Schweizer Revue 2/2023

JÜRG STEINER Wie bleibt der Wortschatz einer kleinen, nur von relativ wenigen Menschen gesprochenen Sprache, aktuell? Kann sie sich rasch genug erneuern? «Das kann sie», sagt der Linguist Daniel Telli, «aber man muss etwas dafür tun.» Telli weiss, wovon er redet. Er ist Leiter Sprache bei der Lia Rumantscha, der Förderorganisation der romanischen Sprache und Kultur mit Hauptsitz in Chur. Rätoromanisch, das mehrere Idiome (regionale Varianten) und Dialekte kennt, ist eine kleine Sprache. Laut Bundesamt für Statistik ist Rätoromanisch für konstant rund 40 000 Personen die bestbeherrschte Sprache, rund 60 000 Personen sprechen rätoromanisch. «Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass eine Sprache weniger kann, nur weil sie von verhältnismässig wenigen Menschen gesprochen wird», sagt Daniel Telli. Genauso wie Deutsch, Französisch oder Englisch decke auch Rätoromanisch die ganze Spanne des menschlichen Lebens ab – vom Intimbereich bis zu den grossen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen. L’express da linguas. Der Sprachexpress. Sprachen wandeln sich und nehmen ständig neue Wörter auf. Die «kleine Sprache» Rätoromanisch erneuert sich besonders schnell – manchmal sogar von heute auf morgen. Wäre es anders, würde die Sprache wohl nicht überleben. Ein wichtiger Indikator für die Zukunftsfähigkeit einer Sprache ist ihre Erneuerungskapazität. Wie schöpft man neue Wörter, die eine sich verändernde Realität eigenständig widerspiegeln? In der deutschen Sprache, die für über 100 Millionen Menschen die Muttersprache ist, gibt es dafür gewichtige Instanzen. Das Rechtschreibe-Standardwerk Duden zum Beispiel. In der jüngsten Ausgabe, die 2020 erschien, wurden 3000 Begriffe zu den bestehenden rund 145000 hinzugefügt. Das wissenschaftliche Leibniz-Institut für deutsche Sprache in Mannheim betreibt ein Online-WortschatzInformationssystem, zu dem ein Wörterbuch der Neuschöpfungen – sogenannte Neologismen – gehört. In den vergangenen zehn Jahren fanden da gut 2000 neue Wörter oder veränderte Bedeutungen von Wörtern Eingang. Zudem beobachtet das Institut aktuell ein paar Hundert neu aufgetauchte Wörter – beispielsweise netflixen, Bodypositivity oder 1,5-Grad-Ziel – ehe diese allenfalls in den offiziellen deutschen Wortschatz aufsteigen. In vergleichbarer Art läuft das in anderen grossen Sprachen ab. Das grosse Wörterbuch Die Lia Rumantscha in Chur geht da vergleichsweise pragmatisch – und schnell – vor. Das zentrale Instrument zur Aktualisierung des rätoromanischen Wortschatzes ist Haus/chasa, Fenster/ fanestra, Holztüre/ isch da lain, Erker/ balcun tort: Die prächtige Bündner Fassade lässt sich in Worte fassen. Die grosse Herausforderung sind fürs Rätoromanische moderne, abstrakte Begriffe. Foto Keystone 18 Kultur

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