führe «in der Summe zu einer Dynamisierung der ohnehin stattfindenden geologischen Prozesse im Berggebiet», ergänzt der Geologe. Das einleuchtendste Beispiel dafür ist die Erhöhung der Permafrostgrenze. Gemeint ist damit die Zone dauerhaft gefrorener Böden aus Fels oder Schutt oberhalb von rund 2500 Metern. Wird es wärmer, geDie Stilisierung der ewigen Berge zum Hort der Sicherheit und Schönheit funktioniert nur, solange man sie unter Kontrolle hat nauestens beobachtete Schwächezone über dem relativ tief liegenden bündnerischen Brienz zum Beispiel hat keinen direkten Zusammenhang mit der Klimaerwärmung. Andererseits ist es denkbar, dass sich die Situation in aus anderen Gründen instabilen Gebieten zuspitzt, wenn als Folge der Klimaerwärmung zum Beispiel Starkniederschläge zunehmen. Oder wenn der Schutzwald geschwächt wird, weil einzelne Baumarten mit grösserer Trockenheit nicht klarkommen. Millionen für Überwachung und Vorsorge Die Geografin Käthi Liechti ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Gebirgshydrologie und Massenbewegungen an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Sie verantwortet die Unwetterschadens-Datenbank, die auch Bergstürze und Steinschläge umfasst und seit über 50 Jahren nachgeführt wird. Eine klare Aussage über die Zu- oder Abnahme von Schadensereignissen in den Bergen lasse sich aber nicht machen, hält sie fest. Einer der Hauptgründe: Es verändern sich nicht nur die natürlichen Rahmenbedingungen, sondern auch die Art und Weise, wie Behörden und Bevölkerung mit den bröckelnden Alpen umgehen. Die Siedlungsfläche der Schweiz wächst, die Infrastruktur wird wertvoller – damit Über eine Million Kubikmeter Geröll donnerte in der Nacht auf den 16. Juni 2023 vom Piz Linard aufs zuvor evakuierte Bündner Bergdorf Brienz zu. Foto Keystone spitzt sich das Risiko zu, dass zum Beispiel ein Bergsturz grossen Schaden anrichtet. Man könnte sagen: Unabhängig davon, ob die Zahl geologischer Sturzereignisse mit der Klimaerwärmung zunimmt oder nicht, exponierter ist die Schweiz auf jeden Fall geworden. Auf der anderen Seite sind laut Liechti die organisatorischen und technischen Schutz- und Überwachungsmassnahmen ausgereifter als früher. Sie meint damit Prognose- und Frühwarnsysteme, aber auch bauliche Massnahmen wie Rückhaltebecken oder Schutzwälle. «Für den Schutz vor Naturgefahren wenden Bund und Kantone heute jährlich mehrere Hundert Millionen Franken auf», sagt Liechti zur «Schweizer Revue». Schäden würden so erfolgreich minimiert: Auf jeden Fall hätten sich die Schadenssummen über die letzten Jahrzehnte hinweg nicht signifikant verändert, so Liechti. Schicksalshafte Katastrophen, zähmbare Naturgefahren Salopp gesagt: Bröckeln die Berge stärker, erhöht die Schweiz den Einsatz, sie im Griff zu behalten. Historisch gesehen geht sie damit den Weg weiter, Sturzereignisse in den Bergen von schicksalshaften Katastrophen zu zähmbaren Naturgefahren umzudeuten. 1806 hörten die Einwohnerinnen und Einwohner von Goldau (SZ) in der Nacht oben am Rossberg monatelang Wurzeln knacken und sahen im Hang sich öffnende Spalten. Eine Reaktion blieb aus, von vorsorglicher Evakuation redete niemand. Als Anfang September nach starken Regenfällen riesige Gesteinspakete abrutschten, begruben sie fast 500 Personen unter sich und zerstörten einen Grossteil von Goldau. 75 Jahre später liessen sich die Gottesdienst-Besucher in der Kirche von Elm nicht beunruhigen, als sie an eiraten diese Böden in Bewegung. Sie tauen auf und gefrieren wieder, was zu Rutschungen, Sackungen oder Felsstürzen führen kann. Aus dem Trend zur Dynamisierung sollte man aber nicht vereinfachende Schlüsse ziehen, sagt Geologieprofessor Anselmetti: Etwa, dass jeder Erdrutsch oder Bergsturz eine Folge der Klimaerwärmung sei. Oder dass die Gefahren wegen dem veränderten Klima automatisch grösser würden. Die seit Jahrzehnten bekannte und geSchweizer Revue / Oktober 2023 / Nr.5 6 Schwerpunkt
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