9 THEODORA PETER Seit dem Abbruch der Verhandlungen für ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU sind mehr als zwei Jahre vergangen. In dieser Zeit sondierte die Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu in Brüssel, wie bei umstrittenen Punkten eine Einigung erzielt werden könnte. Dabei geht es zum Beispiel um Fragen rund um den Lohnschutz, staatliche Beihilfen oder den Bezug von Sozialhilfe durch EU-Bürgerinnen und -Bürger in der Schweiz. Leu wird aber bei künftigen Verhandlungen nicht mehr mit am Tisch sitzen. Sie gab das EU-Dossier Ende August ab und wird neue Botschafterin in Berlin. Der Zeitpunkt für den Wechsel sei «günstig», erklärte die 62-Jährige in Zeitungsinterviews. Noch während ihrer Amtszeit verabschiedete der Bundesrat Ende Juni sogenannte Eckwerte für ein formelles Verhandlungsmandat. «Das ist ein sehr wichtiger Schritt in Richtung Verhandlungen», betonte die abtretende Staatssekretärin. Unter ihrer Leitung fanden insgesamt zehn Sondierungsrunden und rund dreissig technische Gespräche statt. Die matchentscheidende Schlussphase steht aber noch bevor: «Der Pass ist gespielt, aber der Ball muss noch ins Tor.» Neuer Staatssekretär am Ball Den Ball weiter dribbeln soll nun Leus Nachfolger Alexandre Fasel. Der neue Staatssekretär im Aussendepartement ist in den letzten neun Jahren bereits der sechste Schweizer Spitzendiplomat, der sich um das heisse EU-Dossier kümmert. Der 62-jährige Freiburger verbrachte fast sein ganzes Berufsleben im Dienst der Diplomatie, unter anderem als Botschafter in London und zuletzt als Sonderbeauftragter für Wissenschaftsdiplomatie in Genf. Die Ausnahme im Lebenslauf betrifft einen Abstecher zur Credit Suisse Anfang der 2000er-Jahre: Bei der damaligen Grossbank war Fasel während drei Jahren für das Formel-1-Sponsoring zuständig. Auf die Frage eines Journalisten, ob sich die Passion für das hohe Tempo bei Autorennen auch in der Europapolitik zeigen werde, antwortete Fasel diplomatisch: «Ich bin auch genügend Bergler, um zu wissen, dass der stetige Schritt am weitesten führt.» Mit den vor den Sommerferien verabschiedeten Eckwerten hat der Bundesrat die roten Linien vorgespurt, die im Hinblick auf neue Verhandlungen nicht überschritten werden sollen. Die konkreten Vorgaben bleiben aus verhandlungstaktischen Gründen geheim. Öffentlich bekräftigt hat die Landesregierung aber das Ziel, «den bisherigen bilateralen Weg zu stabilisieren und ihn massgeschneidert weiterzuentwickeln.» Dabei möchte der Bundesrat nicht nur die bisherigen Abkommen erneuern – unter anderem zur Personenfreizügigkeit –, sondern auch neue Verträge abschliessen, etwa zur Stromversorgung. Als weiteres Ziel nennt die Regierung die Wiederaufnahme der Schweiz in das laufende Forschungsprogramm Horizon Vor neuem Anlauf für Verhandlungen mit der EU Noch ist die bilaterale Beziehungskrise zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) nicht überwunden. Trotzdem scheint die Zeit reif für eine Annäherung. Der Bundesrat will bis Ende Jahr über ein konkretes Verhandlungsmandat entscheiden. Europe. Denn das helvetische Abseitsstehen hat für den Wissenschaftsstandort Schweiz schmerzliche Folgen (siehe auch «Schweizer Revue» 5/22). Bis Ende Jahr sollen die weiteren Sondierungen so weit abgeschlossen sein, dass der Bundesrat in der Folge entscheiden kann, ob er ab 2024 in formelle Verhandlungen mit der EU einsteigen will. Bis die bilaterale Beziehungskrise tatsächlich überwunden ist, dürfte es aber noch länger dauern. revue.link/europapolitik Die abtretende Chefunterhändlerin Livia Leu griff bei ihrem Rücktritt zur Fussballmetapher: «Der Pass ist gespielt, aber der Ball muss noch ins Tor» Alexandre Fasel ist der sechste Schweizer Spitzendiplomat innert neun Jahren, der sich ums heisse EU-Dossier kümmert. Fotos Keystone Schweizer Revue / Oktober 2023 / Nr.5 Nachrichten
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