5 THEODORA PETER Könnten Sie im Krisenfall auf Ihren Morgenkaffee verzichten? In der Schweiz muss sich niemand diese Frage stellen, denn der Staat hat vorgesorgt: Bei den Importeuren lagert eine Kaffeebohnen-Reserve von über 18000 Tonnen. Mit diesem Pflichtvorrat könnte die einheimische Bevölkerung bei einem Importausfall für drei Monate mit dem für viele unverzichtbaren Getränk versorgt werden. Doch ist Kaffee, der kaum Nährwerte enthält, tatsächlich so lebenswichtig wie Weizen oder Reis? Diese Frage stellten sich die Behörden letztmals bei einer Überprüfung im Jahr 2019 und planten, das Genussmittel von der nationalen Vorratsliste zu streichen. Der Widerstand war gross: Nebst der Branche wehrten sich auch Konsumentenkreise, gehören doch die Schweizerinnen und Schweizer beim Kaffeegenuss weltweit zu den Spitzenreitern. Schliesslich beliess der Bundesrat das Produkt auf der Liste der lebenswichtigen Güter – nicht zuletzt aus «psychologischen Gründen». Essen und Wärme Die Definition, welche Güter als lebenswichtig gelten, sei «keine exakte Wissenschaft», sagt Peter Lehmann, Leiter Sektion Vorratshaltung im Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung. Bei Nahrungsmitteln ist die Kalorienzahl das Leitkriterium: Die Behörden rechnen mit einer durchschnittlichen Energiezufuhr von rund 2300 Kalorien pro Tag und Kopf. Gelagert werden deshalb Zehntausende von Tonnen haltbarer Lebensmittel wie Reis, Weizen, Speiseöle und -fette, Zucker sowie Rohstoffe für die Produktion von Hefe. Ebenfalls in die sogenannten Pflichtlager gehören Dünger und Raps-Saatgut für die Landwirtschaft. Diese Vorräte decken den Konsumbedarf der Schweizer Bevölkerung für drei bis vier Monate. Der Bund verfügt über keine eigenen Lager. Diese werden von der jeweiligen Branche angelegt und verwaltet, also zum Beispiel von Getreidemühlen, die Weizen zu Mehl verarbeiten. «Das hat den Vorteil, dass die Güter im Bedarfsfall bereits am richtigen Ort sind», betont Lehmann. Die 300 beteiligten Firmen erhalten für die Vorratshaltung eine Entschädigung. Finanziert wird diese durch Importzuschläge und Abgaben: Jede Einwohnerin und jeder Einwohner zahlt dafür 13 Franken pro Jahr. In Krisen ist nicht nur ein voller Bauch lebenswichtig. «Zu den Grundbedürfnissen gehört auch eine geheizte Wohnung», erklärt der Behördenvertreter. Die Pflichtlager umfassen deshalb auch Heizöl sowie Treibstoffe wie Benzin, Diesel und Flugpetrol. Die Vorräte werden dann freigegeben, wenn es zu Lieferproblemen oder Lücken in den VersorgungsketPeter Lehmann, Leiter Sektion Vorratshaltung im Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung. Foto ZVG Koffein für die Krise: Bei den Importeuren, wie hier bei La Semeuse in La Chaux-de-Fonds, lagert ein Pflichtvorrat von insgesamt 18 000 Tonnen Rohkaffee. Foto Sophie Stieger 13Photo ten kommt. 2015 war etwa ein Streik in Frankreich der Grund dafür, weshalb am Flughafen Genf das Flugbenzin knapp wurde. 2018 führte ein trockener Sommer zu Lieferproblemen für Mineralöl: Wegen tiefen Pegelständen auf dem Rhein konnten die Transportschiffe ihre Tanks nur noch zu einem Drittel laden. 2021 mussten wiederum die Pflichtlager für Dünger angezapft werden, nachdem es auf dem Weltmarkt zu Lieferproblemen kam. Beim Dünger ist die Schweizer Landwirtschaft zu hundert Prozent auf Importe angewiesen. Pandemie offenbart Lücken Regelmässig angezapft werden die strategischen Vorräte bei Heilmitteln. In den Jahren 2019 bis 2022 wurden in 416 Fällen Medikamente aus Pflichtlagern benötigt, um Mängel zu vermeiden. Stark betroffen war etwa die Versorgung mit Antibiotika. Anfang 2024 ergriffen die Behörden nun zusätzliche Massnahmen. So wurde sowohl die Lager- wie auch die Meldepflicht auf weitere Wirkstoffe ausgebaut. Dadurch soll das Risiko für Versorgungsengpässe sinken. Gravierende Lücken bei der Landesversorgung offenbarten sich während der Corona-Pandemie: So mangelte es der Schweiz nicht nur an Schweizer Revue / März 2024 / Nr.2
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