Schweizer Revue 6/2023

DEZEMBER 2023 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Wahlen 2023: Die Schweiz rückt nach rechts, doch die linke SP hält etwas dagegen Klimaschutz als Menschenrecht: Warum Schweizer Seniorinnen wie Rosmarie Wydler-Wälti vor Gericht gingen Von 0 auf 100 km/h in weniger als einer Sekunde: Schweizer Studierende feiern einen elektrisierenden Rekord

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Die Wählerinnen und Wähler rückten die Schweizer Politik klar nach rechts: So lautet die Kürzestzusammenfassung der Wahlen vom 22. Oktober 2023. Die grösste und rechtskonservative Partei, die SVP, jubelt. Aber ist es ein simpler Rechtsrutsch? Zugelegt hat auch die sozialdemokratische Partei. Wenn rechts und links zulegen, reicht die ganz simple Antwort nicht. Ein Deutungsversuch für die Stärkung beider Pole: Seit den Wahlen von 2019 haben sich die Weltlage und die Grundstimmung im Lande enorm verändert. Die Pandemie setzte Selbstverständliches ausser Kraft; der Angriff Russlands auf die Ukraine pulverisierte geopolitische Gewissheiten; der Gewaltausbruch im Nahen Osten schockiert; und dazwischen zersetzte die Implosion der Grossbank Credit Suisse und die Explosion von Wohnungsmieten und Gesundheitskosten den Glauben an eine Schweiz der Prosperität und Stabilität. Es ist nicht, wie es sein sollte. In solchen Zeiten punkten Parteien, die Schutz versprechen, sagt Politologe Michael Hermann: «Die SP sagt: Wir schützen euch vor hohen Kosten. Und die SVP: Wir schützen euch vor Migration und anderem Unbill auf der Welt.» Die Verlierer hingegen, zu denen diesmal die Grünen, die Grünliberalen und der Freisinn zählen, wollten die Menschen in die Pflicht nehmen: zu verzichten, sich den Veränderungen zu stellen oder mehr zu leisten. – Die Mehrheit, 53,4 Prozent der Stimmberechtigten, liess 2023 das Wählen bleiben, wollte nicht in die Pflicht genommen werden, nicht mitbestimmen. Für sie ist Politik das Business der anderen. Wollen wir hier kurz den Rückzug ins Unpolitische durchspielen? Ich könnte etwa verraten, warum mir die Rösti so oft so gut gelingt. Der Teufel liegt im Detail: Kartoffel ist nicht gleich Kartoffel! Am besten eignen sich leicht mehlig kochende Knollen. Diese kochen Sie zunächst, aber – wichtig! – nur al dente. Dann darf man sie für zwei, drei Tage im Kühlschrank vergessen: Sie verlieren dabei Feuchtigkeit und erhalten die perfekte Konsistenz. Anschliessend geraffelt – mit etwas Pfeffer, genügend Salz und verschwenderisch viel Butter – ab in die Bratpfanne und ohne zu rühren bei mässiger Hitze brutzeln lassen! Und das nächste Mal fügen Sie beim Würzen – Geheimtipp! – etwas Pfefferminze bei. Gelingt sie perfekt, kann die Rösti Glücksgefühle auslösen. Das Pech ist bloss: Sogar die Rösti ist politisch. Heuer war die Kartoffelernte in der Schweiz miserabel. Agrarfachleute reden bereits vom nahenden Ende: Bis in etwa 100 Jahren lasse sich die Kartoffel hierzulande gar nicht mehr anbauen (Seite 9). Der Klimawandel – und damit die Politik – wirkt ganz konkret bis in die Küche, selbst dann, wenn wir an der Wahlurne nichts davon wissen wollen. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Wahlen 2023: Das Parlament wird deutlich rechtskonservativer 8 Herausgepickt / Nachrichten Zu Besuch in der Schweizer Postfiliale des Weihnachtsmanns 10 Natur und Umwelt Der Klimawandel setzt der Kartoffel zu, was den Streit ums Wasser anheizt 14 Literaturserie 15 Kultur Der kulturhistorische Blick auf die Sprachenvielfalt der Schweiz 16 Porträt Die 73-jährige «Klimaseniorin» Rosmarie Wydler-Wälti fordert die Schweiz heraus 18 Wissen Wie beschleunigt man ein Elektromobil in einer Sekunde von 0 auf 100 km/h? 20 Reportage Der Staat schützt mit einem uralten Monopol das Schweizer Salz 23 Gelesen/Gehört 24 Aus dem Bundeshaus Die internationale Ausstrahlung der Schweizer Kunst 27 SwissCommunity-News 31 Diskurs Rechtsrutsch & Röstirezept Titelbild: Wahlen 2023 – Max Spring zeichnet für die «Schweizer Revue». www.maxspring.ch Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 3 Editorial Inhalt

THEODORA PETER Für die Schweizer Grünen und Grünliberalen bleibt der 22. Oktober 2023 als schwarzer Sonntag in Erinnerung. Vier Jahre nach ihrem erdrutschartigen Wahlsieg müssen die Klimaparteien im Nationalrat Federn lassen. Die Parteistärke der Grünen fällt von rekordhohen 13,5 auf 9,8 Prozent zurück – und damit knapp unter die symbolische 10-Prozent-Marke. Für die Partei ist es ein schwacher Trost, dass sie immerhin zwei Drittel der 2019 eroberten Nationalratssitze verteidigen kann. Ihr haftet nun trotzdem das Verliererimage an. Das gilt auch für die Grünliberalen (GLP): Auch sie verlieren einen Drittel der bisherigen Sitze und kommen neu auf einen Wähleranteil von 7,6 Prozent. Umso stärker strahlt die Sonne an diesem Herbstsonntag für die SVP. Die rechte Volkspartei baut ihren Wähleranteil von 25,6 auf 27,9 Prozent aus. 2019 war die SVP noch die grosse Verliererin der Klimawahl gewesen. Vier Jahre später holt sie im Nationalrat auf einen Schlag drei Viertel der damals eingebüssten Sitze zurück. Damit knüpft die Rechtspartei an ihren bisher grössten Wahlerfolg von 2015 an, als sie fast 30 Prozent der Wählerstimmen hinter sich scharen konnte. Angesichts der unsicheren Weltlage und zunehmender Flüchtlingszahlen konnte die SVP mit ihrem Kernthema punkten – dem Kampf gegen die Zuwanderung. Noch während des Wahlkampfs lancierte sie die sogenannte «Nachhaltigkeits-Initiative» Die Schweiz rückt nach rechts mit der sie die Zahl der Wohnbevölkerung in der Schweiz auf 10 Millionen begrenzen will. Zweitstärkste Partei bleibt die SP mit 18,3 Wählerprozenten. Mit einem Zuwachs von 1,5 Prozent konnten die Sozialdemokraten bei früheren Wahlen erlittene Verluste weitgehend wieder gutmachen – nicht aber den Einbruch der Grünen kompensieren. Insgesamt geht das linksgrüne Lager deshalb geschwächt aus den Wahlen 2023 hervor. Die Linke wird künftig noch stärker auf Volksinitiativen und Referenden setzen müssen, um ihren Anliegen an der Urne zum Durchbruch zu verhelfen. Innerhalb des Parlamentes sind SP und Grüne wie bisher auf Allianzen angewiesen – insbesondere mit der Mitte. Mitte als Mehrheitsbeschafferin Die 2021 aus einer Fusion von CVP und BDP hervorgegangene Mitte-Partei hat sich im Wahlkampf geschickt als bürgerlich-soziale Kraft zwischen den politischen Polen positioniert. Sie wird auch in Zukunft im Parlament das Zünglein an der Waage spielen. Unter dem neuen Label legte die Partei leicht zu und erreicht neu einen Wähleranteil von 14,1 Prozent. Damit holt die Mitte fast zur FDP auf, die nur noch 14,3 Prozent der Wählenden hinter sich scharen konnte. Mit einem Minus von 0,8 Prozent befinden sich die Freisinnigen – wie bereits vor vier Jahren – im KrebsDie grüne Welle ist verebbt. Die rechtskonservative SVP gewinnt die nationalen Wahlen mit dem Fokus auf die Migration. Sorgen machen der Bevölkerung aber auch die hohen Gesundheitskosten. Das stärkt SP und Mitte. Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 4 Schwerpunkt

2023 2019 SP 18,3% SP 16,8% Grüne 9,8% Grüne 13,2% GLP 7,6% GLP 7,8% EVP 2,1% BDP* 2,4% Die Mitte* 14,1% EVP 2,0% CVP* 11,4% FDP 14,3% FDP 15,1% SVP 27,9% SVP 25,6% Weitere 6,0% Weitere 3,4% 5 Die Kräfteverteilung im neu gewählten Nationalrat: Nebst der Zahl der Sitze ist die Wählerstärke der einzelnen Parteien in Prozent angegeben. Der innere Halbkreis stellt die Ergebnisse der Wahlen 2019 dar. Zu den «Weiteren» zählen neu die Kleinparteien EDU (2 Sitze), Mouvement Citoyens Genevois (2 Sitze) und dei Lega die Ticinesi (1 Sitz). *Die Mitte ging aus der Fusion der 2019 noch separat antretenden CVP mit der BDP hervor. 41 39 23 28 10 16 3 25 3 28 28 62 53 4 5 kenkassen-Prämien als ausschlaggebend. Ein Drittel der Befragten wechselte aus Unzufriedenheit gar die Partei-Präferenz. «Allerdings kann keine Partei diese Thematik so besetzen, wie dies die SVP mit der Migration beansprucht», sagte Bütikofer in einem Interview mit Radio SRF. Im Nationalrat sinkt der Frauen- anteil von zuvor rekordhohen 42 auf 38,5 Prozent. Grund ist der hohe Männeranteil in der erstarkten SVP gang. Dieser schleichende Abstieg ist für die einst stolze FDP, die zu den Gründervätern des Bundesstaates gehörten, schwer zu verdauen. Während die Evangelische Volkspartei (EVP) ebenfalls Einbussen erlitt, konnten andere Kleinparteien zulegen. Dazu gehören die Genfer Bürgerbewegung MCG sowie die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU), die beide zum rechten Lager zählen. Die Wahl in den Nationalrat klar verpasst haben hingegen die Kritiker der Corona-Massnahmen, die mit den Listen «Aufrecht» und «Mass-Voll» angetreten waren. SVP mobilisierte auch neue Wähler Wie lässt sich der Rechtsrutsch im Parlament erklären? Eine Nachwahlbefragung des Meinungsforschungsinstitutes Sotomo zeigt, dass für 26 Prozent der Befragten die Migration das ausschlaggebende Thema für ihren Wahlentscheid war. Gemäss der Politologin Sarah Bütikofer konnte die SVP schon immer gut mobilisieren, wenn sie die Zuwanderung in den Vordergrund stellte. «In diesem Wahlkampf konnte sie jedoch über ihre Stammwählerschaft hinaus noch neue Stimmen dazugewinnen – und zwar quer durch die Parteienlandschaft.» Nebst der Migration beeinflussten auch die Gesundheitskosten den Wahlentscheid. 25 Prozent bezeichneten die steigenden Kran2 Von der Sorge um die hohen Prämien konnten am ehesten die Mitte und die SP profitieren. Beide Parteien haben zum Thema je eigene Initiativen eingereicht, die 2024 dem Stimmvolk vorgelegt werden. Klima kein exklusiv grünes Thema mehr Erstaunlich ist, dass in der Nachwahlbefragung 23 Prozent den Klimawandel als wichtiges Thema bezeichnen, die Grünen aber trotzdem die Verlierer sind. Weshalb? 29 Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6

könnten. Bütikofer verweist dabei auf den breiten Kompromiss zum Klimagesetz, der von allen Parteien – ausser der SVP – getragen wurde. Noch offen blieb nach dem Wahlsonntag die definitive Verteilung der 46 Sitze im Ständerat. 13 Sitze wurden erst in zweiten Wahlgängen Mitte November vergeben – nach Redaktionsschluss dieser «Revue». Dann zeigt sich im Gesamtbild auch, zu welchen Gunsten in der Kleinen Kammer das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen FDP und Mitte ausgeht. Klar ist, dass der Ständerat auch künftig von konservativen Kräften dominiert wird. Bereits in den letzten vier Jahren bremste der Ständerat den progressiveren Nationalrat immer wieder aus – zum Beispiel bei einer grosszügigeren Finanzierung von Kindertagesstätten. Mit dem Rechtsrutsch im Nationalrat nähern sich die beiden Parlamentskammern politisch an. Bundesratswahlen im Dezember Das neu zusammengesetzte Parlament nimmt seine Arbeit Anfang Dezember auf. Zum Start der Legislatur werden am 13. Dezember auch die Mitglieder der Landesregierung für eine neue Amtsperiode gewählt. Im Fokus steht dabei die Wahl eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin des zurücktretenden SP-Bundesrates Alain Berset. Der Sitz-Anspruch der Sozialdemokraten als zweitstärkste Partei wird von den anderen Parteien nicht bestritten. Gemäss der sogenannten Zauberformel haben die drei wählerstärksten Parteien Anspruch auf je zwei Sitze, die viertstärkste Partei auf einen Sitz. Die bisherige parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates – 2 SVP, 2 SP, 2 FDP, 1 Mitte – behält nach dieser Logik weiterhin ihre Gültigkeit. Auch die beiden amtierenden FDP-Bundesräte – Aussenminister Ignazio Cassis und Finanzministerin Karin Keller-Sutter – können im Dezember mit einer Wiederwahl rechnen. Angesichts der erstarkten Mitte dürfte jedoch die Diskussion um die Zauberformel früher oder später wieder aufflammen. Die Fünfte Schweiz wählte markant grüner und etwas linker Wie wählten am 22. Oktober 2023 die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer? Sie wählten markant grüner, etwas linker und etwas liberaler als das in der Schweiz lebende Elektorat. Konkret: In der Fünften Schweiz sicherte sich die SP mit 20,4 % den grössten Wähleranteil (im Vergleich dazu das Schweizer Gesamtergebnis: 18,3 %). Danach folgt die SVP mit 18,5% als die in der Fünften Schweiz stärkste bürgerliche Kraft (CH: 27,9%). Dicht auf den Fersen waren ihr die Grünen mit 18,4% (CH: 9,8%). Die FDP kam auf 13,6 % (CH: 14,3 %). Stärker als im Inland schnitten mit 11,4% die Grünliberalen ab (CH: 7,6%). Dagegen musste sich die Mitte mit einem Wähleranteil von 7,7 % bescheiden (CH: 14,1%). Gegenüber den Wahlen 2019 rückte auch die Fünfte Schweiz etwas nach rechts, aber weniger markant als die Gesamtschweiz: SP, Grüne und Grünliberale sicherten sich etwas mehr als 50 % aller Wählerstimmen. Vor vier Jahren waren es fast 53%. Erfolglos blieben die kandidierenden Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Ihre Wahlergebnisse waren zumeist bescheiden, ein Sitz im Nationalrat blieb für sie in weiter Ferne. Mehr noch: Kandidierende, die 2019 zum Teil mit respektablen Resultaten auffielen, gingen 2023 in der enormen Flut von Wahllisten und Kandidaturen unter. Eine Auffälligkeit schliesslich bei der Wahlbeteiligung der Fünften Schweiz: Sie lag in vielen Kantonen tiefer als vor vier Jahren. In Basel-Stadt, wo testweise elektronisch gewählt werden konnte, lag sie aber signifikant höher, bei 23,8 % (2019: 19,2 %). Auch im E-Voting-Testkanton St. Gallen stieg die Stimmbeteiligung leicht. MARC LETTAU Für die Politologin lässt sich die Situation heute nicht mit derjenigen vor vier Jahren vergleichen: «2019 lag eine progressive Stimmung in der Luft, das Thema Klima war allgegenwärtig und bewog viele Personen, ihre Stimme einer Partei mit ‹Grün› im Namen zu geben.» Seither habe sich die Weltlage völlig verändert. Mit der Pandemie, kriegerischen Konflikten und zuletzt dem Niedergang der Grossbank Credit Suisse: «Eine Krise folgte auf die andere.» Hinzu kommt, dass die Grünen die Klima- und Umweltpolitik nicht mehr exklusiv für sich beanspruchen Zur Resultate-Übersicht des Bundesamtes für Statistik: revue.link/wahlen2023 Noch nie gab es so viele Kandidierende wie bei den Wahlen 2023: Insgesamt bewarben sich 5909 Personen für einen der 200 Nationalratssitze. Ihre Namen figurierten auf 618 Listen – auch das ein neuer Rekord Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 6 Schwerpunkt

Wichtiger Schritt für die Schweizer Demokratie: Wahlkampf-Gelder waren zum ersten Mal transparent Parteien, Kandidierende und Komitees mussten bei diesen Parlamentswahlen Budgets und grössere Spenden offenlegen. Mit der neuen gesetzlichen Deklarationspflicht werden die politischen Geldflüsse in der Schweiz transparenter, auch wenn sich beim ersten Durchgang Schwachstellen zeigten. SUSANNE WENGER Die Grünen erhielten eine Rekordspende von einer Million Franken, den grössten Teil davon steckten sie in die Wahlkampagne. Spenderin war Carmita Burkard, Erbin der Gründerfamilie des Baustoffkonzerns Sika. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums investierte alt Bundesrat Christoph Blocher 550 000 Franken in den Wahlkampf der SVP. Über Blocher als Geldgeber seiner Partei war lange spekuliert worden, jetzt erfuhr die Öffentlichkeit erstmals einen Betrag. Dies dank einer neuen gesetzlichen Regelung, die 2022 in Kraft trat und bei den diesjährigen National- und Ständeratswahlen zum ersten Mal galt. Welchen Kräften steht vor einem Urnengang wie viel Geld zur Verfügung? Welche Mittel werfen Interessengruppen auf, und wem lassen sie diese zukommen? Bei solchen Fragen tappten Schweizer Wählerinnen und Stimmbürger bis jetzt weitgehend im Dunkeln. Es gab auf Bundesebene keine Pflicht zur Offenlegung. Dies fiel umso stärker ins Gewicht, als die Schweiz nur eine rudimentäre staatliche Parteienfinanzierung kennt und die Parteien sich deshalb stark auf private Gelder stützen. Die fehlende Transparenz stiess seit den 1970er-Jahren auf Kritik, im Inland und auch beim Antikorruptionsgremium Greco des Europarates. SVP und FDP mit grössten Kassen Doch das Parlament lehnte alle Vorstösse für eine Regelung ab, bis es 2021 unter dem Druck einer Volksinitiative der SP und der Grünen die Haltung änderte. Neu müssen Parteien ihre Einkünfte nennen und Spenden ab 15 000 Franken namentlich ausweisen. Die Finanzierung von Wahl- und Abstimmungskampagnen muss der Öffentlichkeit ab einer Schwelle von 50000 Franken offengelegt werden. Die Aufsicht obliegt der Eidgenössischen Finanzkontrolle, diese publiziert die ihr gemeldeten Angaben auf ihrer Website. Wer vor den Wahlen die Listen durchforstete, erfuhr nichts extrem Überraschendes, kannte danach aber Fakten. Etwa punkto KampagnenSchlagkraft. Den teuersten Wahlkampf führten die beiden bürgerlichen Parteien SVP und FDP. Die nationale SVP hatte mit 4,9 Mio. Franken am meisten Geld zur Verfügung, gefolgt von der FDP mit 2,5 Mio. Zählte man die Budgets von Kantonalparteien und Kandidierenden hinzu, lag die FDP mit knapp 13 Mio. vor der SVP mit fast 12 Mio. Die Schlussabrechnung erfolgte aber erst nach den Wahlen. Intransparente Gönnervereine Ab 2024 gilt die Deklarationspflicht auch bei den Abstimmungen. Aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger ist die Schweizer Demokratie dadurch transparenter geworden. Bereits zeigten sich allerdings erste Wege, die neue Regelung kreativ zu interpretieren und damit dem Transparenzgebot nicht wirklich Genüge zu tun. So verbargen sich mehrfach Geldgeber hinter Gönnervereinen oder Stiftungen mit Namen wie «Verein für lösungsorientierte Politik». Wer jeweils dahintersteckte, ging aus der Liste der Finanzkontrolle nicht hervor. Doch wie viel Einfluss hat das Geld auf Wahlergebnisse? Mehr Mittel können der Mobilisierung dienen, was mehr Stimmen bringt, schreiben die Berner Politologin Rahel Freiburghaus und der Berner Politologe Adrian Vatter. Entscheidend bleibe aber, welchen Parteien die Wählerschaft thematisch Lösungen zutraue. Den Grünen offensichtlich weniger als vor vier Jahren, verloren sie doch trotz höchster Spende. Und der Kandidat mit dem grössten Einzelbudget, der Zürcher Donato Scognamiglio von der Evangelischen Volkspartei, verpasste die Wahl in den Nationalrat trotz seiner 365000 Franken. Die Wahlplakate sind inzwischen abgeräumt, die neue Transparenz bei der Finanzierung bleibt. Ab 2024 gilt die Pflicht zur Offenlegung der Mittel auch bei Abstimmungen. Foto Keystone Publikation der Finanzkontrolle zur Politikfinanzierung: revue.link/fiko Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 7

Die katholische Kirche vertuschte über 1000 Fälle von sexuellem Missbrauch Auch in der Schweiz hat die katholische Kirche über Jahrzehnte sexuellen Missbrauch systematisch vertuscht oder bagatellisiert. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Historikern der Universität Zürich, in der es um problematische Grenzüberschreitungen geht, aber auch um «schwerste, systematische Missbräuche, die über Jahre hinweg andauerten». Die Studie wurde im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz erstellt und Mitte September veröffentlicht. Die Wissenschaftler identifizierten für den Zeitraum von 1950 bis 2022 insgesamt 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene. Dies sei jedoch nur ein «kleiner Teil» der tatsächlichen Fälle. Es seien noch nicht alle kirchlichen Archive ausgewertet worden. Viele Mitglieder der katholischen Kirche reagierten bestürzt auf die Offenlegungen. Die Zahl der Kirchenaustritte schnellte in die Höhe. (MUL) Nach dem Angriff auf Israel erwägt der Bundesrat ein Verbot der Hamas Der Angriff der Hamas auf Israel und die Eskalation im Nahen Osten lösen auch in der Schweiz grosse Bestürzung aus. Der Bundesrat prüft derzeit, ob die Hamas als verbotene Organisation eingestuft werden kann. Für ein Verbot wäre eine Gesetzesänderung nötig. Zusätzlich lässt der Bundesrat die Geldflüsse von der Schweiz an die in der Region tätigen Organisationen überprüfen. Im Fokus stehen dabei Gelder für palästinensische Organisationen. Aussenminister Ignazio Cassis äusserte sich dabei auch zu den 20 Millionen Franken, die jährlich ans UNO-Palästinenserhilfswerk (UNWRA) gehen. Laut Cassis gebe es zur UNWRA «keine Alternative». Keine andere Organisation könnte dessen Aufgaben in der Gesundheitsversorgung und Bildung übernehmen. Derzeit leben rund 28000 Schweizer Staatsangehörige in Israel. Mindestens ein schweizerisch-israelischer Doppelbürger ist bei den kriegerischen Auseinandersetzungen getötet worden. (MUL) Swiss Olympic wirbt für dezentrale und nachhaltige Olympische Winterspiele 2030 in der Schweiz Swiss Olympic hofft auf Olympische Winterspiele in der Schweiz, sei es im Jahr 2030 oder allenfalls 2034. Sie wirbt für ihr Anliegen mit einer neuen Machbarkeitsstudie. Diese zeige, dass in der Schweiz dezentrale und in hohem Masse nachhaltig organisierte Winterspiele möglich seien. Swiss Olympic sieht darin einen Gegenentwurf zu den gigantesken Spielen der jüngeren Vergangenheit. Schweizer Olympia-Kandidaturen stolperten bislang meistens bereits an der Skepsis der Schweizerinnen und Schweizer: Sie haben etliche Kandidaturen an Volksabstimmungen «versenkt», oft in Sorge um die Folgekosten und die Belastung der Umwelt. Für 2030 will Swiss Olympic einen Weg ohne Volksverdikt wählen und glaubt, die Spiele praktisch vollständig mit privaten Mitteln finanzieren zu können. (MUL) Walter Thurnherr Er war in den letzten acht Jahren im Zentrum der Macht, ohne selber Mitglied der Schweizer Regierung zu sein: Bundeskanzler Walter Thurnherr, Stabschef des Bundesrats. Wegen des direkten Drahts in die Exekutive ist dieser Posten für die Parteien wichtig. Thurnherr gehört der Mitte-Partei an. Dass er sich nicht erneut der Wahl durch das Parlament stellt, kam überraschend. Er ist 60-jährig und allseits anerkannt. Sein Amt füllte er ganz aus, hatte trotz nur beratender Stimme Einfluss. Da sind sich Beobachterinnen und Beobachter einig. Thurnherrs Art wirkte stets umgekehrt proportional dazu, dass man eine solche Funktion auch brav verwaltend ausüben könnte. Er aber gilt als analytischer Schnelldenker, ist ein gefragter Redner mit Witz. Humor verhelfe ihm zu Distanz und erinnere ihn daran, dass es eine Welt ausserhalb des Bundeshauses gebe, sagte er einmal. Die Welt ausserhalb der Schweiz kennt er ebenfalls. Die diplomatische Laufbahn, die der Aargauer Baumeistersohn nach einem Physikstudium einschlug, führte ihn nach Moskau und New York. Beim Aussendepartement betreute er die Auslandschweizerinnen und -schweizer. Vielen von ihnen machte er als späterer Leiter der Bundeskanzlei zu langsam vorwärts mit dem E-Voting. Selber digitalaffin, entgegnete Thurnherr den Kritikern jeweils, die elektronische Stimmabgabe brauche eine Mehrheit. Und das dauere im politischen System der Schweiz. Nun tritt er freiwillig ab, die letzte Legislatur mit all den Krisen sei schwierig gewesen, sagte er vor den Medien. Was er in Zukunft machen will, liess er offen. Womöglich bleibt ihm mehr Zeit für seine Vorliebe, auf Social Media wunderliche mathematische und physikalische Phänomene zu publizieren. SUSANNE WENGER Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 8 Herausgepickt Nachrichten

9 THEODORA PETER Eine feste Adresse hat der Empfänger der reich verzierten Couverts nicht. Das ist auch nicht nötig. Ob die Schreiben an den «Weihnachtsmann am Polarkreis» oder an das «Christkind im Himmel» adressiert sind: Sie landen allesamt im Tessin. In Cadenazzo kümmert sich jedes Jahr ein Spezialteam von rund acht «Postwichteln» um die vorweihnachtlichen Kinderbriefe. Zu ihnen gehört der 55-jährige Postmitarbeiter Moritz Succetti aus Camorino. Ihn motiviert, dass «ich vielen Kindern eine Freude bereiten kann». Amtet er nicht als Wichtel, kümmert sich Succetti bei der Post in Cadenazzo um nicht zustellbare Pakete aus der ganzen Schweiz. Mehr als 30 000 Einsendungen Auch diesen Dezember dürften wieder Zehntausende Kinderbriefe in Cadenazzo eintreffen. Letztes Jahr wurden rund 33 000 Einsendungen gezählt, ein Jahr zuvor war mit fast 36 000 Briefen ein neuer Rekord erreicht worden. Die Couverts enthalten oft Zeichnungen, Wunschlisten oder «Nuggis», von welchen sich die Kinder definitiv zu trennen versprechen. «Wir erhalten auch viele sehr berührende Briefe», erzählt Succetti. Darin berichten Kinder zum Beispiel vom Verlust eines Elternteils oder Krankheitsfällen in der Familie. «Ich erinnere mich auch an einen Brief eines Mädchens, dessen Schwester schwer krank war. Dies hat mich fast zu Tränen gerührt.» Auch beschäftigen die Absender jeweils aktuelle Themen wie der Krieg oder Corona: «Während der Pandemie sorgten sich viele Kinder um die Gesundheit des Weihnachtsmannes und wünschten ihm, dass er nicht angesteckt wird.» Die «Postwichtel» sorgen dafür, dass alle Einsendungen eine vom Weihnachtsmann gezeichnete Antwort in drei Landessprachen erhalten – samt einem kleinen Geschenk wie zum Beispiel einem Malbuch. Fehlt der Absender, «geben wir unser Bestes, um die Adresse zu finden». Dazu nutzen die Mitarbeitenden das Verzeichnis der Post, geografische Hinweise liefert zum Beispiel der Poststempel des Aufgabeortes. Die Nachforschungen führen in 90 Prozent der Fälle zum Erfolg. Leider gäbe es auch immer wieder Fälle, in denen alle Bemühungen vergeblich sind. «Darum ist es wichtig, dass die Kinder immer ihre vollständige Adresse angeben.» Kulturelle Unterschiede In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Einsendungen fast verdoppelt. Bis heute stammen fast drei Viertel der Briefe aus der Westschweiz und dem Tessin. Rund 20 Prozent kommen aus der Deutschschweiz, weitere fünf Prozent sind auf Englisch verfasst – auch sie erhalten einen entsprechenden Antwortbrief vom Weihnachtsmann. Kulturelle Unterschiede gibt es zudem beim Adressaten. Während Deutschschweizer Kinder traditionell das Christkind anschreiben, richten sich die Kinder der lateinischen Schweiz eher an den Weihnachtsmann. Gemeinsam ist ihnen die Hoffnung, dass all ihre Wünsche in Erfüllung gehen. In der Postfiliale des Weihnachtsmanns In der Vorweihnachtszeit schreiben jährlich Tausende Schweizer Kinder dem Weihnachtsmann oder dem Christkind einen Brief. Und sie erhalten tatsächlich eine Antwort – aus dem Tessin. Die Zahl der vorweihnächtlichen Briefe nahm in den letzten Jahren zu. Vor allem in der Westschweiz wenden sich Kinder oft brieflich an den Weihnachtsmann oder das Christkind. Foto Post / ZVG Für einmal ist das Nikolauskostüm postgelb. Für die «Postwichtel» ist vor allem die Suche nach der korrekten Adresse der Kinder eine akribische Arbeit. Foto Keystone Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 Porträt

STÉPHANE HERZOG In der Schweiz ist die Kartoffel geradezu heilig. Denken Sie nur einmal an die Rösti! Und ein Picknick ist kein rechtes Picknick ohne eine grosse Tüte Chips. Auch die Schweizer Bauern lieben die Kartoffel. Wenn alles gut läuft, bietet sie den Landwirten im Mittelland einen unvergleichlichen Ertrag. Aber ihr Anbau auf einer Fläche von einem Hektar erfordert auch eine Investition von 10 000 Franken. «Die Kartoffel ist eine Weltmeisterin im Umwandeln von Sonnenenergie in für uns verwertbare Kalorien. Und sie hat den Vorteil, dass sie direkt konsumiert werden kann», sagt Patrice de Werra, Kartoffelexperte von Agroscope, dem Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung. Noch ein Merkmal gefällig? Sie braucht Wasser, sehr viel mehr als beispielsweise Weizen oder Süssmais. Das kostbare Nass muss aber auch im richtigen Moment kommen: im Sommer, wenn die Sorte, die wir für Pommes frites oder Chips verwenden, ihre Knollen in der Erde bildet. Seit 2021 haben wir nun aber mehrere Hitzewellen erlebt. Bei Temperaturen über 30 Grad hört die Kartoffel auf zu wachsen. Um alles noch weiter zu verschlimmern, fiel der Regen oft zur falschen Zeit, wie im Sommer 2021 während der Setzzeit. «Feind Nummer 1 der Kartoffel sind Wetterextreme», sagt Niklaus Ramseyer, Geschäftsführer der Vereinigung Schweizer Kartoffelproduzenten (VSKP). Die Erträge der sonst grosszügigen Kartoffel sind spürbar zurückgegangen, teilweise um 40 Prozent. Zukäufe aus Nachbarländern waren erforderlich. Im Jahr 2021 waren dies mehr als 50000 Tonnen, denn die Ernte fiel mit 380 000 Tonnen gegenüber den rund 500000 Tonnen in guten Jahren so schlecht aus wie seit Anfang Jahrhundert nicht mehr. Die Häufung dieser ungünstigen Wetterlagen belastet zunehmend die Stimmung der Bauern. So sehr, dass sich einige bereits überlegen, den Kartoffelanbau aufzugeben. Dürren im Wasserschloss In dieser Anbaukultur dreht sich jetzt alles um die Wasserfrage, und dies in einem Land, das als Wasserschloss Europas gilt. «Dies ist ein grosses Problem», konstatiert Niklaus Ramseyer. Und fügt an: «Im Winter verzeichnen wir mehr Regen und im Sommer weniger. Wenn der Pegel eines Flusses sinkt, wird den Bauern, die Oberflächenwasser nutzen, diese Quelle durch die Behörden verwehrt.» Die VSKP setzt sich wo immer möglich für die Einrichtung von BewässerungsDie Kartoffel leidet unter der Hitze und löst einen Kampf ums Wasser aus Die rund 4000 Schweizer Kartoffelproduzenten leiden seit drei Jahren unter schlechten Ernten. Die Kartoffel braucht im Sommer Wasser; die heissen Sommermonate werden zum Problem. Als Folge nimmt der Verteilkampf ums Wasser zu: Es wird zu blauem Gold. systemen ein. Rund 45 Prozent der Anbaubetriebe verfügen jedoch nicht über eine solche Ressource. «Nur ein kleiner Teil von ihnen kann sich ein solches System beschaffen», sagt Patrice de Werra . Die Gründe dafür hängen mit dem Gefälle des Bodens oder auch der fehlenden Nähe zu Quellen zusammen. Niklaus Ramseyer macht sich für neue Lösungen stark. «Man könnte beispielsweise Stauseen dazu nutzen, das Regenwasser im Winter zu speichern und es im Sommer für die Bewässerung einzusetzen», schlägt er vor. Die Bauern können auch robustere Sorten testen oder solche pflanzen, die früher reifen. Auf jeden Fall verteidigen die Produzenten den Kartoffelanbau mit Händen und Füssen. «Wir wollen die sehr hohe Nachfrage decken und wir sind gegen Importe. Das Wichtigste ist, dass die Anbauflächen für Kartoffeln nicht zurückgeEin schwieriges Jahr für die Schweizer Kartoffelbauern: Genug Regen, aber zur falschen Zeit, und dann sehr hohe Temperaturen, die das Wachstum der Knollen bremsten und die Böden austrocknen liessen. Foto Keystone Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 10 Natur und Umwelt

«Bis in hundert Jahren könnte die Kartoffel verschwunden sein» Patrice de Werra, Agroscope Eine Frage des Timings Frühkartoffeln werden üblicherweise im Februar angepflanzt. Für Pommes frites oder Chips geeignete Sorten kommen zwischen März und Mai in die Erde. Die erste Ernte findet im Juni statt, die zweite im September. 2023 waren einige Produzenten gezwungen, später als üblich – gegen Anfang Juni – anzupflanzen, denn die Böden waren bis dahin viel zu nass. Die Knollenentwicklung wurde dadurch gestört. Der Juni war heiss und trocken. Die Kartoffeln waren aber nicht ausreichend entwickelt, um diesen Klimaschwankungen standhalten zu können. Auch der August war heiss. Laut der Vereinigung Schweizer Kartoffelproduzenten wird die Kartoffelernte mager ausfallen. Es werden erneut Importe erforderlich sein. Wussten Sie, dass die kleinen Kartoffeln, die wir zum Raclette geniessen, aus dem Süden, vor allem aus Ägypten, importiert werden? (SH) hen», betont Niklaus Ramseyer. Er erinnert daran, dass die Schweiz über guten Boden und ausreichend Regen für den Anbau verfügt. Ein Land, in dem Wasser nicht mit dem Tropfenzähler gemessen wird «In der Schweiz wird es immer ausreichend Wasser geben, aber nicht unbedingt am rechten Ort oder zur rechten Zeit», sagt dazu Bettina Schaefli, Professorin für Hydrologie an der Universität Bern. Diese sommerlichen Trockenperioden sind in einem Land, wo Kartoffeln während einiger Jahrzehnte selten bewässert werden mussten, etwas Neues. Die Wissenschaftlerin ist der Ansicht, dass Überlegungen zur Verteilung des Wassers in den Regionen angestellt werden müssen, wobei die Landwirtschaft Vorrang haben muss, da sie uns ernährt. Eine gerechte Verteilung von Wasser zwischen Landwirtschaft, Industrie und Privathaushalten muss auf Zahlen basieren. Doch die Schweiz achtet nicht sonderlich auf die Nutzung ihres blauen Goldes. «Die Bauern müssen Statistiken über alles, was sie tun, vorlegen, nur nicht über die Nutzung des Wassers», bedauert Bettina Schaefli. Wobei sie betont, dass die Bauern diese Ressource nicht verschwenden, denn sie kostet Geld. Werden Stauseen der Kartoffel zu Hilfe kommen? Die Hydrologin schätzt, dass es hier um zwei unterschiedliche Fragen geht, denn die beiden Akteure befinden sich weit voneinander entfernt. «Die Hauptfaktoren sind der Regen und der Schnee», sagt sie. Jedenfalls sieht die Schweizer Kartoffel einer ungewissen Zukunft entgegen. Die Dauer und Intensität der HitzeWer wie hier in Burgdorf (BE) Kartoffeln anbaut, ist immer stärker auf Bewässerung angewiesen. Der Verteilkampf um das wichtige Gut Wasser verschärft sich damit. Foto Keystone perioden, der Rückgang der sommerlichen Regenfälle und die Verdunstung werden die verfügbare Wassermenge in den entscheidenden Zeiträumen reduzieren. «Der gesamte Gemüseanbau steht vor dieser Herausforderung, denn sein Wasserbedarf ist noch grösser als bei der Kartoffel. Wenn sich der Klimawandel weiter verstärkt, könnte die Kartoffel in 70 Jahren ein Luxusgut sein. In hundert Jahren könnte sie verschwunden sein», prophezeit Patrice de Werra. Die Schweizer Bauern werden sich einem weniger wasserintensiven Anbau, beispielsweise von Süssmais oder Linsen, zuwenden. «Sie können sich anpassen, während Länder wie zum Beispiel Russland Ackerland gewinnen werden» meint er zum Schluss. Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 11

Film «Foudre»: Es brodelt im Bergtal 12 Gesehen

Das Erstlingswerk der Genfer Filmregisseurin Carmen Jacquier spielt im Sommer 1900 in einem abgelegenen Bergtal – gedreht wurde im Walliser Binntal. Die 17-jährige Elisabeth steht kurz davor, ihr Gelübde als Nonne abzulegen, als sie nach dem plötzlichen Tod ihrer ältesten Schwester, Innocente, zur Familie zurückkehrt, um auf dem heimischen Hof zu helfen. Was Innocente widerfahren ist, bleibt ein Tabu, bis Elisabeth eines Tages das Tagebuch der Schwester findet. «Foudre» (Blitzschlag) erzählt in starken Bildern von religiöser Spiritualität und erwachender Sexualität – dies in einer tiefkatholischen Gemeinschaft, in der Sinnlichkeit und weibliche Lust des Teufels sind. Nach der Erstaufführung 2022 im kanadischen Toronto wurde der Film an zahlreichen Festivals gezeigt – und erhielt bereits mehrere Auszeichnungen. Nun schickt die Schweiz das Werk ins Rennen um einen Oscar für den besten internationalen Film. Ob «Foudre» auf der Short-List der Academy in Hollywood landet, entscheidet sich Ende Dezember. Die Verleihung der Oscars findet im März 2024 statt. Letztmals wurde 1991 ein Schweizer Beitrag als bester ausländischer Film ausgezeichnet: Das Flüchtlingsdrama «Die Reise der Hoffnung» von Xavier Koller. Unabhängig davon, ob es «Foudre» ins prestigeträchtige Oscar-Finale schafft, kommt der Film in den Vereinigten Staaten in die Kinos – dort unter dem Titel «Thunder». Bereits hat sich ein US-Verleiher die entsprechenden Rechte gesichert. THEODORA PETER Film-Trailer: revue.link/foudre Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 13

von irdischer Mühsal zu verstehenden Rolle des barmherzigen Hügels, des Basler Bruderholz-Hügels, zusammen. Bis zum Schluss bleibt dieser Turm der Mittelpunkt einer – längst gescheiterten – Liebe, die zuletzt nur noch in der Fantasie und im Traum verwirklicht werden kann. Überhaupt liegt die Stärke des Textes letztlich in der innigen poetischen Kraft, mit der die Landschaft auf dem Bruderholz mit der Liebesgeschichte in Beziehung gesetzt wird. Eine Kraft, die bereits im Vorwort des Buches wirksam ist und bis in die letzten Seiten hinein spürbar bleibt: «Menschen schreien wie andernorts und härmen sich um ihre verlorene Glückseligkeit. Aber das sollst du nicht achten. Du sollst nur dem langsamen Wellen und Wogen eines Getreidefeldes folgen und begreifen, dass sich das schön ausnimmt vor dem Weinen eines müden, kranken Gesichts. Und du sollst begreifen, dass in dieser weiten, gelassenen Landschaft für dich eine Heimat ist, und dass da eine Barmherzigkeit liegt, von der du ein Leben lang hast reden hören und die du nie geglaubt hast.» Die Marathon-Lesung der zwanzig Autorinnen am Ort von Lore Bergers Tod hat erneut gezeigt, dass das einzige Buch dieser jung verstorbenen Autorin der Zeit standgehalten hat und ihr Hilfeschrei auch Generationen später noch immer Betroffenheit auslöst. BIBLIOGRAFIE: Lore Berger: «Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas». Ergänzt um Fragmente aus dem Journal intime der Autorin.» Reprinted by Huber Nr. 35, Th. Gut-Verlag, Zürich, 2018. CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSENSCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER Am 13. August 2023 versammelten sich zwanzig deutschsprachige Schweizer Schriftstellerinnen beim Wasserturm über dem Basler Stadtquartier Bruderholz und lasen im Turnus von der oberen Plattform des Turmes aus einem Roman von einer Autorin vor, die sich durch einen Sturz von eben diesem Wasserturm umgebracht hatte, bevor eine von ihnen geboren war. Wir blenden 80 Jahre zurück: Unter den Einsendungen, welche die Jury für die Vergabe des BüchergildeRoman-Preises 1943 beurteilte, fand sich ein Manuskript mit dem Titel «Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas». Die Jury hätte den Text wohl stillschweigend weggelegt, wäre sie nicht informiert worden, dass sich hinter der anonymen Einsenderin die 1921 geborene Basler Gymnasiallehrertochter Lore Berger verbarg, die am 14. August jenes Jahres mit ihrem tödlichen Sturz vom Wasserturm auf dem Bruderholz einen Skandal ausgelöst hatte. Obwohl das Buch zu den traurigen Texten gehörte, die man den Menschen mitten im Krieg lieber nicht zumuten wollte, sprach ihm die Jury Rang fünf zu, so dass es im Herbst 1944 gedruckt erschien. Lore Berger hatte drei Semester Germanistik studiert und eine Serie Kindergeschichten publiziert. Aber niemand hatte eine Ahnung, dass sie im Frauenhilfsdienst der Schweizer Armee beim Territorialgericht 2B zwischen Februar 1942 und Juni 1943 auf die Rückseite von Gerichtsprotokollen heimlich einen Roman geschrieben hatte. 250 Seiten, auf denen sie eine gescheiterte Romanze, ihre – ursächlich damit zusammenhängende – Magersucht und das Basler Gesellschafts- und Studentenleben der ersten Kriegsjahre teils lyrisch-poetisch, teils ironisch-sarkastisch, auf jeden «Ein Liebeskummer von vorsintflutlicher Tiefe» Der einzige Roman der 1943 mit 21 Jahren verstorbenen Baslerin Lore Berger löst vor allem bei Frauen nach wie vor Bestürzung und Bewunderung aus. Fall aber literarisch gekonnt umsetzte. Dass der treulose Liebhaber der Grund für Lore Bergers Suizid gewesen sein könnte, ist aber eher unwahrscheinlich. Zu ihrem Todeswunsch führten wohl eher die Erfahrung einer dumpfen, unfreien Zeit, der Mangel an Verständnis im Elternhaus, eine qualvolle Einsamkeit und die vorenthaltene Gleichberechtigung als Frau. «Man kann ein Buch aus verschiedenen Gründen schreiben, aus Eitelkeit, Armut oder innerer Berufung. Ich selbst verweise für meine Person auf den Sinn eines Satzes, den ich irgendwo aufgeschnappt habe: Eine Tänzerin tanzt, der Künstler schafft und formt, der Musiker spielt oder setzt Noten: Und dies hat seinen Grund darin, dass sie alle eine Spannung in sich tragen, von der sie befreit sein möchten. Sagen, Tanzen, Schaffen ist eine Erlösung. Indes dein Lied zum andern geht und er darum weiss, wird etwas in dir frei» (Aus: Lore Berger, «Der barmherzige Hügel», Th.Gut Verlag, Zürich 2018) Dass sie dies alles ihre Romanfigur Esther nach dem Rückzug von deren Freund Thomas als einen «Liebeskummer von vorsintflutlicher Tiefe» erleben lassen konnte, hängt ganz klar mit der Todessymbolik des Turmes und der im Sinne einer Erlösung Lore Berger (1921–1943) Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 14 Literatur

schen Sprache zurückgedrängt. In den Bündner Tälern spricht die Bevölkerung bis heute fünf verschiedene Idiome. Mit dem «Rumantsch Grischun» wurde in den 1980er-Jahren eine gemeinsame Schriftsprache entwickelt, die seit 2001 als romanische Amtssprache dient. Vielsprachige Gesellschaft Die Ausstellungsmacher erinnern daran, dass auch weitere Sprachen in der Schweiz eine weit zurückreichende Geschichte haben – darunter das Jenische, das sich in der Ausstellung auf einer Holztafel entziffern lässt. Weiter zeugt ein Stickmuster– tuch mit hebräischen Buchstaben davon, dass bis im letzten Jahrhundert in den Gemeinden des Aargauer Surbtals ein westjiddischer Dialekt gesprochen wurde. «Sprachenland Schweiz» thematisiert darüber hinaus die sprachliche Vielfalt in der heutigen Gesellschaft – über die vier offiziellen Landessprachen hinaus. Mehr als 20 Prozent der Bevölkerung gibt als Erstsprache eine nichtnationale Sprache an. Und zwei Drittel beherrschen mehr als eine Sprache. In der Ausstellung kommen neun Menschen zu Wort, die eine besondere Beziehung zur Mehrsprachigkeit haben – unter ihnen der aus dem Irak stammende Schweizer Schriftsteller Usama Al Shahmani: «Auf Deutsch zu schreiben, ist für mich eine Art des Ankommens.» Alle Videoporträts sind auf der Webseite der Ausstellung abrufbar – samt Untertiteln in fünf Sprachen. 15 THEODORA PETER Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch – oder Englisch: Die Besucherinnen und Besucher wählen gleich zu Beginn, in welcher Sprache sie sich per Audioguide durch die Ausstellung begleiten lassen. Die Stimmen aus dem Kopfhörer laden zunächst dazu ein, die Geräuschkulisse in einem virtuellen Bahnhof zu erkunden. Bewegt man sich durch den Eingangsbereich, ertönen Satzfetzen und Dialoge in verschiedensten Sprachen und Dialekten. Druck zu Standardisierung Die Ausstellung im Landesmuseum illustriert anhand von Objekten und Tondokumenten, wie sich die Sprachräume im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben. In der Romandie wurden die regionalen Mundarten, die sogenannten Patois, bis zum Ende Reden ist Gold: Kulturgut Sprache im Museum Die Vielsprachigkeit gehört zur Identität der Schweiz. Die Ausstellung «Sprachenland Schweiz» im Landesmuseum Zürich wirft einen kulturhistorischen Blick auf die Entwicklung der vier Sprachräume – und macht diese Klangwelten auch akustisch erfahrbar. Wie dieser Milchkarton aus den 1970er-Jahren werden auch heute die meisten Lebensmittel mehrsprachig beschriftet. In der EU ist dies seit 2021 nicht mehr gesetzlich vorgeschrieben. Foto Museum für Gestaltung Zürich, ZHdK Die Karikatur aus dem Nebelspalter von 1917 zeigt eine entlang der Sprachgrenze gespaltene Schweiz. Die Mehrsprachigkeit wurde als trennender Faktor wahrgenommen. Illustration Nebelspalter Sprachenland Schweiz Landesmuseum Zürich Bis 14. Januar 2024 www.landesmuseum.ch/ sprachenland des 17. Jahrhunderts weitgehend vom Französischen verdrängt. Die zentralistische Sprachlenkung in Frankreich beeinflusste auch die Westschweiz: So zeugt ein Genfer Grammatikbuch von 1790 von der strengen Bereinigung der französischen Sprache von lokalen Begriffen und Ausdrücken. Auch in der Deutschschweiz führten die Reformation und der Buchdruck zur Verbreitung einer standardisierten Schriftsprache. Die Stigmatisierung der Mundarten war hier aber weniger ausgeprägt. Im 19. Jahrhundert setzte im Gegenteil eine Aufwertung der schweizerdeutschen Dialekte ein: 1881 entstand in der Deutschschweiz das erste Dialektwörterbuch. Und in der italienischsprachigen Schweiz begannen Tessiner Notare im 15. Jahrhundert, statt auf Latein in einer Mischsprache aus lokalem lombardischem Dialekt zu schreiben. Das von Dante geprägte toskanische Italienisch setzte sich schliesslich als Schrift- und Verwaltungssprache durch, bis es sich über die Schulen auch als gesprochene Sprache etablierte. Der rätoromanische Sprachraum wiederum, der einst bis zum Bodensee reichte, wurde früh von der deutSchweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 Kultur

SUSANNE WENGER Ein Wohnquartier in der Stadt Basel an einem sehr warmen Herbsttag. Die Klimaaktivistin, die uns freundlich in ihrem Zuhause empfängt, hat graue Haare und engagiert sich seit einem halben Jahrhundert für die Umwelt: Rosmarie Wydler-Wälti, pensionierte Kindergärtnerin und Elternberaterin, achtfache Grossmutter. Sie und ihre Mitstreiterinnen haben die Schweiz verklagt, weil der Staat nicht genug gegen die Klimaerwärmung unternehme. Dadurch würden ihre Rechte verletzt, sagen sie – und geben damit der Klimadebatte einen neuen Dreh. Vom Wohnzimmer des Reihenhauses, das die Baslerin mit ihrem Ehemann bewohnt, ist ein kleiner Garten zu sehen. Auf einem Sofa stapeln sich Bücher über die Klimakrise. «How Women Can Save the Planet», lautet ein Titel. «Das Haus ist meine einzige Klimasünde», räumt sie sogleich ein. Es sei zu gross für zwei Personen, wenn auch mit einer Solaranlage ausgestattet. Rosmarie Wydler-Wälti versucht seit jeher, nachhaltig zu leben. Sie kauft nur ein, was sie braucht, fliegt schon lange nicht mehr, bewahrt «jede Schnur, jedes Säcklein» auf. Wiederverwerten statt wegwerfen: Das habe sie von ihren Eltern gelernt, sagt sie. Schutzpflicht des Staates? Schon als junge Mutter machte sie in der Ökologie- und Frauenbewegung mit. Geprägt auch vom «traumatischen» Jahr 1986, mit der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl und dem Chemie-Grossbrand in Schweizerhalle bei Basel. «Die Kinder konnten nicht raus, weil wir nicht wussten, ob Gift in der Luft war», erinnert sie sich. Einer Partei gehört Rosmarie WydlerWälti nicht an, ein politisches Amt hatte sie nie inne. Als 2016 – nach einer Idee der Umweltorganisation Greenpeace – der Verein «KlimaSeniorinnen» gegründet wurde, war sie aber sofort bereit, das Co-Präsidium zu übernehmen. Sie teilt es sich mit der 75-jährigen Genferin Anne Mahrer, einer früheren Nationalrätin der Grünen. Heute zählt der Verein rund 2500 Mitglieder, alles Frauen ab 64 bis über 90. Sie eint ein Anliegen: Die Schweiz soll mehr Ehrgeiz zeigen, wenn es darum geht, den Ausstoss von Treibhausgasen zu senken und die Ziele des Pariser Klimaübereinkommens zu erreichen. Die Rentnerinnen berufen sich auf die Verfassung und die Euro- «Zu wenig Klimaschutz»: Ältere Frauen verklagen die Schweiz Der Verein «KlimaSeniorinnen» will die Schweiz mit einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verpflichten, mehr gegen die Klimaerwärmung zu tun. Besuch bei Co-Präsidentin Rosmarie Wydler-Wälti, einer 73-jährigen Aufständischen. päische Menschenrechtskonvention. Der Staat habe eine vorsorgliche Schutzpflicht, argumentieren sie, er müsse das Recht auf Leben schützen. Häufigere und intensivere Hitzewellen als Folge der Klimaerwärmung seien eine Bedrohung. Bei älteren Menschen führten sie zu mehr Erkrankungen und höherer Sterblichkeit, besonders bei Frauen. Tödliche Hitzewellen Dass die Hitze ältere Frauen am stärksten gefährdet, lässt sich statistisch nachweisen. Wie jüngst in einer Studie des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts im Auftrag der Die «KlimaSeniorinnen» Rosmarie Wydler-Wälti (links) und Anne Mahrer während einer öffentlichen Anhörung vor der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im März dieses Jahres. Foto Keystone Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 16 Porträt

«Das Haus ist meine einzige Klimasünde. Es ist zu gross für zwei Personen.» Rosmarie Wydler-Wälti im Garten ihres Zuhauses in Basel. Foto Keystone «Al-Jazeera» und die «New York Times» berichteten schon über sie. Am Tag nach dem Gespräch mit der «Schweizer Revue» nahm die Co-Präsidentin erneut den Zug nach Strassburg. Die KlimaSeniorinnen drückten ihre Solidarität aus, als am Menschenrechts-Gerichtshof eine weitere Klimaklage verhandelt wurde. Sie stammt von sechs Jugendlichen aus Portugal und richtet sich gegen 32 Staaten in Europa, darunter die Schweiz. Klimajugend und Klimaalter: Das Generationenübergreifende ist Rosmarie Wydler-Wälti wichtig. Sie sagt: «Gewinnen wir mit unserer Klage, nützt dies letztlich allen.» Bundesämter für Gesundheit und Umwelt: Im heissen Sommer 2022 verzeichnete die Schweiz 474 hitzebedingte Todesfälle, ausnahmslos bei über 75-Jährigen, und 60 Prozent der Verstorbenen waren Frauen. Der hitzebedingte Anteil an der gesamten Sterblichkeit lag bei den Frauen dieser Altersgruppe höher als bei den Männern. Dass sich der Verein auf Seniorinnen beschränkt, hat also auch prozesstaktische Gründe. «Wir können Betroffenheit geltend machen», so Wydler-Wälti. Die Frauen durchliefen den nationalen Instanzenzug und unterlagen dreimal: beim Umweltdepartement, beim Bundesverwaltungsgericht, beim Bundesgericht. Letzteres befand, sie seien nicht hinreichend in ihren Rechten berührt. 2020 folgte der Gang nach Strassburg: Der Verein und vier einzelne Frauen reichten beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde gegen die Schweiz ein. Diesen März führte ein 17-köpfiges Richtergremium eine öffentliche Anhörung durch. Das Anwaltsteam der Klägerinnen und die Vertreter der Schweizer Regierung brachten ihre Argumente vor. Die offizielle Schweiz stellte sich unter anderem auf den Standpunkt, Klimaschutz sei eine komplexe Aufgabe der Politik, keine Gerichtssache. «Viel Zeit verloren» Rosmarie Wydler-Wälti sass im Gerichtssaal und dachte: «Wow!» Sie hatte den Eindruck, «dass wir erstmals richtig ernst genommen wurden». Mehr noch: Die älteren Schweizerinnen könnten einen Präzedenzfall für die Staaten des Europarats schaffen, dem die Schweiz seit 1963 angehört. Denn der Gerichtshof in Strassburg befasst sich zum ersten Mal mit einem möglichen Zusammenhang von Klimaschutz und Menschenrechten. Doch warum versuchen die Seniorinnen nicht auf demokratischem Weg im Inland, Mehrheiten zu erringen, wie dieses Jahr, als die Stimmbevölkerung ein neues Klimagesetz annahm? «Wir haben schon viel Zeit verloren», antwortet die Co-Präsidentin. Es brauche nun jeden legitimen Einsatz: bei Abstimmungen und Wahlen, an Kundgebungen, vor Gericht. Argwöhnt wurde auch schon, die «Grosis» liessen sich von Greenpeace vor den Karren spannen. Rosmarie Wydler-­ Wälti hält dies für ein abwertendes Altersklischee. Mit Greenpeace bestehe eine Zusammenarbeit, sagt sie, zudem finanziere die Umweltorganisation die Rechtsvertretung. Doch der KlimaSeniorinnen-Verein, in dem viele Fähigkeiten, Erfahrung und lebenslanges Engagement zusammenkommen, sei eigenständig. Solidarität mit Jungen Seitdem sie Strassburg angerufen haben, sind die KlimaSeniorinnen bekannt. In positiven Reaktionen werden sie für ihren Mut und ihre Beharrlichkeit gelobt. In negativen wird ihnen nahegelegt, doch einfach die Grosskinder zu hüten. Jemand beschied ihnen anonym per Mail, solche wie sie seien früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. «Mit einer Hexe verglichen zu werden, ist für mich ein Kompliment», findet Wydler-Wälti, «das waren starke Frauen.» Das Urteil aus Strassburg wird erst 2024 erwartet. Derweil halten die KlimaSeniorinnen Vorträge, organisieren Anlässe, beantworten Medienanfragen aus aller Welt. Auch Link zum Hearing in Strassburg vom 29. März 2023: revue.link/hearing Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 17

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