MAI 2024 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Dayana Pfammatter, Volksmusik-Pionierin: Sie hat als Erste das Jodeln studiert Die Schweiz, Insel des Wohlstands, hat ihre Kehrseite: Die Kosten fürs Leben werden für viele zur enormen Last Fussball in der Schweiz: Stürmisch bei der Integration, aber ziemlich zögerlich bei der Frauenförderung
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Immer mehr Schweizer Familien leben in Sorge, finanziell nicht über die Runden zu kommen. Dieser Satz – so schlicht, wie er dasteht – wirkt etwas befremdlich. Immerhin reden wir von Familien, die in der Schweiz leben, also in einem der weltweit reichsten Länder. Haben wir es hier mit dem Gejammer von Verwöhnten zu tun? Haben die Besorgten aus den Augen verloren, was materielle Not anderswo – ausserhalb der Wohlstandsinsel Schweiz – bedeutet? Die rhetorischen Fragen sind nicht angezeigt: Den Besorgten ihre Sorgen abzusprechen, macht diese noch lange nicht zuversichtlich. Darum die Wiederholung: Trotz beeindruckend hoher Löhne und trotz guter Beschäftigungslage leben in der Schweiz bis weit in den Mittelstand immer mehr Familien in Sorge, finanziell nicht über die Runden zu kommen. Was ist da schiefgelaufen? Eine mögliche, flüchtige Deutung des Phänomens: Die Schweiz leistet sich in vielen Bereichen sehr hohe Standards. Entsprechend beeindruckend ist, was auf dem Preisschild vieler Güter und Dienstleistungen steht. Vor allem aber besteht oft keine andere Wahl, als sehr tief ins Portemonnaie zu greifen. Das merken insbesondere viele Mieterinnen und Mieter: Wollen sie angesichts der in der Schweiz astronomisch hohen Mietkosten sparen, nützt ihnen ihre Bescheidenheit nichts. Denn Wohnungen für Anspruchslose werden hierzulande gar nicht erst gebaut. Ähnliches gilt punkto Gesundheit: Die medizinische Versorgung ist formidabel, aber die Nation erkauft sie sich mit beeindruckend hohen Krankenkassenprämien. Wohnungsmiete und Krankenkasse sind für eine Vielzahl von Familien die beiden grössten Ausgabenposten im Familienbudget. Wir zeigen in unserem Schwerpunkt (ab Seite 4) auf, was sonst noch alles die materiellen Existenzängste befeuert, die inzwischen auch beim Mittelstand erwacht sind. Und wer liefert nun nach dem Sorgenthema den leichten, versöhnlichen Ausklang? Es ist diesmal Dayana Pfammatter. Die Jodlerin, die auch unsere Titelseite ziert, gilt in der Schweiz als Volksmusik-Pionierin. Sie ist die Erste, die – an der Hochschule Luzern – einen Masterstudiengang mit Hauptfach Jodeln abgeschlossen hat (Seite 10). Jene, die jetzt eine Akademisierung der Folklore befürchten, werden von der allerersten studierten Jodlerin des Landes eines Besseren belehrt: An Dayana Pfammatters Freude am Traditionellen und Bodenständigen hat das neu erworbene Wissen rein gar nichts geändert. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Trotz Wohlstand klagen in der Schweiz viele über das enorm teure Leben 8 Herausgepickt / Nachrichten Die Finanzlage der Armee ist derzeit vor allem reich an Fragezeichen 10 Kultur Auch als akademische Jodlerin bleibt Dayana Pfammatter der Tradition treu 12 Gesellschaft Der Gaza-Krieg spült in der Schweiz den Antisemitismus an die Oberfläche 14 Sport Fussball ist in der Schweiz seit Jahren auch ein Labor der Integration 18 Politik Das klare Ja des Volks zum Ausbau der AHV ist ein historisches Verdikt Nachrichten aus Ihrer Region 22 Gesehen «Nichts»: Eine Ausstellung, die rein gar nichts zeigt, aber vieles offenbart 24 Aus dem Bundeshaus Die Schweiz verfolgt das Ziel, immer mehr Leistungen digital anzubieten 27 SwissCommunity-News Die Fachhochschule Bern bietet der Fünften Schweiz ein E-Voting-Tool an Zwei neue Briefmarken stellen die Fünfte Schweiz in den Fokus 31 Diskurs Sorgen auf der Insel des Wohlstands Titelbild: Jodlerin Dayana Pfammatter. Foto Alain Amherd Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 3 Editorial Inhalt
4 Schwerpunkt THEODORA PETER Ein finanziell sorgenfreies Leben führen. So stellen sich viele den Alltag in der reichen Schweiz vor – gehört doch der helvetische Lebensstandard zu den höchsten in Europa. Einzig in Luxemburg und Norwegen ist das verfügbare Einkommen noch höher. Doch das Bild der Wohlstandsinsel trifft lediglich auf 20 Prozent der Haushalte zu. Sie verfügen über ein monatliches Bruttoeinkommen von mehr als 8508 Franken für eine alleinlebende Person oder mehr als 17867 Franken für eine vierköpfige Familie. Alle übrigen Haushalte müssen mit weniger Geld auskommen – die einkommensschwächsten 20 Prozent gar mit weniger als 3970 Franken für eine alleinlebende Person oder weniger als 8338 Franken für ein Paar mit zwei Kindern In der reichen Schweiz wächst die Existenzangst Die Schweiz gilt als Insel des Wohlstands. Doch ist das Leben in einem der reichsten Länder teurer denn je. Wegen der hohen Kosten – insbesondere für Gesundheit und Wohnen – gerät auch der Mittelstand zunehmend unter Druck. lie liegt diese Bandbreite zwischen 8338 und 17867 Franken. Wohin das Geld einer Familie aus dem unteren Mittelstand fliesst, illustriert das fiktive Beispiel der Familie Meier (siehe Kasten Seite 6). Familien knapp bei Kasse Insbesondere Eltern mit Kindern stehen unter einem wachsenden finanziellen Druck. Dies zeigt das Familienbarometer 2024 von Pro Familia Schweiz: In der neuesten Umfrage gaben 52 Prozent der Befragten an, ihr Einkommen reiche nur knapp oder gar nicht zum Leben. Ein Jahr zuvor hatte dieser Wert noch bei 47 Prozent gelegen. Sparen für schlechtere Zeiten oder für die freiwillige Altersvorsorge in der 3. Säule liegt für die unter 14 Jahren. Diese neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik beziehen sich auf das Jahr 2021. Zum Bruttoeinkommen gehören sämtliche Einkünfte eines Haushaltes: Lohn, Rente oder andere Geldzuflüsse. Rund 60 Prozent der Wohnbevölkerung in der Schweiz lebt demnach von einem mittleren Einkommen. Doch auch in der Mittelschicht gibt es enorme Unterschiede zwischen oben und unten. Die Statistik zählt dazu alle Personen aus Haushalten, die zwischen 70 und 150 Prozent des sogenannten medianen Bruttoäquivalenzeinkommens erzielen. Oder in Franken ausgedrückt: Sowohl ein Single mit monatlich 8500 Franken wie auch eine Rentnerin mit knapp 4000 Franken Haushaltsbudget gehören zur mittleren Einkommensgruppe. Für die vierköpfige FamiSchweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 4 Schwerpunkt
5 meisten kaum drin: Zwei Drittel der Befragten gaben zu Protokoll, gar kein Geld oder höchstens 500 Franken pro Monat zur Seite legen zu können. Für vier von zehn Familien sind die hohen Lebenshaltungskosten sogar ein Grund, auf weitere Kinder zu verzichten. Rund die Hälfte der Befragten denkt über eine Erhöhung des Arbeitspensums eines oder beider Elternteile nach. Dies lohnt sich für viele aber nur dann, wenn die Kinder keine externe Betreuung benötigen. Denn die auch im Vergleich mit dem Ausland hohen Kosten für eine Kindertagesstätte fressen den Zusatzverdienst unter Umständen gleich wieder auf. Auf das Portemonnaie der gesamten Bevölkerung drücken die explodierenden Krankenkassenprämien, steigende Mietzinse, höhere Energietarife und die allgemeine Verteuerung der Lebenshaltungskosten. Den wachsenden Unmut der Menschen im Land spürt auch der eidgenössische Preisüberwacher Stefan Meierhans: In den letzten zwei Jahren verzeichnete seine Behörde eine Rekordzahl von Anfragen von besorgten Bürgerinnen und Bürgern. Im Jahr 2023 gingen 2775 Meldungen aus der Bevölkerung ein – darunter auch von Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen zahlen sollen. «Die Furcht vor einer allgemeinen Prekarisierung hat zugenommen», kommentierte Meierhans diese Entwicklung an seiner Jahresmedienkonferenz im Frühling. Steigende Preise als neue Realität Der Preisüberwacher soll die Bevölkerung vor zu hohen Preisen schützen, vor allem in Branchen, in denen kein Wettbewerb herrscht. Letztes Jahr intervenierte Meierhans zum Beispiel bei Tarifen im öffentlichen Verkehr (öV) – und erreichte, dass Inhaber eines 2.-Klasse-Generalabonnements (GA) weniger stark zur Kasse gebeten werden als von der öV-Branche gewollt. Statt stolzen Den Leidensdruck der Bevölkerung spürt auch der Preisüberwacher. Er erhält stets mehr Meldungen besorgter Bürgerinnen und Bürger. Cartoon: Max Spring Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3
4080 kostet das GA künftig «nur» 3995 Franken, 135 Franken mehr als bisher. Insgesamt steigen die öV-Preise trotzdem um rund vier Prozent. Gegen begründbare Preisaufschläge – etwa, weil der Strom teurer wird oder Investitionen nötig sind – kann auch «Monsieur Prix» nichts ausrichten: «Wir müssen uns an die neue Realität steigender Preise gewöhnen.» Meierhans will dieses Jahr ein Auge darauf halten, dass die höhere Mehrwertsteuer nicht übermässig auf die Konsumierenden überwälzt wird. Dazu lädt er für Mitte Jahr zu einem Kaufkraftgipfel ein, an dem auch Akteure aus der Wirtschaft teilnehmen sollen. Bei den Gesundheitskosten – dem grössten Sorgenkind der Schweizerinnen und zent. Grund dafür ist, dass die Bevölkerung älter wird sowie alle häufiger zum Arzt gehen. Als Folge haben sich die Krankenkassenprämien in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt. Eine vierköpfige Familie zahlt heute für die Grundversicherung bis zu 1250 Franken pro Monat. Die Krankenversicherung ist auch in der Politik ein Dauerthema. Die verschiedenen Akteure konnten sich bislang nicht auf Reformen einigen, die zu tieferen Gesundheitskosten führen. Eine Entlastung erhofft sich das Parlament von einem neuen Finanzierungsmodell, das mehr Anreize für ambulante Behandlungen ohne teuren Spitalaufenthalt schafft. Parallel dazu propagieren die politischen Parteien Schweizer – sieht der Preisüberwacher Potenzial für Preissenkungen – beispielsweise bei Medikamenten oder bei Spital- und Labortarifen. Doch die Ausgaben für den Gesundheitssektor wachsen jährlich um rund drei ProDie hohen Gesundheitskosten sind die grösste Sorge der Schweizer Bevölkerung. Seit 20 Jahren haben sich die Krankenkassenprämien mehr als verdoppelt. Blick ins Portemonnaie einer Mittelstandsfamilie Die vierköpfige Familie Meier lebt in einer grösseren Schweizer Stadt. Beide Eltern arbeiten Teilzeit und erzielen zusammen ein Nettoeinkommen von 9000 Franken pro Monat. Den grössten Posten im Haushaltsbudget macht das Wohnen aus: Für die Miete der Vier-Zimmer-Wohnung zahlen Meiers monatlich 2200 Franken inklusive Nebenkosten. Dazu kommt die Rechnung für Strom und Gas von 150 Franken. Die Prämien für die Krankenkasse und weitere Versicherungen belaufen sich auf 1300 Franken. Für die Steuern müssen Meiers pro Monat rund 1000 Franken zur Seite legen. 1200 Franken kosten die Einkäufe für Nahrungsmittel und Haushaltartikel. Internetanschluss, Mobiltelefone, TV- und Radiogebühren schlagen mit 250 Franken zu Buche. Für Kleider, Schuhe, Coiffeur und Freizeitaktivitäten sind pro Monat im Schnitt rund 1000 Franken reserviert. Darin nicht inbegriffen sind die Musikstunden für den achtjährigen Sohn und die zehnjährige Tochter. Kostenpunkt: 250 Franken pro Monat. Die Eltern arbeiten zu 80 und 60 Prozent. An drei Wochentagen kümmert sich abwechselnd ein Elternteil um die Familienarbeit und kocht mittags für die Kinder. Zwei Wochentage verbringt der Nachwuchs in der Tagesschule, was monatlich 800 Franken kostet. Früher – als die Kinder noch nicht zur Schule gingen – zahlten die Eltern mehr als doppelt so viel für die externe Betreuung in einer Kindertagesstätte. Meiers haben kein Auto. Für die Abonnemente im öffentlichen Verkehr, die gelegentliche Nutzung von Car-Sharing und die Kosten für ihre Velos rechnen sie monatlich mit 750 Franken. Für Rückstellungen und Unvorhergesehenes sind 600 Franken reserviert. Dazu gehören insbesondere Ausgaben, die von der Grundversicherung der Krankenkasse nicht gedeckt werden: Nebst Franchise und Selbstbehalt gehen Termine beim Optiker oder bei der Zahnärztin rasch ins Geld. Eine Zahnspange für Kinder kostet mehrere Tausend Franken. All diese Budgetposten summieren sich zu potenziellen Ausgaben von 8500 Franken pro Monat. Der Mittelstandsfamilie Meier verbleiben somit 500 Franken für Ferien und das Sparen fürs Alter. Bei Familien mit tieferem Einkommen fällt dieser finanzielle Spielraum oft ganz weg. (TP) Cartoon: Max Spring Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 6 Schwerpunkt
eigene Rezepte: Am 9. Juni kommen zwei unterschiedliche Volksinitiativen zur Abstimmung. Während die MittePartei eine Kostenbremse installieren will, fordert die SP mehr staatliche Mittel für Prämienverbilligungen (mehr dazu im Zusatztext rechts). Bezahlbare Wohnungen sind rar Ein weiterer grosser Brocken im Haushaltbudget ist die Wohnungsmiete. Anders als in vielen Ländern kann sich in der Schweiz nur eine Minderheit eigene vier Wände leisten: 58 Prozent der Bevölkerung lebt in Mietwohnungen. Auf dem ausgetrockneten Wohnungsmarkt wird es aber immer schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden. In den letzten 15 Jahren sind die durchschnittlichen Angebotspreise um 20 Prozent gestiegen. In grossen Städten wie Zürich und Genf sind Inserate mit Mieten von weit über 3000 Franken pro Monat inzwischen keine Seltenheit mehr. Der Mieterinnen- und Mieterverband sieht die Verantwortung dafür in der «Profitgier» der Immobilienbranche nach hohen Renditen. Linke Forderungen nach einer staatlichen Mietpreiskontrolle sind jedoch bisher gescheitert. Der Bundesrat zeigte sich jüngst bereit, die Regeln der Mietpreisgestaltung zumindest unter die Lupe zu zeigen. Weniger stark ins Gewicht fallen die Kosten fürs Essen. 2021 gab der Schweizer Durchschnittshaushalt 6,8 Prozent für Nahrungsmittel aus. In vielen europäischen Ländern ist dieser Anteil fast doppelt so hoch, in Rumänien liegt er gar bei mehr als 28 Prozent. Trotzdem spürt auch die Bevölkerung in der Schweiz, dass der Wocheneinkauf im Supermarkt, die Tasse Kaffee im Restaurant oder die Briefmarke bei der Post teurer geworden sind. Höhere Preise im Alltag werden stärker wahrgenommen und drücken erst recht auf die Stimmung. Damit bröckelt auch die Gewissheit vom vermeintlich stabilen Wohlstand in der Schweiz. Zwei Volksinitiativen gegen hohe Gesundheitskosten Am 9. Juni entscheiden die Stimmberechtigten in der Schweiz über zwei Volksinitiativen, die das Problem der hohen Gesundheitskosten auf unterschiedliche Art anpacken wollen: Die Prämien-EntlastungsInitiative der SP sowie die Kostenbremse-Initiative der Mitte. 1. Mehr staatliche Prämienverbilligungen Die SP-Initiative «Maximal 10% des Einkommens für die Krankenkassenprämien» verlangt eine Deckelung der Prämien. Die Versicherten sollen demnach höchstens zehn Prozent des verfügbaren Einkommens für die Krankenkassen zahlen müssen. Den Restbetrag müsste der Staat finanzieren. Das System der Prämienverbilligungen existiert bereits heute in den Kantonen, wird aber dort höchst unterschiedlich angewendet und genügt aus Sicht der Initianten nicht. Sie fordern, dass nebst den tiefen Einkommen auch der Mittelstand von einer Prämienentlastung profitiert. So könnte eine vierköpfige Familie bis zu mehrere Hundert Franken pro Monat einsparen. Den bürgerlichen Parteien geht die linke Forderung zu weit. Mit einer solchen «Pflästerlipolitik» bekämpfe man nur Symptome statt Ursachen, argumentieren die Gegner. Ihr wichtigstes Argument sind jedoch die hohen Kostenfolgen von jährlich rund 4,2 Milliarden Franken. Dennoch hat das Parlament beschlossen, dass die Kantone mehr Geld für die Prämienverbilligungen einsetzen sollen – dies aber in deutlich geringerem Umfang als die Initianten verlangten. Dieser indirekte Gegenvorschlag wird umgesetzt, sofern die Initiative vom Stimmvolk abgelehnt wird. Link zur Initiative: bezahlbare-praemien.ch 2. Sparzwang durch Kostenbremse Ein anderes Rezept schlägt die Mitte-Partei mit der Initiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen» vor. Sie verlangt, dass Bund und Kantone eingreifen müssen, wenn die Gesundheitskosten stärker ansteigen als die Löhne. Damit erhofft sich die Partei mehr Druck zu Kostensenkungen bei der obligatorischen Krankenversicherung. Sparpotenzial sehen die Initianten zum Beispiel bei den im Vergleich zum Ausland nach wie vor hohen Medikamentenpreisen. Auch solle es noch mehr Anreize geben für ambulante Eingriffe, die weniger kosten als ein Spitalaufenthalt. Die Gegner – unter ihnen die Ärzteverbände – warnen vor «schädlichen Nebenwirkungen» einer solchen Kostenbremse. Sie könnte im schlimmsten Fall zu langen Wartelisten und einer «Zwei-Klassen-Medizin» führen, so das Argument. Auch Bundesrat und Parlament lehnen den Vorschlag als zu rigide ab, haben jedoch wie bei der SP-Prämieninitiative einen indirekten Gegenvorschlag erarbeitet. Demnach soll die Regierung jeweils für vier Jahre Kosten- und Qualitätsziele festlegen. Berücksichtigt würden dabei auch Faktoren wie die Alterung der Gesellschaft sowie medizinisch-technische Fortschritte. Damit soll auch transparenter werden, welche Kosten medizinisch gerechtfertigt sind. Link zur Initiative: die-mitte.ch/kostenbremse-initiative Cartoon Max Spring Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 7
Gericht befindet: Schweizer Regierung verletzt mit ihrer Klimapolitik Menschenrechte Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg fällte am 9. April 2024 ein Urteil, das über die Schweiz hinaus Signalwirkung für den Klimaschutz haben dürfte: Das Gericht befand, die Schweizer Regierung verletzte mit ihrer Klimapolitik Menschenrechte. Geklagt hatte eine Gruppe von Schweizer Seniorinnen (siehe «Schweizer Revue»-Beitrag: «Zu wenig Klimaschutz: Ältere Frauen verklagen die Schweiz», 6/2023). Die Frauen argumentierten, der Staat habe eine vorsorgliche Schutzpflicht, müsse also das Recht auf Leben schützen. Mit seiner zu laxen Klimapolitik tue er das nicht. Der EMGR teilt nun diese Sicht. Indem die Schweiz früher gesetzte Ziele zur Senkung der CO2-Emissionen nicht durchsetze, tue sie zu wenig gegen die existenzielle Bedrohung, die vom Klimawandel ausgehe. Das Urteil könnte die Schweiz nun dazu zwingen, die Emission von Treibhausgasen stärker und rascher voranzutreiben (MUL) Schweiz und EU verhandeln über neues Abkommen Seit dem 18. März 2024 verhandeln die Schweiz und die Europäische Union (EU) wieder über ein Abkommen, das die gegenseitigen Beziehungen regeln soll. Den Verhandlungen ging eine lange Zeit der Ungewissheit voraus: Vor drei Jahren brach der Bundesrat einseitig die damals laufenden Verhandlungen über ein neues Rahmenabkommen mit der EU ab – und auf dieses Scheitern folgten langwierige Sondierungsgespräche. Deren Ergebnisse bilden nun die Basis für die eigentlichen Verhandlungen, die noch dieses Jahr abgeschlossen werden sollen. Ein leichter Gang dürfte der Prozess für die Schweiz nicht werden. So betonte Bundespräsidentin Viola Amherd bei Verhandlungsbeginn, es seien noch in vielen Teilfragen Lösungen zu finden. Für die Schweiz sind geregelte Verhältnisse zur benachbarten EU von grösster Bedeutung – für den freien Personenverkehr, den Warenverkehr, aber auch für Wissenschaft und Forschung. (MUL) Ausgezeichnete Dunkelheit im Naturpark Gantrisch Dem Naturpark Gantrisch, der Teile der bernischen und freiburgischen Voralpen abdeckt, ist im März von Dark Sky International das Label «Dark Sky Park» verliehen worden. Es ist das erste und einzige Gebiet in der Schweiz mit attestierter, nächtlicher Dunkelheit. Die geschützte Kernzone umfasst rund 100 km2. Projektleiterin Nicole Dahinden würdigt das Label als «grosse Wertschätzung für die Nachtdunkelheit». Und laut Lydia Plüss vom Förderverein Region Gantrisch werde damit das Engagement aller belohnt, «die sich für die Bewahrung der Nachtlandschaft einsetzen». Die nun zertifizierte Region ist auch ein wichtiges Durchzugsbiet für Vogelschwärme. Für sie – sowie für Lurche, Insekten und ganz generell für nachtaktive Spezies – ist die gewahrte Dunkelheit auch ein direkter Beitrag zum Artenschutz. Die «Schweizer Revue» hatte das Vorhaben bereits 2019 ausführlich vorgestellt: revue.link/nacht (MUL) Onur Boyman Monate nach einer Corona-Infektion leiden manche Menschen immer noch unter Langzeitfolgen: tiefe Erschöpfung, Kurzatmigkeit, Gedächtnisprobleme. Das Bundesamt für Gesundheit bezeichnet dies als PostCovid-19-Erkrankung, andere sprechen von Long Covid. Warum sich ein Teil der Infizierten nicht erholt, gibt der Medizin Rätsel auf. Das Krankheitsbild besteht aus verschiedenen Symptomen und ist schwer fassbar, gesicherte Diagnosen und Therapien fehlen. Fest steht: Menschen mit Long Covid fallen oft längere Zeit am Arbeitsplatz aus; die Schweizer Invalidenversicherung verzeichnete bisher über 5000 Anmeldungen. «Für die Betroffenen ist es dramatisch», unterstreicht Onur Boyman, Professor für klinische Immunologie an der Universität Zürich. Als belastend empfinden sie auch, dass ihre Symptome oft als psychisch bedingt abgetan werden. Nun hat ein Team um Boyman in einer international beachteten, im Magazin «Science» publizierten Studie etwas über den Krankheitsmechanimus herausgefunden: Mitverantwortlich für Long Covid ist ein Teil des menschlichen Immunsystems, das sogenannte Komplementsystem. «Es kehrt bei Long-Covid-Patienten nicht mehr in den Ruhezustand zurück», erklärt der Immunologe. Der wild gewordene Zweig des körperlichen Abwehrsystems führt zu Schäden, deren Anzeichen die Forschenden im Blut nachweisen konnten. Das bedeutet: Long Covid könnte dereinst per Bluttest diagnostiziert werden. Auch eröffnen sich laut Boyman neue Wege, um gezieltere Therapien zu entwickeln. Bis dahin dauert es aber noch und braucht mehr Forschung. Der Stigmatisierung der Betroffenen haben die Zürcher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler trotzdem bereits ein Stück Boden entzogen. SUSANNE WENGER Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 8 Herausgepickt Nachrichten
9 CHRISTOF FORSTER Am Anfang stand eine Mitteilung der Armeespitze: Wegen der angespannten finanziellen Situation verzichte die Armee auf diverse Anlässe, darunter eine grosse Flugshow in Emmen. Sie verfehlte ihre Schockwirkung nicht. Korpskommandant Thomas Süssli war fortan damit beschäftigt, den aufgescheuchten Politikern und Medien Erklärungen zu liefern. Tagelang wurde gerätselt, welche Bedeutung das Verteidigungsdepartement und die Armee dem Wort «Liquiditätsengpass» beimass. Die zuständige Bundesrätin, Viola Amherd, hielt sich lange im rückwärtigen Raum, bis sie selbst eingriff. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet und es bleibt zumindest eine Erkenntnis: In der Kommunikation hat die Armeeführung noch nicht ihr volles Potenzial erreicht. Kaum zufällig eliminierte Armeechef Süssli eine Flugshow und weitere Publikumsanlässe. Diese kosten zwar im Vergleich zu den neuen Kampfjets ein Butterbrot, sind aber in der Bevölkerung beliebt. Damit hatte er die Aufmerksamkeit, die er sich wünschte. Die Absage begründete er unter anderem mit der «Liquiditätssituation». Doch was meinte er damit: Gehen der Armee bald die flüssigen Mittel aus? Eine fehlende Milliarde? Zufall oder nicht: Einige Tage später berichtete Radio SRF über ein internes Papier des Armeestabs. Dieses legt nahe, dass der Armee 2024 und 2025 insgesamt über eine Milliarde Franken fehlt, um alle Rechnungen für bereits bestellte neue Rüstungsgüter zu bezahlen. In dem von SRF zitierten armeeinternen Dokument ist explizit die Rede von «Liquiditätsengpässen». Diese seien zumindest teilweise hausgemacht: Die Armee ist von ihrer eigenen Finanzplanung abgewichen. Den Armeeplanern war bereits vor Jahren bewusst, dass die Beschaffung eines neuen Kampfjets und die Verstärkung der Luftabwehr im bestehenden Finanzrahmen ein Kraftakt wird. Deshalb entschied man, dass die Armee während mehrerer Jahre entweder gar keine oder nur wenige Rüstungsgüter bestellen würde, um so Gelder freizuspielen. Die Armee wich jedoch von diesem Plan ab: Ab 2020 liess sie sich von Bundesrat und Parlament grössere Rüstungskäufe bewilligen als ursprünglich geplant. Die Armee lebte fortan über ihren Verhältnissen. 2022 zeichnete sich unerwartet eine Lösung für die Finanzprobleme der Armee ab. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wollte das Parlament die Verteidigungsausgaben rasch aufstocken. Ziel waren Militärausgaben von 1 Prozent des BIP bis 2030 – von damals 5,3 auf 9,5 Milliarden Franken. Das Finanzdepartement warnte vergeblich. Gestützt auf die Beschlüsse des Parlaments begann das Militär mit der Planung für entsprechende Rüstungskäufe. Tritt auf die Bremse Doch bereits ein Jahr später trat der Gesamtbundesrat angesichts der klammen Bundeskasse auf die Bremse. Er verlangte, den Militäretat nicht wie vom Parlament gefordert bis 2030 auf ein Prozent des BIP zu steigern, sondern erst bis 2035. Das Parlament akzeptierte den langsameren Wachstumspfad. Die Verschiebung um fünf Jahre sieht auf dem Papier nach wenig aus, hat aber grosse Folgen: Der Armee stehen bis 2035 massiv weniger Mittel zur Verfügung für Rüstungskäufe – rund 5,3 Milliarden Franken. Dieser Aufschub hat dazu geführt, dass die Armee auf Kaufverträgen sitzt, für die sie kein Budget mehr besitzt. Und auf diesen Umstand wollte die Armeespitze aufmerksam machen. Verwirrende Terminologie Aufgrund der ungeschickten Kommunikation und der verwirrenden Terminologie («Liquiditätsengpass») entstand allerdings in der Öffentlichkeit der Eindruck, der Armee gingen bald die flüssigen Mittel aus. Dem sei aber nicht so, beteuerte Amherd einige Wochen später in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung». Der Grund für die Verwirrung: Das interne Verständnis von «Liquiditätsengpass» und der allgemeine Sprachgebrauch stimmen laut Amherd nicht überein. Es bedeute bei der Armee eben gerade nicht, dass man seine Rechnungen nicht mehr bezahlen könne. Die Finanzleute der Armee lösen das Problem kurzfristig so, dass sie immer wieder Projekte und damit auch Zahlungen nach hinten verschieben. Aber dies beseitigt die grundsätzliche Malaise nicht: Wunschliste und Finanzmittel klaffen bei der Armee auseinander. Rechnen und kommunizieren mit der Schweizer Armee Hat sie oder hat sie nicht, hat sie oder hat sie nicht ... genug Geld? Die Rede ist von der Armee. Darüber rätselte die Schweiz in den ersten Wochen des neuen Jahres. Ein wenig «lost in translation»? Rüstungschef Urs Loher, Armeechef Thomas Süssli sowie Bundespräsidentin und Armeeministerin Viola Amherd erklären sich in Bern. Foto: Keystone Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 Nachrichten
SUSANNE WENGER Sie kommt aus dem Bergdorf Mund oberhalb von Brig und steht für ein neues Kapitel in der Schweizer Volksmusik: Dayana Pfammatter Gurten. Die 31-Jährige verfügt seit Kurzem über einen Master of Arts in Musik mit Hauptfach Jodeln. Sie ist die Erste, die den 2018 lancierten Studiengang an der Hochschule Luzern erfolgreich abgeschlossen hat. «Viele denken, ich hätte dort den ganzen Tag gejodelt», sagt sie. Doch es sei ein breit ausgerichtetes Musikstudium an der Zentralschweizer Fachhochschule gewesen. Neben Stimmbildung und Körperarbeit büffelte sie in den fünfeinhalb Jahren Fächer wie Musiktheorie, Rhythmik und Musikgeschichte. Gemeinsam mit anderen Musikstudierenden verschiedener Richtungen spielte sie in einem Volksmusik-Ensemble, lernte das Komponieren und Arrangieren. «Ich durfte meinen Rucksack mit viel musikalischem Wissen füllen», stellt sie fest. Jodelerfahrung brachte Dayana Pfammatter bereits mit, denn das Jodeln begleitet sie seit der Kindheit. Ihre Familie pflegte den Jodelgesang. Früh lernte sie zudem, das «Schwyzerörgeli» zu spielen, die Die erste studierte Jodlerin will die Tradition weitergeben Die Walliserin Dayana Pfammatter Gurten ist die erste Jodlerin mit Master-Abschluss in der Schweiz. Bedenken, das beliebte Brauchtum werde an der Hochschule akademisiert, weiss sie zu zerstreuen. Ihr sei es wichtig, den traditionellen Jodelgesang weiterzugeben, sagt sie. für die Schweizer Volksmusik typische Handharmonika. Nach der Schule absolvierte die Walliserin eine Lehre als Pharma-Assistentin, blieb aber mit dem Jodeln verbunden. Vom Jodeln leben Sie besuchte Ausbildungen des Eidgenössischen Jodlerverbands und übernahm, erst 23-jährig, die Leitung des Jodlerklubs Safran in ihrem Dorf Mund. In einer Weiterbildung erfuhr sie vom neu konzipierten Musikstudiengang der Hochschule Luzern, bei dem Jodeln als Hauptfach gewählt Der Tradition verbunden beim Jodeln, der Natur verbunden in der Freizeit: Dayana Pfammatter mit einem ihrer Schwarznasenschafe. Foto Alain Amherd Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 10 Kultur
hung, das sie an der Hochschule mitbekommen hat, vermittelt sie auch Schulkindern das Jodeln. Jodelkurse boomen in der Schweiz Selber hat es Dayana Pfammatter vor allem der Naturjodel angetan, die ursprünglichste Art des Jodelns: Jodeln pur, ohne Liedtext darum herum. «Der Naturjodel ist meine Herzensmusik», sagt sie. Er berühre sie tief, gehe ihr am meisten unter die Haut. Sie ist damit nicht allein. Während das Jodeln in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg den progressiv-urbanen Bevölkerungsgruppen lange Zeit als allzu urchig-patriotisch galt, erfreut es sich seit einigen Jahren grösster Beliebtheit. Jodelkurse boomen, auch in den Städten. Dayana Pfammatter verwundert das nicht: «In unserer stressigen und schnelllebigen Zeit möchten viele zurück zu den Wurzeln und zu sich selber.» Einige meditieren oder machen Yoga, andere jodeln, sagt sie: «Das Jodeln ist etwas sehr Natürliches, Archaisches. Es hilft den Leuten, sich zu erden.» Neben dem Unterrichten und täglichen Üben leitet Dayana Pfammatter nach wie vor den Jodlerklub Safran in Mund, dem nächstes Jahr die Ehre zufällt, Gastgeber des kantonalen Jodlertreffens zu sein. Da muss vieles vorbereitet und organisiert werden. Zudem tritt sie weiterhin in Kleinformationen auf. Ihr Master-Rezital Anfang Jahr auf der Bettmeralp, bei dem zwei Ostschweizer Musikerinnen sie begleiteten, gelang so gut, dass die drei Frauen ein nächstes Projekt planen. Und dann ist da noch Dayana Pfammatters Hobby: die Walliser Schwarznasenschafe. «Durch meine Tiere bin ich sehr natur- und heimatverbunden», sagt sie. ein Happening, das letztes Mal 10 000 Aktive und über 200000 Besucherinnen und Besucher anzog. Das Jodeln ist in der Schweiz Kulturgut und für Teile der Bevölkerung identitätsstiftend. Man beobachtet deshalb genau, was mit dem Jodeln zwischen Tradition, Öffnung und Populärkultur geschieht. So kamen in der traditionellen Volksmusik-Szene teilweise Bedenken auf, als der Jodel vor sechs Jahren akademisches Fach wurde. Das Jodeln sei kein Kunstgesang, lautete ein Einwand. Es weise regionale Eigenheiten auf, die als Brauchtum vor Ort singenderweise überliefert würden. Altes Liedgut bewahrt Falls es solche Zweifel immer noch gibt, werden sie mindestens gegenüber Dayana Pfammatter nicht mehr geäussert. Das hat stark mit ihrer Person zu tun. Die Walliserin ist in der Schweizer Jodlerwelt verankert. Mit ihrer Schwester trat sie früher an Konzerten «in den Jodlerhochburgen» auf, wie sie sagt. Der Eidgenössische Jodlerverband engagiert sie regelmässig als Kursleiterin und Jurorin für Jodlerfeste. Ab Herbst wird sie in zwei regionalen Verbänden die Hauptverantwortliche für die Chorleiter-Ausbildung sein. «Die Leute kennen mich», hält sie fest, «sie wissen, dass ich mich nicht verbiege.» Im Studium befasste sich Dayana Pfammatter mit zeitgenössischexperimenteller Volksmusik und vertiefte sich zugleich in traditionelle Jodelmelodien: «Wir hörten uns alte, knisternde Tonaufnahmen an und transkribierten das Liedgut, damit es nicht verloren geht.» Die Tradition zu bewahren und im Unterricht weiterzugeben ist ihr wichtig, und sie hat dabei besonders den Nachwuchs im Auge. Mit dem Wissen über musikalische FrüherzieDayana Pfammatter beim Unterrichten: Sie wird mit Anfragen für Jodellektionen nur so überhäuft. Foto Alain Amherd Link: klangwaerch.ch werden kann – ein schweizweites Novum. Dayana Pfammatter bewarb sich und wurde aufgenommen. «Es war für mich die Chance, ein Musikpädagogikdiplom zu erwerben», sagt sie. Tatsächlich kann sie seit dem Master-Abschluss Anfang 2024 beruflich ganz aufs Jodeln setzen. Sie arbeitet als Gesangsdozentin an einer Musikschule und als selbstständige Jodellehrerin. Ausserdem wird sie als Sängerin gebucht. Ihren Plan, zur Sicherheit ein Standbein als Fachkraft in der Apotheke zu behalten, hat sie vorerst ausgesetzt. Denn sie wird mit Anfragen für Jodellektionen nur so überhäuft. «Es ist schön, das Wissen zu hundert Prozent weitergeben zu können», unterstreicht sie. Entwicklung genau beobachtet Das Jodeln – einst ein Ruf von Berg zu Berg als Kommunikationsmittel – wurde nicht in der Schweiz erfunden. Doch der klangvolle alpenländische, oft mehrstimmige Lautfolgen-Gesang mit sprunghaftem Wechsel zwischen Brust- und Kopfstimme wird hier seit dem 19. Jahrhundert hingebungsvoll praktiziert. Es gibt eine rege JodlerSzene an der Basis, mit lokalen Chören und Verbandsstrukturen. Alle drei Jahre messen sich qualifizierte Chöre am Eidgenössischen Jodlerfest, Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 11
STÉPHANE HERZOG Seit den furchtbaren Ereignissen vom 7. Oktober 2023 und dem Ausbruch des Gaza-Kriegs haben antisemitische Äusserungen und Handlungen in der Schweiz deutlich zugenommen. Die beiden Dachverbände der jüdischen Vereine in der Deutschschweiz und in der Romandie zählten im Jahr 2023 mehr als 2000 Fälle von Aggression, Beleidigungen, Drohungen und Hasstiraden im Internet. In der Romandie verzeichnete die «Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la diffamation» (CICAD) gegenüber dem Vorjahr einen Anstieg der Fälle um 68 Prozent. Von Oktober bis Ende 2023 beklagte der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) sechs körperliche Angriffe auf Juden, gegenüber einem einzigen im Jahr 2022. Krieg im Nahen Osten – und in der Schweiz mehr Antisemitismus In der Schweiz äussert sich Antisemitismus meist sehr verhalten. Die Anschläge vom 7. Oktober 2023 und der Gaza-Krieg haben jedoch zu Hassparolen geführt, denen jetzt auch Taten folgten – sogar ein Messerangriff. Unter den Juden geht die Angst um. Reaktionen in Wellen Haben sich die antisemitischen Handlungen in der Schweiz seit 2023 deutlich verschärft? Laut dem Historiker Marc Perrenoud fehlt der Abstand. Antisemitismus kommt und geht in Wellen. Die Schweiz gewährte den Juden nur zögerlich gleiche Rechte (1874). Perrenoud erinnert daran, dass die erste Volksinitiative in der Schweiz im Jahr 1893 das Verbot des rituellen Schächtens betraf und somit antisemitischer Natur war. In der Zwischenkriegszeit fühlte sich die Schweiz vom «Judäo-Bolschewismus» bedroht. Von 1939 bis 1945 war Antisemitismus Teil der Migrationspolitik. «Die Behörden behaupteten, die «Verjudung» der Schweiz zu bekämpfen, obwohl jüdische Menschen nie mehr als ein Prozent der Bevölkerung ausmachten», so der Historiker. Im Sechstagekrieg 1967 schlug das Pendel auf die Seite Israels aus. «Die Schweizer Bevölkerung konnte sich mit dieser kleinen, von ihren Nachbarn angegriffenen Demokratie identifizieren», so die Analyse von Marc Perrenoud. 1995 brach die Affäre um die nachrichtenlosen Vermögen aus, eine Reaktion auf die Zögerlichkeit der Schweizer Banken, Bankkonten an Opfer des Nationalsozialismus zurückzugeben. Damals «fühlten sich die Schweizer in ihrer Identität angegriffen und einige ihrer unmittelbaren Reaktionen liessen den Antisemitismus wieder aufleben», schreibt die Historikerin Brigitte Sion. Seither «zeigt sich Antisemitismus in allen Bevölkerungsschichten (...). Er tritt nun aus seinem Dasein im Verborgenen heraus und äussert sich in der politischen Arena, den Medien und anderen öffentlichen Foren.» (SH) «Sich in der Öffentlichkeit als Jude zu erkennen zu geben ist oft mit Unsicherheit oder sogar Angst verbunden», erklärte der SIG. Seine Forderung an den Staat: eine verstärkte «Überwachung von Antisemitismus und Rassismus». Die CICAD fordert, dass Vertreter der Zivilgesellschaft regelmässig Schulen besuchen, um das Thema der Ablehnung von Mitmenschen zu diskutieren. Solche Massnahmen seien sinnvoller als Sicherheitsmassnahmen rund um Synagogen, sagt diese Vereinigung. Der CICAD sind Fälle bekannt, in denen «Jude» in Schulen als Beleidigung verwendet wird. So wie bei einem Vorfall in einer Genfer Turnhalle, wo ein Schüler einen Jungen mit Deodorant besprühte und drohte, ihn «wie alle Juden zu vergasen», berichtet Johanne Gurfinkiel von der CICAD. Auf Worte folgen Taten. In La Chaux-de-Fonds wurden Glasfenster der Synagoge mit Eisbrocken eingeschlagen. In Davos sorgte die Weigerung eines Restaurantbetreibers, Sportgeräte an jüdische Gäste zu vermieten, für einen Skandal über die Landesgrenzen hinaus. Und in Zürich verletzte am 2. März ein junger Schweizer tunesischer Herkunft einen orthodoxen Juden mit einer Stichwaffe lebensbedrohlich. In seinem vor dem Angriff geposteten Video schwor der 15-Jährige dem Islamischen Staat die Treue und rief «zum weltweiten Kampf gegen die Juden» auf. Seine Tat brachte er mit der Lage im Nahen Osten in Verbindung. Aggression in Genf In einem kürzlich erschienenen Buch über die Geschichte der Juden in der Romandie stellt die Historikerin Brigitte Sion fest, dass es Antisemitismus in der Schweiz schon immer gegeben hat, allerdings selten in gewalttätiger Form. «Es handelt sich eher um ein leises Grollen im Hintergrund, das sich in Worten, Diskriminierung bei der Einstellung oder Beförderung, Spott oder Karikaturen und anonymen Schriften äussert.» Seit dem 7. Oktober sind Äusserungen gegen Juden lauter geworden. «Merci au Hamas» war an einer Wand der Universität Genf zu lesen. «Für seine Existenz braucht Antisemitismus keine Juden, er funktioniert als eine Erklärung des Weltgeschehens», kommentierte im Februar die Soziologin Illana Weizman während einer Debatte in Genf. In einem Podcast der Aktivistin mit dem Titel «Wer hat Angst vor Juden?» ist die ganze Bandbreite antisemitischer Ausdrücke zu hören. Während der Corona-Pandemie zum Beispiel, als Lockdown und Impfobligatorium mit der Judenverfolgung verglichen wurden. «Mich beunruhigt, Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 12 Gesellschaft
wie wenig die Leute die Geschichte der Juden und des Holocaust kennen», klagt der Historiker Marc Perrenoud. Krisen lassen den Antisemitismus wieder aufleben. In Lausanne hält die Verlegerin und linke Aktivistin E. G. (Name der Redaktion bekannt) verbittert fest: «Meine Tochter hat geheiratet, und ich bin sehr froh, dass sie ihren Namen geändert hat.» Sie selbst fühlt sich durch antisemitische Beiträge in sozialen Netzwerken verletzt: «Es gab sehr wenig Empathie für die Opfer des 7. Oktober.» «Antisemitismus äussert sich in vielen kleinen Stichen», meint Félix, ein Sozialwissenschaftler aus Genf, der eines Morgens im November ein Graffiti an seinem Hauseingang vorfand: ein Hakenkreuz, verbunden mit einem Davidstern. Noch am selben Tag veröffentlichte Félix einen Aufruf auf seinem Facebook-Account. «Wer immer das war: Sprechen Sie mit mir darüber, ich werde Sie in aller Menschlichkeit empfangen», hiess es in seinem Post. Er ist der einzige Jude in diesem Haus. «Ich hatte Angst um meine 15-jährige Tochter, die bei mir wohnt», sagt Felix. Seine Tochter ist keine Jüdin. «Man wirft mir meine Identität vor, obwohl ich keiner Gemeinde angehöre», meint er. Die Stadtverwaltung liess das Graffiti rasch entfernen. Nathan Alfred, der neue Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde Genf, vergleicht Antisemitismus, wie auch Rassismus und Sexismus, mit einer Krankheit. «Frauenfeindlichkeit ist nicht das Problem von Frauen. Das Opfer ist nicht das Problem. Es ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft, ein solches Problem zu lösen», sagt er. Die Gemeindemitglieder kommen mit ihren Sorgen zu ihm. Kann man eine Mesusa – ein jüdisches Kultobjekt – an der Haustür anbringen? Er selbst hat sich dafür entschieden, sie im Inneren seines Hauses zu platzieren. «Noch vor sechs Monaten hätte ich sie aussen angebracht», sagte er. «Albert, Esther, Liebmann, Ruth et les autres – Présences juives en Suisse romande». Francine Brunschwig, Marc Perrenoud, Laurence Leitenberg, Jacques Ehrenfreund, Editions Livreo-Alphil, 2023. In Zürich versammelten sich Hunderte Menschen, um ihre Solidarität mit dem Opfer des Messerangriffs vom 2. März auszudrücken. Die Kundgebung wurde von der Gruppe «Gemeinsam Einsam» organisiert, die den Dialog zwischen Menschen muslimischen und jüdischen Glaubens fördert. Foto Keystone Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 13
Severino Minelli Milaim Rama Xherdan Shaqiri BENJAMIN STEFFEN* Ein ganz normales Schweizer Fussball-Länderspiel: Prall gefüllte Restaurants, in denen Schweizerdeutsch geredet wird oder Französisch oder Italienisch; Autos mit Schweizer Nummern; Fans mit Schweizer Fahnen oder roten Trikots des Schweizer Männer-Fussballnationalteams. Ein ganz normales Schweizer FussballLänderspiel, ausgetragen in Pristina, der Hauptstadt von Kosovo, im September 2023. Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri, die prägenden Schweizer Fussballer des letzten Jahrzehnts, haben kosovarischen Migrationshintergrund, «Xhaka, you’re in the heart of Kosovo», stand auf einem Plakat, das ein Kind in die Höhe hielt. Xhaka selber sagte, in Pristina fühle er sich zu Hause. Von hier seien seine Eltern einst ausgewandert, «um mir und meinem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen». Xhakas Bruder heisst Taulant, er spielte für das albanische Nationalteam, an der Europameisterschaft 2016 trafen sie aufeinander, in einem ganz normalen Schweizer FussballLänderspiel. Oder es gibt Breel Embolo, ebenso aus Basel wie die Brüder Xhaka, geboren in Kamerun. An der Weltmeisterschaft 2022 spielte er gegen sein Geburtsland. Er schoss sogar das Siegtor. «Breel ist für mich wie ein kleiner Bruder», sagte der gegnerische Trainer nach einem ganz normalen Schweizer Fussball-Länderspiel. Der Fussball lässt Länder und Leute verschmelzen – der Fussball als Integrationsmotor, ein weitverbreitetes Phänomen, das in der Schweiz schon früher grösser war als anderswo. Es begann mit einem Spieler wie Severino Minelli, geboren 1909; sein Vater Das grosse Spiel im kleinen Land Im Juni nimmt das Schweizer Fussballnationalteam einmal mehr an einer Endrunde teil. Damit schreibt es die Erfolgsgeschichte der Integration weiter. Was dabei überschattet wird: die verpasste Frauenförderung. war um die Jahrhundertwende mit der ersten italienischen Einwanderungswelle in die Schweiz gekommen. 1930 debütierte Minelli im Nationalteam, er absolvierte 80 Länderspiele und war einst der Schweizer RekordNationalspieler. Diesen Status hat heute Xhaka, im Herzen der Schweiz, im Herzen von Kosovo. Der erste Schweizer Nationalspieler mit kosovarischem Hintergrund, Milaim Rama, debütierte 2003, früher als in anderen Ländern. Der erste Schweizer Nationalspieler mit türkischem Hintergrund, Kubilay Türkyilmaz, debütierte 1988, über zehn Jahre früher als Mustafa Dogan in Deutschland. Auf Türkyilmaz folgten die Brüder Yakin, Hakan und Murat, der heutige Nationaltrainer. Nach Murats Geburt in Basel 1974 dauerte es fast 20 Jahre, bis er das Schweizer Bürgerrecht erhielt. Lange war erzählt und geschrieben worden, sogar Bundesrat Adolf Ogi solle Yakins Einbürgerung als Angelegenheit von «erheblichem nationalem Interesse» bezeichnet haben. Diese Geschichte vom Engagement des sportbegeisterten RegierungsmitGranit Xhaka Murat Yakin Breel Embolo Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 Sport 14
Hakan Yakin Spitzenteam der englischen Premier League, Champions-League-Sieger 2023. Und es trifft auch umgekehrt zu: Der Fussball ist in der kleinen Schweiz ganz gross. In den vergangenen Jahren hat er immer mehr Menschen erfasst, es gibt reihenweise Fussballklubs mit Wartelisten für ihre Juniorenteams, es gibt kaum ein Wochenende, an dem nicht fast jeder Fussballplatz des Landes besetzt ist, von Alt und Jung mit Familiengeschichten aus nah und fern. Und so ist diese Geschichte des Integrationsmotors das grosse Ganze und helle Schillernde, das vieles in den Schatten stellt. Im August 2022 verzeichnete der Schweizerische Fussballverband (SFV) 179 Nationalitäten, verteilt auf 300 000 Lizenzierte; der Anteil von Spielerinnen und Spieler mit einem ausländischen Pass, teils auch Doppelbürger, betrug 34 Prozent. Damals veröffentlichte der SFV eine umfassende Untersuchung zur «Sozialen Integration in Schweizer Fussballvereinen». Bei allen erfolgreichen Bemühungen stellte die Studie auch fest, dass Menschen mit Migrationshintergrund glieds klang gut, aber stimmte nicht. Es ist bloss so, dass sich Ogi einst im Namen des Bundesrates dahingehend geäussert hatte, «in Ausnahmefällen» könnten «Einbürgerungsgesuche beschleunigt behandelt werden», vor allem, «wenn ein erhebliches öffentliches Interesse» bestehe. Bei Yakin aber sei «keine beschleunigte Behandlung» erfolgt. Manchmal wird der Integrationsmotor stärker geredet, als er ist. Türkyilmaz musste sich als «Drecktürke» beschimpfen lassen, Nationalspieler hin oder her. Er trat vorübergehend aus der Auswahl zurück, obwohl die Herkunft im Team selber vermutlich selten ein Thema war. «Wenns drauf ankommt, haben alle dasselbe Ziel, da spielt es keine Rolle, ob du Secondo bist oder nicht», sagte Hakan Yakin 2016 in der «NZZ am Sonntag». Yakin war gefragt worden, ob es intern besprochen werde, wenn ein Spieler – wie einst Stephan Lichtsteiner – von «richtigen» und «anderen Schweizern» rede. Hakan Yakin sagte: «Im Nationalteam konzentrierst du dich aufs nächste Spiel. Oder haben Sie das Gefühl, dass die Spieler am Tisch sitzen und darüber diskutieren wollen?» Alles ganz normal. Yann Sommer Manuel Akanji Kubilay Türkyilmaz Stephan Lichtsteiner Von Minelli über Türkyilmaz bis Xhaka: Sie stehen dafür, wie sehr das Nationalteam politische Entwicklungen spiegelt, Einwanderungsströme, Kriege; und wie der Schweizer Fussball davon profitiert. Den letzten nachhaltigen Einfluss hatte die Migration aus Osteuropa, als Folge des Balkan-Krieges in den neunziger Jahren. Die Schweizer Nationalmannschaft nimmt regelmässig an Welt- und Europameisterschaften teil. In den vergangenen 20 Jahren verpasste sie ein einziges Turnier, die EM 2012; auch an der bevorstehenden EM in Deutschland ab Mitte Juni 2024 wird sie dabei sein. Und seit 2014 überstand sie stets auch die Gruppenphase, an der WM 2014, EM 2016, WM 2018, EM 2020, WM 2022, im Gegensatz zu Spanien, Deutschland, England, Portugal, Belgien oder Kroatien. Die kleinen Schweizer im Fussball ganz gross. In jeder Hinsicht. Granit Xhaka spielt bei Bayer Leverkusen, einem Spitzenteam der deutschen Bundesliga; Yann Sommer spielt bei Inter Mailand, einem Spitzenteam der italienischen Serie A; Manuel Akanji spielt bei Manchester City, einem Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 15
Nico Elvedi Svenja Fölmli «deutlich öfter von Diskriminierung im Verein betroffen» seien als Menschen ohne Migrationshintergrund, «jedes zehnte immigrierte Mitglied berichtet davon». Und was ebenfalls im Schatten steht, um nicht zu sagen: Diskriminiert wird – der Fussball der Frauen. Mit der Gleichstellung der Geschlechter im Fussball tut sich die Schweiz schwer. Immerhin gibt es ein Bewusstsein dafür. Zum Start der Frauen-WM im Sommer 2023 veröffentlichte der SFV ein Filmchen, das eine Familie am Esstisch zeigte. Die Tochter fragte den Vater, ob sie die WM schauen würden, worauf der Vater sagte: «Diesen Sommer ist keine WM.» Die Tochter blieb beharrlich, worauf der Vater merkte: Aha, die Frauenauswahl. Seine Gegenfrage: «Kennt man die?» Eigentlich schon. Ramona Bachmann spielte bis vor kurzem bei Paris Saint-Germain, einem Spitzenteam der französischen Division 1 Féminine, und ist seit Neustem bei den Houston Dash (USA) in der National Women’s Soccer League; Lia Wälti spielt bei Arsenal, einem Spitzenteam der englischen FA Women’s Super League; Riola Xhemaili spielt beim VfL Wolfsburg, einem Spitzenteam der deutschen Bundesliga. Aber es ist wie einst bei Murat Yakin: Der Frauenfussball erfährt in der Schweiz «keine beschleunigte Behandlung». Zu wenig «erhebliches öffentliches Interesse»? Vom Profitum ist die Women’s Super League weit entfernt. Im Nachwuchs ist laut Insidern keine Spur von Chancengleichheit für Mädchen und Buben betreffend Trainerqualität oder Zugängen zu Schul-und-Sport-Lösungen. Wenn Frauen den Aufbau von Mädchenteams forcierten, kam’s schon vor, dass Männer fragten, ob sie nicht endlich aufhörten damit. Und in manchen Klubs ist es noch immer so: Männer bekommen die besseren Trainingszeiten, eher neue Trikots und öfter Meisterschaftsspiele auf dem Hauptfeld. Es gibt noch immer wenig Trainerinnen, weil es vor 20 Jahren auch noch viel weniger Fussballerinnen gab; und es gibt noch kaum Kurse für Trainerinnen, obwohl Frauen schon mehrfach darauf hingewiesen haben, dass es nicht immer angenehm sei, als einzige Frau in einen Trainerkurs zu kommen. Alles ganz normal? Ausgerechnet in der Förderung des Frauenfussballs hinkt das Integrations-Vorbild anderen europäischen Ländern hinterher. Im Sommer 2025 findet in der Schweiz die Europameisterschaft der Frauen statt, es soll ein Fest werden mit lauter ausverkauften Spielen, mit prall gefüllten Restaurants, in denen Schweizerdeutsch geredet wird oder Französisch oder Italienisch oder Albanisch et cetera; Autos mit Schweizer Nummern; Fans mit Schweizer Fahnen oder roten Trikots des Schweizer Frauen-Fussballnationalteams. Der Sommer 2025 wird die Prüfung sein, ob der Integrationsmotor des Schweizer Fussballs stark genug ist, um auch Frauen stärker einzubinden. *Der Autor begleitete als Journalist das Schweizer Männer-Nationalteam von 2004 bis 2024. Fotos Seiten 14 bis 16: Alamy, Players Forumfree, Schweizerischer Fussballverband/football.ch Fabian Schär Remo Freuler Céderic Zesiger Alisha Lehmann Noah Okafor Lia Wälti Ramona Bachmann Riola Xhemaili Schweizer Revue / Mai 2024 / Nr.3 Sport 16
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