Es ist entsetzlich und beschämend: Mindestens Hunderte junger Menschen – Kinder und Jugendliche – sind in der Schweiz von katholischen Seelsorgern sexuell missbraucht worden. Sexuelle Übergriffe sind immer unentschuldbar. Gehen sie aber von jenen aus, die – aus kindlicher Optik – für Güte und Schutz, für Glaube und Moral stehen, kommt eine ungeheuerliche Dimension dazu. Für die Opfer. Und auch für die Kirche selbst. Das erfährt derzeit die römisch-katholische Kirche der Schweiz in extremis. Sie hatte die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit selber angeschoben, ist aber deswegen nicht minder einem Sturm der Entrüstung ausgesetzt. Gläubige treten in grosser Zahl aus der Kirche aus. Und die weltlichen Trägerschaften des kirchlichen Lebens in der Schweiz – die Kirchgemeinden mit ihren demokratisch gewählten Gremien – verweigern dem katholischen Klerus vielerorts die Gefolgschaft. In unserem Schwerpunkt ordnen wir das beklemmende Thema ein – und zitieren dabei einen Kirchenexperten: Die katholische Kirche stecke in der tiefsten Krise seit der Reformation. Muss die katholische Katastrophe auch Nichtkatholikinnen und Nichtkatholiken interessieren? Auf jeden Fall, denn in der Schweiz wird der Bedeutungsverlust der Kirche seit Jahrzehnten immer augenfälliger: Die Gesellschaft als Ganzes, die sich oft und gerne auf christlich-abendländische Werte beruft, wird immer säkulärer. Der grosse zeitliche Bogen: 1970 gehörten fast 98 Prozent aller Menschen in der Schweiz der katholischen, reformierten oder jüdischen Glaubensgemeinschaft an. 2020 waren es noch gut 60 Prozent. Jene, die mit der Kirche und mit Religion im gängigen Sinne gar nichts am Hut haben, bilden bereits die grösste «Glaubensgemeinschaft». Die Akten aus den katholischen Archiven, die jetzt auf dem Tisch liegen, beschleunigen diese Entwicklung. Ziemlich das Gegenteil einer beschleunigten Entwicklung ist die Art und Weise, wie in der Schweiz die Landesregierung gewählt wird. Zuerst wird leidenschaftlich debattiert, ob man das geheimnisvolle, ungeschriebene Gesetz über die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung – die sogenannte «Zauberformel» – nicht anpassen müsste. Und dann bleibt alles beim Alten. Die «Zauberformel» ist also auch eine «Zauderformel». Um nicht missverstanden zu werden: Viele Schweizerinnen und Schweizer finden es richtig, wie verlässlich langweilig die heimische Politik tickt. Man hält das für sinnvoller als populistische Erdbeben. In diesem Sinne: Übrigens, die Schweiz hat für die nächsten vier Jahre eine neue Regierung gewählt – siehe Seite 18. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Sexuelle Übergriffe in enormer Zahl erschüttern die katholische Kirche 8 Herausgepickt / Nachrichten 9 Reportage Das Huhn wird in der Schweiz immer häufiger zum Haustier 12 Wahlen Die Formel für die Bildung der Landesregierung bleibt unangetastet 14 Gesellschaft Die Droge Crack hat viele Schweizer Städte im Griff, allen voran Genf Nachrichten aus Ihrer Region 17 Schweizer Zahlen Die Nation wird immer sesshafter, aber der Grund dafür ist rasch gefunden 18 Politik Für die Zukunft der Altersvorsorge liegen diametral gegensätzliche Ideen vor 20 Natur und Umwelt Neue Atomkraftwerke sind derzeit keine Option – und trotzdem ein Dauerthema 24 Literatur Autor Rudolf Kuhn beschrieb bereits 1941 die Folgen einer Atombombe 25 Aus dem Bundeshaus 28 SwissCommunity-News Aktuelle Zuschriften unserer Leserschaft finden Sie diesmal unter: www.revue.ch Wenn der Priester schändet statt schützt Titelbild: Weihrauch-Zeremoniell in einer Schweizer Klosterkirche. Foto Keystone Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 3 Editorial Inhalt
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