Schweizer Revue 5/2023

Das Tessin hat sich in den letzten Hundert Jahren wie keine andere Region in der Schweiz gewandelt. Aus dem Armenhaus von einst ist ein Touristenhotspot geworden. Diese Kluft ruft uns Plinio Martini in «Nicht Anfang und nicht Ende» («Il fondo del sacco», 1970) dramatisch in Erinnerung. Das Buch ist soeben neu auf Deutsch erschienen. Es spielt Ende der 1920er-Jahre in Martinis Heimatregion, dem Val Bavona, einem wildschönen Seitental der Maggia. Weil es an Arbeit fehlt, die Familien aber gross sind, blieb jungen Männern oft nichts anderes als die Auswanderung. Viele von ihnen sangen: «America, America, America, / in America voglio andar!» Doch nicht allen im Tal war es wohl dabei. Speziell die Älteren befürchteten, dass ihre Kinder nie mehr zurückkehren würden, weil sie in der Fremde Erfolg hatten oder weil sie scheiterten und daher die Heimkehr scheuten. Unter den Emigranten ist auch Martinis Erzähler Gori Valdi. Er unterzeichnete den Vertrag, bevor er und Maddalena sich einander ihre Liebe zu gestehen wagten. So verlässt er die Heimat in betrübter Stimmung. 18 Jahre später kehrt Gori zurück. Maddalena ist kurz nach seiner Abreise verstorben. Er ist in Amerika zwar zu Geld gekommen, dafür hat er alle Illusionen verloren. Aus seiner Optik erzählt Plinio Martini, der zeitlebens im Tal geblieben ist, von den ärmlichen Verhältnissen im Val Bavona. Anschaulich, präzise und ohne Beschönigung schildert er die Not, immer untermalt von einer leisen Sehnsucht genau danach. Denn zur Armut gehörten auch gute Nachbarn und melancholische Lieder, die Gori in Amerika vermisst hat. Nun zurückgekehrt, erscheint ihm die Gegenwart schal. Gleich anfangs hält er fest: «Ich verfluche noch heute das Bähnchen, das mich forttrug.» Eine tiefe Trauer umfängt seine Erzählung, die der Suche nach einer verlorenen Zeit gleicht. «Ich begann zu begreifen, dass das Glück aus einem Nichts besteht und dass ich just dieses Nichts, das den Menschen glücklich macht, verloren hatte.» Martinis Roman ist eine wunderbare, sehnsuchtsvolle Erzählung, ein süsses Liebesdrama auch, vor allem aber ist er ein grossartiges Zeitzeugnis. Das Buch steckt voll wunderbarer Charaktere, lebhafter Geschichten und wechselhafter Schicksale, die «sich fast alle tatsächlich ereignet haben». Er, der Verfasser, habe sie nur kraft seiner Fantasie etwas verändert. BEAT MAZENAUER Sie wird ihre musikalische Vergangenheit nicht mehr los. Immer, wenn Jaël ein neues Solo-Album veröffentlicht, hoffen nicht wenige im Publikum auf eine Rückkehr zu den musikalischen Wurzeln – auf ein Werk, das wie der Trip-Hop von Jaëls erfolgreicher Band Lunik in deren früher Phase klingt. Lunik gibt es seit zehn Jahren nicht mehr. Dafür hat die Sängerin aus Bern unterdessen ihr drittes Album unter eigenem Namen veröffentlicht. Es heisst «Midlife» und handelt – wie der Titel sagt – vom Leben der 43-jährigen Frau in der Mitte ihres Lebens. Es ist kein Album über Krisen, denn die zweifache Mutter ist glücklich in ihrem Alltag. Sie ist verheiratet, hat ein funktionierendes Familienleben und ist mit sich im Reinen. Es gehe ihr viel besser als noch Mitte dreissig, erzählt sie in aktuellen Interviews. Die Depressionen und Panikattacken von einst habe sie heute im Griff. Die Standortbestimmung auf «Midlife» ist entsprechend positiv und entspannt. Es geht um ein Mitnehmen und Loslassen. Allerdings nicht nur. Jaël thematisiert im Song «She Only Sings When She’s Drunk» auch mal Alkoholmissbrauch oder in «Paralyzed» einen sexuellen Übergriff, den sie selbst einmal erlebt hat. In «Only Human» singt sie wiederum vom Leben als Mutter: Man solle in dieser Rolle nicht zu streng mit sich sein. Schliesslich sei auch eine Mutter nur ein Mensch. Die Stimme von Jaël ist noch immer glasklar und hoch, wie man es von ihr gewohnt ist, aber weniger mädchenhaft als einst. Getragen wird der fragile Gesang auf «Midlife» hauptsächlich von Klavier und akustischen Gitarren, dazu gibt’s eine luftige, warme Produktion mit viel Tiefe und Raum. Nein, «Midlife» klingt nicht wie Lunik – trotz des Songs «To Miss You», den Jaël zusammen mit ihrem damaligen musikalischen Weggefährten Luk Zimmermann geschrieben und auf dem Werk verewigt hat. Und das ist gut so. «Midlife» ist ein eigenständiges, ruhiges, stimmiges und reifes Pop-Album aus einem Guss. Aus dem Rahmen fällt einzig «IiTii». Das Lied handelt davon, dass sich die Sängerin in dieser Welt manchmal wie eine Ausserirdische fühlt. Es ist Jaëls erster Mundart-Song auf einem regulären Album überhaupt. Erwähnt sei ausserdem: «Midlife» besteht aus zwei Teilen. Auf die Studioproduktion mit elf neuen Songs folgen Liveaufnahmen von der letzten Akustik-Tour. Ob das wirklich ein Mehrwert ist, bleibt Geschmackssache. MARKO LEHTINEN Lieder von einer Lebensmitte ohne Krisen Chronik eines Tales JAËL: «Midlife». Phonag, 2023. PLINIO MARTINI: «Nicht Anfang und nicht Ende». Aus dem Italienischen von Trude Fein. Limmat-Verlag, Zürich 2023, 240 Seiten, 32 Franken. Schweizer Revue / Oktober 2023 / Nr.5 21 Gelesen Gehört

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