Und wieder andere sind bereits zur Tat geschritten. So brachte Deutschland Ende 2022 erste Bronzen nach Nigeria zurück. Das Königtum Benin im heutigen Nigeria wurde 1897 von britischen Kolonialtruppen angegriffen, Tausende Objekte wurden aus dem Palast des Königs geplündert und gelangten über den Kunsthandel in nienzforschung, kennt die Schweiz vor allem im Zusammenhang mit Raubgold respektive Raubkunst aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Expertengruppe unter der Leitung des Historikers Jean-François Bergier legte 2002 dem Bundesrat in einem umfassenden Bericht dar, dass die Schweizer Wirtschaft eng mit dem nationalsozialistischen Regime kooperierte. Kunstwerke, die während des Nationalsozialismus in Deutschland (1933 bis 1945) gehandelt wurden, fanden Eingang in private und öffentliche Sammlungen. Abklärungen, ob es sich dabei um Nazi-Raubkunst handelt, sind aus heutiger Sicht ein Muss. Sichtbar macht dieses Engagement etwa das Berner Kunstmuseum, das 2014 den Nachlass des Kunstsammlers Cornelius Gurlitt mit Werken aus dieser Zeit akzeptierte. Der Fall Gurlitt wurde zur Zäsur. Der Bundesrat entschied sich in der Folge, den Schweizer Museen jährlich 500 000 Franken für die Provenienzforschung zur Verfügung zu stellen. Damit komme man zwar nicht weit, sagt Joachim Sieber, Präsident des schweizerischen Arbeitskreises für Provenienzforschung (SAP), aber wenigstens sei ein Anfang gemacht. Kolonialzeit rückt in den Fokus der Politik Kulturgüter, die aus dem Handel der Kolonialzeit stammen, sind weitere grosse «Brocken», deren sich die Schweizer Provenienzforschung nun annehmen muss. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, besass doch die Schweiz nie Kolonien. Doch für Joachim Sieber ist klar: «Die Schweiz war und ist Teil des europäischen (post-)kolonialen Unternehmens.» Eben weil die Schweiz keine Kolonialmacht war, habe sie – ebenso wie auch Schweizer Unternehmen – nach dem Zusammenbruch der Kolonialreiche beziehungsweise nach 1945 6 Schepenese im gläsernen St.Galler Austellungssarg. Jeden Abend verabschiedet sich das Personal von ihr, zieht ein weisses Tuch über den Sarg und schliesst die Türe. Foto Keystone Kulturgüterstreit unter Eidgenossen Ein sensationeller Globus war Gegenstand eines Kulturraubs unter Eidgenossen: 1712, im Toggenburger Krieg, erbeuteten Zürcher den 2,3 Meter hohen Himmelsglobus von der St. Galler Stiftsbibliothek zusammen mit kostbaren Handschriften. Ein Friedensvertrag regelte zwar die Rückgabe vieler Güter, doch den Globus behielten die Zürcher zurück. Beinahe 300 Jahre später brach um diesen Globus um ein Haar ein innerschweizerischer Rechtsstreit mit Gang vor das Bundesgericht aus: 1996 klopfte die St.Galler Regierung auf den Tisch und verlangte den St. Galler Globus ultimativ von den Zürchern zurück. Unter der Vermittlung des Bundes wurde schliesslich ein gutschweizerischer Kompromiss gefunden. Die Zürcher durften das Original im Landesmuseum in Zürich behalten, mussten aber eine originalgetreue Kopie für die St. Galler herstellen. Bei der Übergabe der Replik im Jahr 2009 einigten sich das Landesmuseum, die Stiftsbibliothek St.Gallen und die Zentralbibliothek Zürich zudem auf den gemeinsamen Aufbau einer digitalen Variante des Globus. Seit Dezember 2022 ist der in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste umgesetzte digitale Globus für die Öffentlichkeit zugänglich (www.3dglobus.ch). Das «Kriegsbeil» zwischen St.Gallen und Zürich scheint damit endgültig begraben. (DLA) Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 6Schwerpunkt
Sammlungen auf der ganzen Welt. Heute verlangt Nigeria die Anerkennung der Bronzen als Beutekunst. Was weniger bekannt ist: Auch Schweizer Museen besitzen rund hundert Objekte, bei denen Benin als Herkunft vermutet wird. Unter der Leitung des Museums Rietberg in Zürich und mit der Unterstützung des Bundesamts für Kultur haben sich acht Museen in der «Benin Initiative Schweiz» zusammengeschlossen. Ziel ist es, Transparenz für die Forschung und den Dialog mit Nigeria zu schaffen. Dialog – ein Schlüsselbegriff im Umgang mit Kulturgütern. Bansoa Sigam, Anthropologin und Museologin in Genf, betonte im Westschweizer Radio bereits 2017, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Rückgabe von Kulturgütern ankündigte, dass zwischen dem Norden und dem Süden Partnerschaften auf Augenhöhe aufgebaut werden müssten. Dekolonialisierung bedeute, «ehrlich mit der eigenen Geschichte umzugehen und Lösungen zu finden». Vielleicht entsteht so auch die Dynamik für eine «gemeinsame globale Geschichtsschreibung», für die ETH-Professor Bernhard C. Schär plädiert. Seiner Ansicht nach ist es ein Fehler, die Geschichte Europas isoliert zu betrachten und zu vermitteln. Geschichte, so Schär, entstehe immer im Austausch zwischen Menschen. Rückgabe ist nicht einzige Lösung Schätzungen zufolge befinden sich heute über 90 Prozent der afrikanischen Kulturgüter aus der Kolonialzeit nicht in Afrika selbst, sondern in Europa und den USA. Sollen diese nun alle zurückgegeben werden? Joachim Sieber verneint. Rückgabe sei nicht die einzige Lösung. Kulturgüter könnten beispielsweise zurückgegeben und wieder zurückgekauft oder als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt werden; möglich sei auch die Sichtbarmachung des ursprünglichen EiKulturgüter sind fassbare Zeugnisse der Kultur und Geschichte sowie Identifikationsträger. Sie prägen das Selbstverständnis und den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft. Deshalb zählt der Schutz des kulturellen Erbes heute zu den wichtigen Aufgaben eines Staates. gentümers am Objekt im Museum. Entscheidend ist für ihn, die Lösung gemeinsam im Austausch und in der Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften zu finden. Gut möglich Auch die Schweiz war Opfer Nicht immer sind reiche Länder wie die Schweiz als «Täter» in Kunstraube verwickelt, sie können auch Opfer sein. Jahrhundertelang passten die Kapuzinermönche in Freiburg auf ihre wertvolle Bibliothek auf, aber offenbar nicht immer gut genug. So bemerkten die Ordensbrüder nicht, dass ihnen im Zweiten Weltkrieg das «Narrenschiff» aus dem 15. Jahr- hundert gestohlen worden war. Das aussergewöhnliche Werk aus der Frühzeit des Buchdrucks tauchte 1945 bei einem New Yorker Händler wieder auf und landete später als Schenkung bei der Washingtoner Library of Congress, eine der grössten Bibliotheken der Welt. 1975 wurden die Kapuziner erneut bestohlen: Ein Dieb, der sich als Bibliothekar aus dem Vatikan ausgab, erbeutete rund zwanzig bibliophile alte Drucke. Wie im Fall des «Narrenschiffs» geriet auch dieser erneute Diebstahl in Vergessenheit, bis Anfang der 2000er-Jahre ein Mitarbeiter der Freiburger Kantons- und Universitätsbibliothek (KUB) zwei neue, in Freiburg bisher nicht bekannte Fakten ans Licht brachte. Erstens: Die Diebesbeute aus dem Jahr 1975 wurde 1975 und 1976 an Auktionen in München verkauft. Zweitens: Das «Narrenschiff» wird in Washington lokalisiert. Ab diesem Zeitpunkt wurden von der KUB Nachforschungen angestellt, um die rund zwanzig gestohlenen Drucke zu orten und wiederzubeschaffen. Die Library of Congress in Washington gab dem Kanton Freiburg das «Narrenschiff» Ende 2022 zurück. Es wird heute in der KUB Freiburg aufbewahrt und kann von Forscherinnen und Forschern eingesehen werden. (DLA) Mehr zum Thema (in deutscher und französischer Sprache): revue.link/narrenschiff also, dass die ägyptische Regierung, um beim eingangs erwähnten Beispiel zu bleiben, die Mumie Schepenese gar nicht zurückhaben will, sondern mit dem Katholischen Konfessionsteil St. Gallens eine andere einvernehmliche Lösung findet. Bis es soweit ist, wird Schepenese weiterhin jedes Jahr rund 150000 Besucherinnen und Besucher anziehen – und allabendlich mit einem kleinen Ritual vom Personal der Stiftsbibliothek verabschiedet werden. Nachdem die Türen für die Öffentlichkeit geschlossen haben, wird ein weisses Tuch über den gläsernen Sarg gezogen, Schepeneses Name wird genannt. So wird an die Priestertochter erinnert – und Schepenese nach ägyptischer Vorstellung der Ewigkeit nähergebracht. Das «Narrenschiff» des Humanisten Sebastian Brant, das 1494 in Basel erschienen ist, ist eine bebilderte Moralsatire, in der Narren die menschlichen Laster nachstellen. Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 7
Ein Dämpfer für die Grünen vor dem Wahlherbst Die Zürcher Wähler:innen haben am 12. Februar 2023 ein neues Parlament gewählt – und ihr Wahlverhalten gilt jeweils als Signal für die im Herbst folgenden National- und Ständeratswahlen: Sehr oft decken sich die Zürcher mit den nationalen Trends. Dieses Jahr nun gehen in Zürich die bürgerlichen Parteien leicht gestärkt aus den Wahlen hervor. Die SVP legte im 180 Sitze zählenden Kantonsparlament einen Sitz zu. Sie behauptet sich als stärkste Partei. «Die Mitte» eroberte drei zusätzliche Sitze, die FDP (–) keinen. Verlierer sind die Grünen (–3 Sitze). Einbussen erlitten auch die EVP (–1) und die Alternative Linke (–1). Weil aber die Grünliberalen (+1) und die SP (+1) ohne Verluste blieben, hat die sogenannte «Klimaallianz» aus grünen und linken Parteien und der EVP nach wie vor die Parlamentsmehrheit inne. Die National- und Ständeratswahlen finden am 22. Oktober statt (mehr dazu auf Seite 24). (MUL) Umstrittene Zusammensetzung des Bundesrats Die nationalen Wahlen vom 22. Oktober dürften zu erneuten Diskussion über die Zusammensetzung des Bundesrats führen. Diese ist sehr stabil und bindet die wählerstärksten Parteien ein. Doch die sogenannte «Zauberformel» ist nicht in Stein gemeisselt: Die über die letzten Jahre erstarkten Grünen und Grünliberalen drängen auf eine Regierungsbeteiligung. Eine Umfrage des Instituts Sotomo zeigt nun, dass eine deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten eine neue parteipolitische Zusammensetzung der siebenköpfigen Landesregierung wünscht. Heute gewährt die «Zauberformel» der SVP, FDP und SP je zwei Sitze und der Mitte einen Sitz. (MUL) Schweizer Munitionsdebatte zum Ukraine-Krieg Die Schweiz liefert weder Waffen noch Munition in kriegsführende Länder. Sie verbietet anderen Ländern zudem, Waffen und Munition aus schweizerischer Produktion weiterzureichen. Deutschland möchte aber in der Schweiz hergestellte Munition in die Ukraine liefern. Bisher verweigerte die Schweiz ihre Zusage. Doch die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats rüttelt nun am Exportverbot. Sie schlug im Januar vor, dieses zu lockern, zum Beispiel in Konflikten, die vom Uno-Sicherheitsrat oder von zwei Dritteln der Uno-Vollversammlung als völkerrechtswidrig beurteilt werden. (MUL) Ein neuer Regionaler Naturpark Im Calancatal (GR) entsteht ein neuer Regionaler Naturpark. Die vier betroffenen Gemeinden stimmten im Januar dem Projekt zu. Das kleine italienisch-bündnerische Tal wird dadurch zum ersten Regionalen Naturpark der Südschweiz. Ursprünglich hätte in der Gegend ein neuer, grosser Nationalpark entstehen sollen, der Parc Adula. Dieser scheiterte an politischem Widerstand. Der jetzt beschlossene Regionale Naturpark ist letztlich das Überbleibsel des Adula-Projekts. Regionale Naturpärke sind keine Naturschutzreservate, sondern zielen auch auf eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ab. (MUL) Justine Mettraux Dank Justine Mettraux entdecken viele, dass auch Frauen auf Weltklasseniveau segeln können. Die 36-jährige Genferin nimmt seit dem 15. Januar am «Everest» des Team-Segelns teil, dem Ocean Race. Sechs Monate auf hoher See in einer IMOCA, einem 60-Fuss-Monstrum, das auf Tragflügeln dahingleitet. Bei dieser Regatta, die mit Zwischenstopps um die ganze Welt führt, schreiben die Organisatoren eine Frau pro Fünferteam vor. «Justine Mettraux ist nicht nur eine Seglerin der Spitzenklasse. Durch sie wird das Team auch feinfühliger vorgehen, was beim Segeln ganz entscheidend sein kann», sagt ein Kenner. Das Leben der Genferin, die ihre Kindheit praktisch auf dem Genfersee verbrachte, verläuft einzigartig – und auch ihre zwei Schwestern und zwei Brüder segeln auf höchstem Niveau. «Mein Vater hat uns allein grossgezogen und uns in allem vertraut», erzählt Mettraux. Und Vertrauen braucht es, wenn man sich allein auf den Atlantik wagt. Eben dies tat Mettraux 2013, als sie an der Mini Transat den zweiten Platz erreichte. Lange schaffte es die Seglerin aus Versoix mit der Spitzengruppe mitzuhalten. Ihr nächstes Vorhaben: die Vendée Globe 2024, eine Solo-Weltumsegelung. Die Schweizerin wird ihrer Konkurrenz auf Augenhöhe begegnen, denn während einer solchen Regatta entscheidet nicht nur die Muskelkraft, sondern auch die Erfahrung auf hoher See und an Regatten sowie die Fähigkeit, das Boot allein zu reparieren. Justine bringt dies alles mit. Ihre Schwäche? Eine gewisse Zurückhaltung, denn sie gehört nicht zu denjenigen, die gerne mit Partnerin oder Partner für Magazine am Strand posieren. Lieber setzt sie sich für die Öffnung des Segelsports für Frauen ein. STEPHANE HERZOG Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 8 Herausgepickt Nachrichten
Lagen blühten bereits Mitte Januar die Haselsträucher. Es musste weniger geheizt werden, und die europäischen Gasspeicher blieben voller als erwartet. Zudem waren die Schweizer Stauseen überdurchschnittlich gut gefüllt, nachdem es im Herbst ausgiebig geregnet hatte. Die einheimische Wasserkraft soll zur Versorgungssicherheit der Schweiz beitragen. Deshalb behielten die Kraftwerkbetreiber diesen Winter eine strategische Wasserreserve in den Speicherseen zurück. Damit soll garantiert werden, dass auch bei Frühlingsbeginn noch Strom für mindestens 24 Tage produziert werden kann. Trotz Wasserkraft ist die Schweiz im Winterhalbjahr auf Stromimporte THEODORA PETER Noch im Herbst bereitete man sich in der Schweiz auf ungemütliche Wintermonate vor – in spärlich beheizten Wohnungen und kaum beleuchteten Städten. Der Bundesrat schwor die Bevölkerung auf das Energiesparen ein und bereitete einen Notfallplan vor. Im schlimmsten Falle wäre der Stromkonsum begrenzt worden und Betriebe hätten schliessen müssen. Ein solches Szenario galt bereits im Januar als unwahrscheinlich und trat bis zum Redaktionsschluss dieser «Revue» nicht ein. Einer der Gründe liegt im Wetter. Die erste Winterhälfte war europaweit relativ mild. An Weihnachten kletterte das Thermometer in der Schweiz auf frühlingshafte Temperaturen bis zu 15 Grad. In unteren 9 Mit Wetterglück durch den Krisenwinter Die Energiekrise in Europa wirkt sich auch auf die Versorgung in der Schweiz aus. Im Winter blieb die befürchtete Notlage aus – dank milden Temperaturen und vollen Stauseen. Doch die Gefahr einer Stromlücke bleibt. In Eile bewilligt und in rasantem Tempo gebaut: das Notfallkraftwerk in Birr. Es kann im Bedarfsfall 400 000 Haushalte mit Strom versorgen. Foto Keystone angewiesen – unter anderem aus französischen Atomkraftwerken. Weil sich im Herbst die Hälfte dieser Anlagen noch in Revision befand, waren Lieferengpässe befürchtet worden. Doch die meisten AKW in Frankreich konnten rechtzeitig wieder hochgefahren werden. Reservekraftwerke für den Notfall Um für den Notfall eines akuten Strommangels gewappnet zu sein, hatte der Bundesrat bereits letzten Sommer den Bau eines Reservekraftwerks beschlossen. Die im Schnellverfahren errichtete Anlage in Birr (AG) kann wahlweise mit Gas, Öl oder Wasserstoff betrieben werden. Die acht mobilen Turbinen weisen eine Gesamtleistung von 250 Megawatt auf. Damit könnten rund 400000 Haushalte mit Strom versorgt werden. Das temporäre Kraftwerk ist seit Ende Februar betriebsbereit und wird bei Bedarf bis 2026 zur Verfügung stehen. Eine weitere Reserve von bis zu 36 Megawatt steht in einem bereits bestehenden thermischen Kraftwerk im neuenburgischen Cornaux bereit. Auch wenn das Notfallszenario bislang nicht eingetroffen sein sollte, geben die Behörden noch keine Entwarnung. Fachleute gehen davon aus, dass die Versorgung im kommenden Winter 2023/2024 schwieriger sein wird. Konnten die europäischen Gasspeicher letztes Jahr noch mit russischem Gas aufgefüllt werden, ist aufgrund der Sanktionen wegen des Ukraine-Kriegs für das laufende Jahr nicht mehr mit Gaslieferungen aus Russland zu rechnen. Die Suche nach alternativen Energiequellen ist nicht zuletzt ein Wettlauf gegen die Zeit. Aktueller Energieverbrauch in der Schweiz: revue.link/dashboard Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 Nachrichten
SUSANNE WENGER Exorzismen sollen Menschen vom Bösen und einer angeblichen dämonischen Besessenheit befreien. Aller Aufklärung zum Trotz gibt es sie bis heute, auch in der immer stärker säkularisierten Schweiz. Im Bistum Chur übte Bischofsvikar Christoph Casetti die Funktion eines Exorzisten aus. Er verstarb 2020. Danach verzichtete das Bistum darauf, die Exorzistenstelle neu zu besetzen, wie Ende letzten Jahres bekannt wurde. Bischof Joseph Maria Bonnemain begründete den Entscheid persönlich in einem Beitrag des Schweizer Radios. Er sagte: «Wir sind alle Menschen, die Stärken und Schwächen in sich tragen.» Für belastende Situationen gebe es «normale Lösungen, also medizinisch, psychologisch, psychotherapeutisch». Man brauche nicht nach «geheimen Ursachen» zu suchen. Das Bistum Chur mit Sitz im Hauptort des Kantons Graubünden gehört zur römisch-katholischen Kirche, einer der drei Landeskirchen in der Schweiz. Der 74-jährige Bonnemain steht dem Bistum seit zwei Jahren vor, ernannt von Papst Franziskus. Bischof Bonnemain verfügt über ärztliches Fachwissen. Bevor er sich der Theologie zuwandte, schloss er ein Medizinstudium ab. Als Priester war er Spitalseelsorger im Kanton Zürich. In seiner ganzen geistlichen Laufbahn habe er nie eine Person getroffen, bei der er einen grossen Exorzismus für nötig gehalten hätte, sagte Bonnemain am Radio. Gläubige in seelischer Not bräuchten «Unterstützung, Gebet, geeignete Gottesdienste, aber nicht unbedingt einen Exorzismus». Mit Weihwasser und Kruzifix Mit dem Streichen des Exorzisten beendete der neue Bischof von Chur ein Angebot, für das die Diözese zuvor weit herum bekannt gewesen war. Beobachter bringen den Schritt in Zusammenhang mit einem Richtungsstreit zwischen Konservativen und Reformkräften, der das Bistum seit mehr als dreissig Jahren prägt. Zwei von Bonnemains Vorgängern, die Bischöfe Wolfgang Haas (1988 bis 1997) und Vitus Huonder (2007 bis 2019), waren ausgesprochen konservativ und polarisierten stark. Der aktuelle Bischof gilt als vergleichsweise offen Das Bistum Chur streicht den Exorzisten In den vergangenen Jahren war am Bistum Chur ein Exorzist tätig, um Gläubige von angeblichen Dämonen zu befreien. Nach seinem Tod wird die kontrovers beurteilte Funktion nicht wieder besetzt. Für seelisch belastete Menschen gebe es Therapien, sagt der neue Bischof. und dialogbereit. Er soll von Rom den Auftrag erhalten haben, die Gräben in dem fast 700000 Katholikinnen und Katholiken zählenden Bistum zuzuschütten. Dieses umfasst neben ländlichen Kantonen auch die Metropole Zürich. Exorzismus hat in der katholischen Kirche eine lange Tradition. Sie kennt den kleinen und den grossen Exorzismus. Ersterer besteht aus einem Gebet, Letzterer folgt einem Ritual, das Domherr Christoph Casetti († 2020), lange der «bekannteste Teufelsaustreiber der Schweiz», war der letzte Exorzist des Bistums Chur. Foto Keystone Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 10 Gesellschaft
terglaube traditionell dazugehört. Aber auch pfingstlich-charismatische Freikirchen in der Schweiz führen Befreiungsdienste durch. Zu einem solchen Dienst berufen sieht sich überdies ein Heilsarmee-Offizier im Kanton Zürich, er erhält viel Zulauf. Als «Ruqya» spielt die Austreibung böser Geister in manchen Richtungen des Islam eine Rolle, sie wird laut Schmid auch in der Schweiz ausgeübt. Der Experte erwähnt zudem boomende esoterische oder neoschamanische Weltbilder, in denen es böse Geister aus Wohnraum zu vertreiben gelte. Kein Monopol Nicht selten nehmen Menschen nacheinander die Dienste unterschiedlicher Anbieter in Anspruch, weiss Schmid: «Für die Wirksamkeit der exorzistischen Praxis sprechen solche ‹Karrieren› nicht.» Fest steht: Auf Geisteraustreibungen hat die katholische Kirche in der Schweiz kein Monopol, und im Bistum Chur sind sie in alter Form nicht mehr zu haben. Weiterhin über Befreiungsdienste verfügen das Bistum Lausanne, Genf, Freiburg und das Bistum Basel. In der Romandie versehen zwei vom Bischof ernannte Exorzisten den Dienst, in Basel ist der emeritierte Weihbischof Martin Gächter beauftragt. Beidenorts betont man, eng mit Psychiatern zusammenzuarbeiten. Geplagten Menschen, die an ihn gelangten, höre er in erster Linie zu und spreche dann ein Befreiungsgebet, sagt Gächter dem Nachrichtenportal «kath.ch». Einen grossen Exorzismus habe er in dreissig Jahren erst einmal durchgeführt. Für die Befreiung der Frau von den Dämonen habe es fünfzehn Sitzungen gebraucht. ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Der Exorzist fordert dabei den Dämon auf, aus dem Körper der als besessen betrachteten Person zu weichen. Neben Gebeten kommen Hilfsmittel wie Weihwasser und Kruzifixe zum Einsatz. In der Schweiz werden, wenn überhaupt, mehr kleine als grosse Exorzismen durchgeführt. Ermächtigt dazu sind vom Bischof ernannte Priester. Christoph Casetti war im Bistum Chur der oberste Exorzist. Noch in seiner Todesanzeige ist erwähnt, dass er die Aufgabe seit 2014 offiziell innehatte, nebst anderen Ämtern. Kritische Stimmen Ein Radiosender aus Deutschland nannte Casetti einmal den «bekanntesten Teufelsaustreiber der Schweiz». Er selber verteidigte mehrmals öffentlich die katholischen Rituale gegen kritische Stimmen innerhalb und ausserhalb der Kirche. Diese warfen dem Bistum Chur vor, mit dem Exorzismus ein traditionalistisch-autoritäres Weltbild zu pflegen. Der Teufel sei immer ein Druckmittel einer schwarzen Kirchenpädagogik gewesen, sagte ein Luzerner Theologe 2017 im Schweizer Fernsehen. Psychiatrische Fachleute sahen das Risiko, dass Gläubige mit psychischen Erkrankungen bewährte Therapien nicht in Anspruch nehmen. Der Mann in Chur widersprach: Ein Priester dürfe erst einen Exorzismus in Erwägung ziehen, wenn eine Erkrankung ausgeschlossen worden sei. Auch das Etikett finsteres Mittelalter wies Casetti zurück. Exorzismen seien gegen «widergöttliche Mächte» in allen Zeiten nötig, schon Jesus habe «geheilt und befreit». Monatlich erhielt der Churer Exorzist nach eigenen Angaben Dutzende Anfragen von Menschen, die sich von einem bösen Geist besessen fühlten. Darunter nicht nur Gläubige aus dem Bistumsgebiet, sondern auch viele aus Deutschland. Experte begrüsst Verzicht Laut dem Religionsexperten Georg Schmid war das Bistum Chur ein Anziehungspunkt für Menschen aus dem deutschen Sprachraum, die einen Exorzismus suchten. Er bezeichnete das Bistum einmal als «Hotspot exorzistischer Tätigkeit». Schmid leitet die evangelische Informationsstelle Relinfo nahe Zürich, die Menschen aller Glaubensrichtungen berät. Aus Sicht von Relinfo sei der Verzicht des Bistums Chur auf einen offiziellen Exorzisten zu begrüssen, sagt er: «Wenn Menschen sich von bösen Geistern belastet fühlen und sich deswegen an die Kirche wenden, ist ihnen nach unserer Erfahrung mit seelsorgerlicher Begleitung weit besser geholfen als mit exorzistischen Ritualen.» Relinfo erhielt in den vergangenen Jahren vermehrt Anfragen zum Thema Exorzismus oder Befreiungsdienste, wie das Austreiben böser Geister auch genannt wird. Die Zunahme sei teilweise auf Migration aus Ländern zurückzuführen, in denen der GeisMit seinem Entscheid, die Stelle des Exorzisten nicht mehr zu besetzen, grenzt sich der Churer Bischof Joseph M. Bonnemain auch von seinen ausgesprochen konservativen Vorgängern ab. Foto Keystone Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 11
Dawid Burljuk: In der Stadt, Winter. Undatiert. Öl auf Leinwand. Kliment Redko: Kyivo-Pecherska Lavra. 1914. Öl auf Leinwand. Wilhelm Kotarbinskyi: Am Altar. Undatiert. Öl auf Leinwand. Yuliy Klever (Julius von Klever): Winter-Sonnenuntergang. 1885. Öl auf Leinwand. Alle Bilder: The Kyiv National Art Gallery. © ProLitteris, Zürich Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 12 Gesehen
Kunst aus der Ukraine im Schweizer Exil Der Krieg Russlands gegen die Ukraine bedroht auch das kulturelle Erbe. Die nationale Gemäldegalerie in Kiew gehört zu den ältesten und bekanntesten Kunstmuseen des Landes. Sie beherbergt mehr als 14 000 Exponate aus dem 13. bis zum 21. Jahrhundert. Weil es für die Werke an genügend Schutzräumen mangelt, suchten die Verantwortlichen nach Museen im Ausland, die Teilen der hochkarätigen Sammlung vorübergehend Schutz bieten können. Rund 100 Gemälde fanden ein temporäres Zuhause in der Schweiz – in den Kunstmuseen von Basel und Genf. Beide Häuser präsentieren je rund 50 Werke in Ausstellungen mit unterschiedlichem Fokus. In Basel sind unter dem Titel «Born in Ukraine» Gemälde diverser Künstlerinnen und Künstler zu sehen, die auf ukrainischem Boden geboren wurden. Das Projekt trägt auch der besonderen Geschichte der Kiewer Gemäldegalerie Rechnung, die während der Sowjetzeit als Museum für russische Kunst bekannt war. Seit 2014 engagiert sich die Galerie für eine kritische Lektüre und Erforschung der eigenen Sammlung, die das Klischee einer vermeintlich homogenen russischen Kunst in Frage stellt. Das Genfer Musée Rath wiederum zeigt einen Teil einer Ausstellung, die 2022 in Kiew zu sehen war – anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der nationalen Gemäldegalerie. Unter dem Titel «Du crépuscule à l’aube» (Von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen) werden Werke ukrainischer Malerinnen und Maler präsentiert, die sich dem besonderen Licht nächtlicher Stunden widmen. THEODORA PETER Sinaida Serebryakowa: Selbstbildnis. 1923 – 1924. Öl auf Leinwand. «Born in Ukraine» im Kunstmuseum Basel Bis 30. April 2023. www.kunstmuseumbasel.ch «Du crépuscule à l’aube» im Musée Rath Genf Bis 23. April 2023. revue.link/rath Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 13
DÖLF BARBEN Was ist das? Wirklich gut sieht der rätselhafte Gegenstand nicht aus. Eher so, als hätte ein Kind gebastelt – ein Figürchen aus Papier mit einem dunklen Mantel und zwei winzigen Antennen. Doch der Unterschied zwischen Schein und Sein könnte kaum grösser sein. Dieses Fetzchen Papier ist eine Batterie, erfunden und entwickelt in der Schweiz, an der Empa, der eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt. Sie ist so aussergewöhnlich, dass sie es 2022 auf die alljährlich publizierte Liste mit den weltweit besten Erfindungen schaffte. Die Liste des US-Magazins Time umfasst «200 Innovationen, die unser Leben verändern», wie die Jury es formulierte. Es sind Erfindungen aus allen Lebensbereichen: Ein intelligenter Wassersprinkler und ein neuartiger Haartrockner sind dabei. Genauso wie ein Mikroskopaufsatz fürs Smartphone und das James Webb-Weltraumteleskop. Und irgendwo dazwischen in der Kategorie «Experimental»: die kleine, unscheinbare, leicht unförmige Schweizer Papierbatterie. Wie gut das Empa-Stromspeicherchen bei der Jury angekommen ist, zeigt sich daran, dass es nicht bei den Gadgets, den technischen Spielereien eingeteilt wurde. So wie die Kopfhörer, die man beim Schwimmen tragen kann, oder der Babyflaschen-Wärmer für unterwegs. Und es läuft auch nicht unter Fun Stuff, den lustigen Dingen. So wie die Indoor-Gartenanlage für Anfänger oder der Teddy, der einen umarmen kann. Das Zauberpapierchen des Holzmagiers Wie eine winzige Batterie aus der Schweiz den Weg auf die Liste der weltweit besten Erfindungen schaffte. Die Papierbatterie ist eine der wenigen Erfindungen, die von der Jury mit dem Prädikat «Durchbruch» geadelt wurde. Sie steht damit in einer Reihe mit einem Corona-Atemtest und der neuen Rakete der US-Weltraumbehörde Nasa. Ein Fetzchen Papier neben einer Weltraumrakete: Was die Grösse der kleinen Erfindung ausmacht, kommt im Titel zum Ausdruck, der auf der Time-Website über dem Foto des Batterieleins steht: Reduzieren von Elektroschrott. Das ist der springende Punkt. Das Papier, aber auch die anderen Komponenten sind biologisch abbaubar. Die Erfindung ist deshalb nicht bloss ein Durchbruch – sie gilt als ökologischer Durchbruch. Geschafft haben ihn Gustav Nyström und sein Team. Der gebürtige Schwede leitet an der Empa seit 2018 die Abteilung Cellulose & Wood Materials. In seinem Labor geht es also um den Hauptbestandteil pflanzlicher Zellwände, die Zellulose, und um Holz. Beides sind nachhaltige Biomaterialien. Schon als Doktorand befasste Nyström sich mit leitfähigen, natürlichen Stoffen. Bald einmal hatte er «erste Ideen», die in Richtung eines biologisch abbaubaren Stromspeichers wiesen. An der Empa fand er den idealen Arbeitsplatz, «denn hier dreht sich eigentlich alles um die Begriffe erneuerbar und nachhaltig», sagt er. Auf der Empa-Website findet sich ein Text über ihn, darin wird er als «Holzmagier» bezeichnet. Die Empa ist tatsächlich längst nicht mehr bloss die «Anstalt für die Prüfung von Baumaterialien», als die sie im Jahr 1880 gegründet worden war. In den letzten Jahrzehnten hat sie sich zu einer weitverzweigten Forschungseinrichtung entwickelt. Ihre Kernaufgabe sieht sie darin, Forschung zu betreiben, die einen Nutzen hat – für die Wirtschaft, aber auch für die Gesellschaft. Dabei scheint der gesellschaftliche Aspekt Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Die Erfindung der extremsten Batterie. Was die Pinzette hier fasste, sieht aus wie eine halb geglückte Bastelei, ist aber eine der weltbesten Erfindungen des Jahres 2022. Foto Empa Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 14 Reportage
Ein Wassertropfen als Schalter Die Empa-Batterie besteht aus einem kleinen Papierstreifen, auf den drei verschiedene Tinten aufgedruckt sind. Die Tinte auf der Vorderseite enthält Graphitflocken und ist der positive Pol der Batterie. Die Tinte auf der Rückseite ist mit Zinkpulver versetzt; sie bildet den negativen Pol. Eine dritte Spezialtinte ist beidseitig über den anderen Tinten angebracht. Der ganze Papierstreifen wiederum enthält Salz. Der Clou ist die Art, wie die Batterie aktiviert wird: Dafür genügt ein Wassertropfen. Sobald das Papier feucht wird, löst sich das Salz auf. Nun kann der Strom fliessen. Bleibt das Papier aber trocken, bleibt auch die Ladung erhalten. Der Wasserschalter hat jedoch einen Nachteil: Die Batterie funktioniert nur so lange, wie das Papier feucht ist; bei einem Versuch lief ein kleiner Wecker ungefähr eine Stunde lang. Es sind aber auch andere Auslöser denkbar: so etwa Druck, Wärme oder ein externes elektromagnetisches Feld. (DB) flug ansetzen? Einzelne Firmen hätten bereits Interesse signalisiert, sagt Nyström. Ob daraus aber etwas werde, sei noch offen. Klar ist hingegen eines: Er und seine Leute forschen weiter. Bereits weit fortgeschritten ist ein abbaubarer Superkondensator auf Papierbasis. Eine andere Idee geht in Richtung eines Displays, also eines Anzeigefeldes. «Wir sehen viele spannende Wege vor uns», sagt Gustav Nyström. Bleibt eine letzte Frage an den Erfinder des Zauberpapierchens: Welche anderen Erfindungen auf der Liste des Time-Magazins faszinieren ihn? Die Antwort ist bezeichnend: Nyström erwähnt nicht das ChamäleonAuto, das seine Farbe verändern kann. Auch nicht die künstliche Intelligenz, die Bilder malt. Die Erfindungen, die er als «besonders interessant» einstuft, haben mit Nachhaltigkeit zu tun – zum Beispiel die Geräte und Methoden, mit denen sich CO₂ aus der Atmosphäre entfernen lassen. Video (in Englisch): revue.link/empa für Gustav Nyström sogar im Vordergrund zu stehen. Er ist zwar Physiker, tönt aber eher wie ein Umweltwissenschaftler. Wie die Papierbatterie funktioniert, erklärt er gern (siehe untenstehenden Kasten). Bald jedoch kommt er auf das «übergeordnete Thema» zu sprechen, die möglichen umweltfreundlichen Anwendungen und den «schonenden Umgang mit der Umwelt». Der 41-Jährige hat drei Kinder. Mit seiner Arbeit wolle er «vor allem zu einer besseren Zukunft beitragen», sagt er. Eine richtig starke Batterie ist die Papierbatterie nicht. Das ist auch nicht nötig. Es gibt inzwischen eine breite Palette von kleinen EinwegElektronikgeräten, die mit sehr wenig Strom auskommen. Das können medizinische Diagnosegeräte sein oder sogenannte intelligente Verpackungen: Dabei wird die Batterie in eine Versandbox integriert. Damit ist es möglich, eine Sendung zu verfolgen oder bei empfindlicher Ware wie Impfstoffen unterwegs sogar die Temperatur zu überwachen. Eine weitere Möglichkeit sieht Nyström bei den «Wearables». Das sind Sensoren, die am Körper getragen werden und die Herzfrequenz oder den Blutzuckerspiegel erfassen. Und geradezu ideal wären Papierbatterien bei Messgeräten, die in der Natur draussen eingesetzt werden. Können diese aus irgendeinem Grund nicht mehr eingesammelt werden, ist das kein Problem – weil sie sich im Laufe der Zeit zersetzen. Wird die Papierbatterie nun wie eine Rakete zu einem kommerziellen StratosphärenGustav Nyström forscht und erfindet – doch das «übergeordnete Thema» ist für ihn der «schonende Umgang mit der Umwelt». Foto Empa Erfolgreich kompostiert: Nach zwei Monaten im Erdreich hat sich der ebenfalls von der Empa entwickelte Kondensator aufgelöst. Nur wenige sichtbare Kohlenstoffpartikel bleiben zurück. Ganz ähnlich verhält sich die Papierbatterie. Foto Gian Vaitl / Empa Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 15
Jetzt profitieren und mehr erleben. Swiss Travel Pass: Vom 15. April bis 14. Mai 2023 von der Sonderaktion profitieren und bis zu zwei Reisetage zusätzlich erhalten. Das heisst: Noch mehr Zeit, um die schönsten Sehenswürdigkeiten der Schweiz entlang der Grand Train Tour of Switzerland zu erkunden. MySwitzerland.com/swisstravelpass GoldenPass Express am Morgen in Schönried, Berner Oberland Gratistage sichern 15.04. –14.05.23 Gratistage sichern 15.04. –14.05.23
Was sich so alles im Kreis dreht 3000 Über 3000 Verkehrskreisel sorgen in der Schweiz dafür, dass der Verkehr rund läuft. Das, was oft in der Mitte des Kreisels steht, wirft aber Fragen auf: Es ist Kunst von zweifelhafter Güte. «Kreiselkunst» ist zum festen, abwertenden Begriff geworden. Doch es gibt Hoffnung! Viele der älteren Kreisel werden gegenwärtig zurückgebaut. Und mit ihnen verschwindet auch die spezielle Kunst. 90’000’000’000 Plastikabfälle sind ein schlimmes Erbe. Das Erben im klassischen Sinn wirkt sich dagegen nicht direkt auf die Müllhalden aus: 90 Milliarden Franken werden in der Schweiz pro Jahr von einer Generation an die nächste weitergegeben (2020). Die Summe ist enorm. Mittlerweile ist in der Schweiz jeder zweite Vermögensfranken nicht selbst erarbeitet, sondern geerbt. Nur: Viele erben rein gar nichts. 450’000’000’000 Es gibt in der Schweiz andere verborgene Riesenvermögen: All die Leitungen für Wasser, Abwasser, Strom, Gas und Fernwärme, die in solider Qualität den Boden der Schweiz durchziehen, haben nach neuen Schätzungen einen Wert von 450 Milliarden Franken. Die Behörde will nun diesen Schweizer «Bodenschatz» besser im Auge behalten und ein nationales Leitungsverzeichnis erstellen. 127 Die Schweizer:innen rühmen sich, vieles zu rezyklieren. Aber wer viel rezykliert, ist vielleicht schlicht zu konsumfreudig? Laut der Meeresschutzorganisation Oceancare steckt die Schweiz auf jeden Fall in einer «Plastikkrise»: der Schweizer Pro-Kopf-Verbrauch an Plastik von 127 Kilogramm pro Jahr ist Europarekord. 95 Kilogramm davon werden übrigens – nicht rezykliert. 55 Fast alles lässt sich messen und quantifizieren – selbst die Hoffnung. Für ihren «Schweizer Hoffnungsbarometer» misst die Universität St.Gallen die Hoffnung der Schweizer:innen aus. Der aktuelle Befund (2022): Eine Mehrheit von gut 55 Prozent ist zumindest bezogen aufs persönliche Leben zufrieden und hoffnungsvoll. Und die Hoffnung steigt mit dem Alter: Am wenigsten positiv blicken die 18- bis 29-Jährigen in die Zukunft. ZAHLENRECHERCHE: MARC LETTAU Die «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizer:innen, erscheint im 49. Jahrgang sechsmal jährlich in deutscher, französischer, englischer und spanischer Sprache. Sie erscheint in 13 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 431 000 Exemplaren (davon 253 000 elektronische Exemplare). Regionalnachrichten erscheinen in der «Schweizer Revue» viermal im Jahr. Die Auftraggeber:innen von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Herausgeberin. Alle bei einer Schweizer Vertretung angemeldeten Auslandschweizer:innen erhalten die Zeitschrift gratis. Nichtauslandschweizer:innen können sie für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). ONLINEAUSGABE www.revue.ch REDAKTION Marc Lettau, Chefredaktor (MUL) Stéphane Herzog (SH) Theodora Peter (TP) Susanne Wenger (SWE) Paolo Bezzola (PB; Vertretung EDA) AMTLICHE MITTEILUNGEN DES EDA Die redaktionelle Verantwortung für die Rubrik «Aus dem Bundeshaus» trägt die Konsularische Direktion, Abteilung Innovation und Partnerschaften, Effingerstrasse 27, 3003 Bern, Schweiz. kdip@eda.admin.ch | www.eda.admin.eda REDAKTIONSASSISTENZ Sandra Krebs (KS) ÜBERSETZUNG SwissGlobal Language Services AG, Baden GESTALTUNG Joseph Haas, Zürich DRUCK & Produktion Vogt-Schild Druck AG, Derendingen HERAUSGEBERIN Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO). Sitz der Herausgeberin, der Redaktion und der Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. revue@swisscommunity.org Telefon +41 31 356 61 10 Bankverbindung: CH97 0079 0016 1294 4609 8 / KBBECH22 REDAKTIONSSCHLUSS DIESER AUSGABE 1. Februar 2023 ADRESSÄNDERUNGEN Änderungen in der Zustellung teilen Sie bitte direkt Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit. Die Redaktion hat keinen Zugriff auf Ihre Adressdaten. Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 17 Schweizer Zahlen Impressum
JÜRG STEINER Wie bleibt der Wortschatz einer kleinen, nur von relativ wenigen Menschen gesprochenen Sprache, aktuell? Kann sie sich rasch genug erneuern? «Das kann sie», sagt der Linguist Daniel Telli, «aber man muss etwas dafür tun.» Telli weiss, wovon er redet. Er ist Leiter Sprache bei der Lia Rumantscha, der Förderorganisation der romanischen Sprache und Kultur mit Hauptsitz in Chur. Rätoromanisch, das mehrere Idiome (regionale Varianten) und Dialekte kennt, ist eine kleine Sprache. Laut Bundesamt für Statistik ist Rätoromanisch für konstant rund 40 000 Personen die bestbeherrschte Sprache, rund 60 000 Personen sprechen rätoromanisch. «Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass eine Sprache weniger kann, nur weil sie von verhältnismässig wenigen Menschen gesprochen wird», sagt Daniel Telli. Genauso wie Deutsch, Französisch oder Englisch decke auch Rätoromanisch die ganze Spanne des menschlichen Lebens ab – vom Intimbereich bis zu den grossen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen. L’express da linguas. Der Sprachexpress. Sprachen wandeln sich und nehmen ständig neue Wörter auf. Die «kleine Sprache» Rätoromanisch erneuert sich besonders schnell – manchmal sogar von heute auf morgen. Wäre es anders, würde die Sprache wohl nicht überleben. Ein wichtiger Indikator für die Zukunftsfähigkeit einer Sprache ist ihre Erneuerungskapazität. Wie schöpft man neue Wörter, die eine sich verändernde Realität eigenständig widerspiegeln? In der deutschen Sprache, die für über 100 Millionen Menschen die Muttersprache ist, gibt es dafür gewichtige Instanzen. Das Rechtschreibe-Standardwerk Duden zum Beispiel. In der jüngsten Ausgabe, die 2020 erschien, wurden 3000 Begriffe zu den bestehenden rund 145000 hinzugefügt. Das wissenschaftliche Leibniz-Institut für deutsche Sprache in Mannheim betreibt ein Online-WortschatzInformationssystem, zu dem ein Wörterbuch der Neuschöpfungen – sogenannte Neologismen – gehört. In den vergangenen zehn Jahren fanden da gut 2000 neue Wörter oder veränderte Bedeutungen von Wörtern Eingang. Zudem beobachtet das Institut aktuell ein paar Hundert neu aufgetauchte Wörter – beispielsweise netflixen, Bodypositivity oder 1,5-Grad-Ziel – ehe diese allenfalls in den offiziellen deutschen Wortschatz aufsteigen. In vergleichbarer Art läuft das in anderen grossen Sprachen ab. Das grosse Wörterbuch Die Lia Rumantscha in Chur geht da vergleichsweise pragmatisch – und schnell – vor. Das zentrale Instrument zur Aktualisierung des rätoromanischen Wortschatzes ist Haus/chasa, Fenster/ fanestra, Holztüre/ isch da lain, Erker/ balcun tort: Die prächtige Bündner Fassade lässt sich in Worte fassen. Die grosse Herausforderung sind fürs Rätoromanische moderne, abstrakte Begriffe. Foto Keystone 18 Kultur
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