Schweizer Revue 2/2023

in den neu entstehenden Nationen als unverdächtige Partnerin gegenüber ehemaligen Kolonien auftreten können. Tatsächlich findet selbst in der Politik allmählich ein Umdenken statt. Davon zeugen gemäss SAP-Präsident Sieber die zahlreichen Debatten, Motionen und Interpellationen im eidgenössischen Parlament – «auch wenn es unangenehm ist und am Selbstverständnis der Schweiz als neutraler Staat rüttelt und das Selbstbild einer egalitären, solidarischen und humanitären Nation in Frage stellt». Teil einer weltweiten Debatte Etliche europäische Länder stecken in einer Debatte über koloniale Raubkunst. Einige sprechen offizielle Entschuldigungen aus wie die Niederlande. Andere, wie die belgischen und britischen Royals, belassen es bei Worten des Bedauerns. Und wieder andere sind bereits zur Tat geschritten. So brachte Deutschland Ende 2022 erste Bronzen nach Nigeria zurück. Das Königtum Benin im heutigen Nigeria wurde 1897 von britischen Kolonialtruppen angegriffen, Tausende Objekte wurden aus dem Palast des Königs geplündert und gelangten über den Kunsthandel in nienzforschung, kennt die Schweiz vor allem im Zusammenhang mit Raubgold respektive Raubkunst aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Expertengruppe unter der Leitung des Historikers Jean-François Bergier legte 2002 dem Bundesrat in einem umfassenden Bericht dar, dass die Schweizer Wirtschaft eng mit dem nationalsozialistischen Regime kooperierte. Kunstwerke, die während des Nationalsozialismus in Deutschland (1933 bis 1945) gehandelt wurden, fanden Eingang in private und öffentliche Sammlungen. Abklärungen, ob es sich dabei um Nazi-Raubkunst handelt, sind aus heutiger Sicht ein Muss. Sichtbar macht dieses Engagement etwa das Berner Kunstmuseum, das 2014 den Nachlass des Kunstsammlers Cornelius Gurlitt mit Werken aus dieser Zeit akzeptierte. Der Fall Gurlitt wurde zur Zäsur. Der Bundesrat entschied sich in der Folge, den Schweizer Museen jährlich 500 000 Franken für die Provenienzforschung zur Verfügung zu stellen. Damit komme man zwar nicht weit, sagt Joachim Sieber, Präsident des schweizerischen Arbeitskreises für Provenienzforschung (SAP), aber wenigstens sei ein Anfang gemacht. Kolonialzeit rückt in den Fokus der Politik Kulturgüter, die aus dem Handel der Kolonialzeit stammen, sind weitere grosse «Brocken», deren sich die Schweizer Provenienzforschung nun annehmen muss. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, besass doch die Schweiz nie Kolonien. Doch für Joachim Sieber ist klar: «Die Schweiz war und ist Teil des europäischen (post-)kolonialen Unternehmens.» Eben weil die Schweiz keine Kolonialmacht war, habe sie – ebenso wie auch Schweizer Unternehmen – nach dem Zusammenbruch der Kolonialreiche beziehungsweise nach 1945 6 Schepenese im gläsernen St.Galler Austellungssarg. Jeden Abend verabschiedet sich das Personal von ihr, zieht ein weisses Tuch über den Sarg und schliesst die Türe. Foto Keystone Kulturgüterstreit unter Eidgenossen Ein sensationeller Globus war Gegenstand eines Kulturraubs unter Eidgenossen: 1712, im Toggenburger Krieg, erbeuteten Zürcher den 2,3 Meter hohen Himmelsglobus von der St. Galler Stiftsbibliothek zusammen mit kostbaren Handschriften. Ein Friedensvertrag regelte zwar die Rückgabe vieler Güter, doch den Globus behielten die Zürcher zurück. Beinahe 300 Jahre später brach um diesen Globus um ein Haar ein innerschweizerischer Rechtsstreit mit Gang vor das Bundesgericht aus: 1996 klopfte die St.Galler Regierung auf den Tisch und verlangte den St. Galler Globus ultimativ von den Zürchern zurück. Unter der Vermittlung des Bundes wurde schliesslich ein gutschweizerischer Kompromiss gefunden. Die Zürcher durften das Original im Landesmuseum in Zürich behalten, mussten aber eine originalgetreue Kopie für die St. Galler herstellen. Bei der Übergabe der Replik im Jahr 2009 einigten sich das Landesmuseum, die Stiftsbibliothek St.Gallen und die Zentralbibliothek Zürich zudem auf den gemeinsamen Aufbau einer digitalen Variante des Globus. Seit Dezember 2022 ist der in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste umgesetzte digitale Globus für die Öffentlichkeit zugänglich (www.3dglobus.ch). Das «Kriegsbeil» zwischen St.Gallen und Zürich scheint damit endgültig begraben. (DLA) Schweizer Revue / März 2023 / Nr.2 6Schwerpunkt

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