Schweizer Revue 6/2023

SUSANNE WENGER Ein Wohnquartier in der Stadt Basel an einem sehr warmen Herbsttag. Die Klimaaktivistin, die uns freundlich in ihrem Zuhause empfängt, hat graue Haare und engagiert sich seit einem halben Jahrhundert für die Umwelt: Rosmarie Wydler-Wälti, pensionierte Kindergärtnerin und Elternberaterin, achtfache Grossmutter. Sie und ihre Mitstreiterinnen haben die Schweiz verklagt, weil der Staat nicht genug gegen die Klimaerwärmung unternehme. Dadurch würden ihre Rechte verletzt, sagen sie – und geben damit der Klimadebatte einen neuen Dreh. Vom Wohnzimmer des Reihenhauses, das die Baslerin mit ihrem Ehemann bewohnt, ist ein kleiner Garten zu sehen. Auf einem Sofa stapeln sich Bücher über die Klimakrise. «How Women Can Save the Planet», lautet ein Titel. «Das Haus ist meine einzige Klimasünde», räumt sie sogleich ein. Es sei zu gross für zwei Personen, wenn auch mit einer Solaranlage ausgestattet. Rosmarie Wydler-Wälti versucht seit jeher, nachhaltig zu leben. Sie kauft nur ein, was sie braucht, fliegt schon lange nicht mehr, bewahrt «jede Schnur, jedes Säcklein» auf. Wiederverwerten statt wegwerfen: Das habe sie von ihren Eltern gelernt, sagt sie. Schutzpflicht des Staates? Schon als junge Mutter machte sie in der Ökologie- und Frauenbewegung mit. Geprägt auch vom «traumatischen» Jahr 1986, mit der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl und dem Chemie-Grossbrand in Schweizerhalle bei Basel. «Die Kinder konnten nicht raus, weil wir nicht wussten, ob Gift in der Luft war», erinnert sie sich. Einer Partei gehört Rosmarie WydlerWälti nicht an, ein politisches Amt hatte sie nie inne. Als 2016 – nach einer Idee der Umweltorganisation Greenpeace – der Verein «KlimaSeniorinnen» gegründet wurde, war sie aber sofort bereit, das Co-Präsidium zu übernehmen. Sie teilt es sich mit der 75-jährigen Genferin Anne Mahrer, einer früheren Nationalrätin der Grünen. Heute zählt der Verein rund 2500 Mitglieder, alles Frauen ab 64 bis über 90. Sie eint ein Anliegen: Die Schweiz soll mehr Ehrgeiz zeigen, wenn es darum geht, den Ausstoss von Treibhausgasen zu senken und die Ziele des Pariser Klimaübereinkommens zu erreichen. Die Rentnerinnen berufen sich auf die Verfassung und die Euro- «Zu wenig Klimaschutz»: Ältere Frauen verklagen die Schweiz Der Verein «KlimaSeniorinnen» will die Schweiz mit einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verpflichten, mehr gegen die Klimaerwärmung zu tun. Besuch bei Co-Präsidentin Rosmarie Wydler-Wälti, einer 73-jährigen Aufständischen. päische Menschenrechtskonvention. Der Staat habe eine vorsorgliche Schutzpflicht, argumentieren sie, er müsse das Recht auf Leben schützen. Häufigere und intensivere Hitzewellen als Folge der Klimaerwärmung seien eine Bedrohung. Bei älteren Menschen führten sie zu mehr Erkrankungen und höherer Sterblichkeit, besonders bei Frauen. Tödliche Hitzewellen Dass die Hitze ältere Frauen am stärksten gefährdet, lässt sich statistisch nachweisen. Wie jüngst in einer Studie des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts im Auftrag der Die «KlimaSeniorinnen» Rosmarie Wydler-Wälti (links) und Anne Mahrer während einer öffentlichen Anhörung vor der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im März dieses Jahres. Foto Keystone Schweizer Revue / Dezember 2023 / Nr.6 16 Porträt

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