Schweizer Revue 4/2024

JULI 2024 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Die Bürde der Schweizer Bauern: Sie fühlen sich machtlos − und werden laut Nemo gewinnt den Eurovision Song Contest − und befeuert damit in der Schweiz die Geschlechter-Debatte Blick zurück: Die «Schweizer Revue» vor 50 Jahren Blick nach vorn: Die grosse Leserschaftsumfrage

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Redaktionsschluss! Für die aktuelle Ausgabe ist alles parat. Fast alles: Trotz nahender Deadline fehlt noch – das Titelbild. Etwas mit Bauern muss es sein. Etwas zum Thema «Befindlichkeit der Schweizer Bäuerinnen und Bauern», denn sie stehen im Fokus dieser Ausgabe. Sie fuhren im Frühling mit ihren beeindruckend grossen Traktoren protestierend durch die Gegend. Sie waren sichtlich stinkesauer. Was also zeigen wir auf dem Cover? Verärgerte Schweizer Traktorpiloten bei ihren doch sehr wohlorganisierten Protesten? Oder eher satte Wiesen, weidende Kühe? Oder Agrar-Ästhetik: ein Traktor mit Pflug, der eine akkurate Linie in den Acker zieht – mit der Alpenkette als Kulisse? Oder zeigen wir Bauern, die bedrohlich mit der Giftspritze hantieren? Vielleicht den Alpaufzug mit blumengeschmückten Herden? Oder industrielle Schweinemastbetriebe? Unsere Schwierigkeiten bei der Bildersuche sind symptomatisch. In der Schweiz wähnen wir uns alle ein wenig als Bäuerinnen und Bauern. Und das Bild der ländlich geprägten Postkarten-Schweiz kennen wir bestens. Etliche von uns fahren privat sogar so PS-starke Four-Wheel-Drives, als müssten wir jederzeit in der Lage sein rauszufahren, um dort – auf der Viehweide – zum Rechten zu sehen. Gleichzeitig haben wir kein klares Bild mehr, wer sie überhaupt sind, die Schweizer Bäuerinnen und Bauern. Und was sie genau tun. Sie prägen zwar das Aussehen der Schweiz. Sie sind aber wenige geworden. Bloss noch zwei Prozent arbeiten heute in einem bäuerlichen Betrieb. Wie die Stimmung dort ist, zeigt unser Schwerpunkt auf Seite 4. Wir entscheiden uns: Das «Revue»-Cover zeigt nun einen Bauernjungen, der mit Verve versucht, einen mächtigen Strohballen in Bewegung zu versetzen. Das symbolisiert einerseits schön all die bäuerlichen Mühen. Und zugleich belegt das Bild, wie verklärt die Wahrnehmung von uns 98 Prozent Nichtbauern und Nichtbäuerinnen inzwischen ist: So sähen wir es gerne; so erinnert es uns noch ein wenig an eine Zeit, wie sie einmal war. Aber heutige Schweizer Bauern wälzen keine Strohballen von Hand. Sie fahren mächtige Traktoren. Auf ihrem Acker. Und manchmal auch − protestierend − mitten in der Stadt. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Schweizer Bauern fühlen sich machtlos, trotz ihrer starken Lobby im Parlament 9 Nachrichten Kontroverse nach EMRK-Urteil: jubelnde Klimaseniorinnen, verärgerte Politiker 11 Schweizer Zahlen Der Läufer Dominic Lobalu pulverisiert einen 40-jährigen Schweizerrekord 12 Kultur Nemo gewinnt für die Schweiz den Eurovision Song Contest 2024 14 Gesehen Das Klosterdorf Einsiedeln im Theaterfieber − seit hundert Jahren 18 Politik Das Stimmvolk verwirft zwei Rezepte zur Schweizer Gesundheitspolitik deutlich 20 In eigener Sache Die grosse «Schweizer Revue»-Umfrage: Sagen Sie uns doch Ihre Meinung! Die «Schweizer Revue» in Festlaune: Die Zeitschrift wird 50 Jahre alt 25 Literatur Robert de Traz schuf den Mythos des Auslandschweizers 26 Reportage Campo (TI): Ein einst blühender Ort wird zum Geisterdorf 33 Aus dem Bundeshaus Die Schweizergarde prägt die Beziehung zwischen dem Vatikan und der Schweiz 35 SwissCommunity-News Wir Bauern und Bäuerinnen Titelbild: Aus dem Buch «Landwirtschaft Schweiz», AS-Verlag, 2014, des Zürcher Fotografen Markus Bühler. Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 3 Editorial Inhalt Foto Keystone

4 Mächtige Bauernpolitiker, machtlose Bauern Die Bauern-Lobby gehört zu den einflussreichsten Interessenvertretern im Bundeshaus. Landwirte sind hoch subventioniert. Trotzdem protestieren sie auf der Strasse gegen die Agrarpolitik. Warum? Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 Schwerpunkt

5 JÜRG STEINER Das Dorf Lohnstorf liegt nicht einmal eine halbe Autostunde vom Bundeshaus in Bern entfernt. Aber die Szenerie könnte ländlicher nicht sein. Bei schönem Wetter thronen die vereisten Hochalpengipfel Eiger, Mönch und Jungfrau wie ein Bühnenbild über den sauber ausgerichteten Gemüseäckern im topfebenen Tal. Schweizweit bekannt ist das fruchtbare Gürbetal, in dem Lohnstorf liegt, für den Intensivanbau von Weisskohl, deshalb heisst es «Chabisland». Urs Haslebacher steht auf dem Balkon seines Bauernhauses an der Talflanke hoch über Lohnstorf. Die Zufahrt zu seinem Hof ist steil und kurvig. Haslebacher betreibt mit seiner Familie einen grossen Schweinemastbetrieb mit rund 3000 Tieren, er beschäftigt 15 Angestellte. Einen zweiten Hof in der Talebene hat er dazugekauft, zudem vermietet er Wohnungen in diversen Häusern, die ihm gehören. Nebenbei wirkt Haslebacher auch als Politiker für die SVP. Seit 2023 ist er Präsident der Gemeinde Thurnen, zu der Lohnstorf gehört. Landwirt Haslebacher versprüht die Energie des zupackenden Unternehmers, der Chancen sieht, wohin er blickt. Und Hindernisse als Herausforderung anschaut. Trotzdem kam zu seinem ohnehin schon vielfältigen Berufsportfeuille dieses Jahr noch eine weitere Beschäftigung hinzu: Er ist jetzt auch Organisator von bäuerlichen Protestkundgebungen. Bäuerliche Existenzängste Im Februar und März stiegen Schweizer Bauern am Feierabend oder an Wochenenden zu Hunderten auf Traktoren, tuckerten zu regionalen Treffpunkten auf irgendeiner Wiese und versammelten sich neben den in Formation parkierten Fahrzeugen, um ihrer tiefsitzenden Frustration Ausseine Kolleginnen und Kollegen stets, darauf zu achten, mit ihren Traktorkolonnen ja nicht den Verkehr zu blockieren. Jetzt, im Sommer, der intensiven Zeit auf den Feldern, bricht kein Bauer zu einer Protestfahrt auf. Aufwühlende Zielkonflikte Urs Haslebacher ist keiner, der jammert. Und auch keiner, der um seine berufliche Existenz fürchtet. Und doch kann er an seinem eigenen Beispiel zeigen, was es ist, das auch einen wie ihn auf die Barrikaden treibt: der grosse Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Anspruchshaltung und wirtschaftlicher Realität. Im Fall von Haslebacher zeigt sich das Spannungsfeld so: Vor mehr als 20 Jahren motivierte der Bund mit Beiträgen Schweinehalter zum Bau von Ställen mit Auslauf zu Gunsten des Tierwohls, die Grossverteiler wollten Fleisch aus dieser Produktion mit einem zusätzlichen Franken pro Kilogramm vergüten, erzählt Haslebacher. Er investierte. Weil aber der Auslauf der Schweine unter freiem Himmel dazu führt, dass der Ammoniakausstoss zunimmt, stand er mit seiner Massnahme zugunsten des Tierwohls schnell in der Kritik von Klimaschützern. Und der Zusatzfranken pro Kilo tierfreundlich produziertes Fleisch schmolz auch auf wenige Rappen zusammen, noch ehe die erneuerten Ställe amortisiert waren. Solche Zusammenhänge seien den Konsumenten oft nicht bekannt: «Ich mache niemandem Vorwürfe. Aber wenn die Leute am Wochenende für ökologische Auflagen stimmen, jedoch unter der Woche billiges Importfleisch kaufen, fehlt die Planungssicherheit, und das bringt uns Bauern in Bedrängnis», sagt Haslebacher. Es könne nicht sein, dass es die einzelnen Bauernbetriebe seien, die diese ungelösten Zielkonflikte ausbaden müs­ «Wenn die Leute am Wochenende für ökologische Auflagen stimmen, jedoch unter der Woche billiges Importfleisch kaufen, bringt das uns Bauern in Bedrängnis.» Urs Haslebacher organisierte Bauernproteste. Foto Keystone druck zu geben: über zu tiefe Einkommen, überbordende Bürokratie, widersprüchliches Konsumverhalten – und fehlende Wertschätzung. Der schweizerische Bauernverband untermauerte den Unmut schriftlich mit einer Petition, für die er innert Kürze 65 000 Unterschriften sammelte und sie dem Bundesrat sowie den Detailhändlern Coop, Migros, Aldi und Lidl übergab. Dass die Landwirte von schweren Sorgen geplagt werden, ist real. 250 000 Landwirtschaftsbetriebe gab es einst in der Schweiz. Heute sind es 48000 Höfe. Jede Woche geben im Schnitt weitere zehn davon auf. Die Existenzangst ist ständige Begleiterin im Leben der rund 150 000 Bäuerinnen und Bauern, die es in der Schweiz noch gibt. Urs Haslebacher koordinierte die Protestfahrten in seinem Einzugsgebiet in Bern, er verbrachte viel Zeit mit Nachrichten-Apps an seinem Smartphone. Im Unterschied zu den Bauernprotesten in Frankreich oder Deutschland eskalierten die Versammlungen in der Schweiz nie. Haslebacher mahnte Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 Frustrierte Schwerarbeiter: Protestierende Bauern im Frühling 2024 auf einem Feld bei Uster (ZH). Foto Keystone

Landwirte machen gut zwei Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung aus. Der Anteil der Bauernvertreter im Parlament – aktive Landwirte und Funktionäre – beläuft sich hingegen auf rund ein Sechstel. sen, findet er. Das sei letztlich der Grund, warum die Landwirte so aufgewühlt seien – und zwar alle zusammen, auch wenn sie sich in anderen Themen uneins sind: industriell produzierende Grossbauern, Bio-Bauern, Bergbauern. Allerdings erstaunt zumindest auf den ersten Blick, warum die Schweizer Bauern ihre Anliegen in Form von fotogenen Protesten auf die Strasse bringen. Denn im Unterschied zu anderen Ländern ist ihr Einfluss im politischen Machtzentrum, dem Bundeshaus, gross. Sehr gross. Die Bauernlobby Obschon die Landwirte eine wirtschaftliche Randgruppe sind und bloss 0,6 Prozent des Bruttosozialprodukts der Schweiz erwirtschaften, wird ihre Branche gestützt, geschützt und umsorgt wie keine zweite. Mit tätsinitiative zur Abstimmung kommt. Aus Sicht des Bauernverbands ein «extremer Vorstoss». Den Gegenvorschlag des Bundesrats hat die von Ritter orchestrierte Bauernlobby bereits im Parlament abgeblockt. Das Bürokratiemonster Allerdings verhindert dieses strategische Geschick im Bundeshaus nicht, dass die Bauern mehr und mehr in Bedrängnis geraten. Sich ein Gesamtbild zu verschaffen, ist schwierig. Die Probleme eines durchmechanisierten Hochleistungsbetriebs im Mittelland sind nicht die gleichen wie diejenigen eines kleinen Bergbauernhofs in exponierter Hanglage. Was man aber in der Summe sagen kann: Bauern arbeiten viel und verdienen wenig. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit liegt gemäss Erhebungen deutlich über 50 Stunden, der berechnete Stundenlohn liegt unter 20 Franken. Viele Bauernfamilien gehen deshalb auf dünnem Eis. Sie schlagen sich durch, weil sie auf dem Hof, den sie vielleicht von ihren Eltern günstig übernommen haben, wohnen und keine Miete zahlen. Sie erwirtschaften aber zu wenig, um investieren zu können. Muss das Haus saniert werden, kann das gleichbedeutend sein mit dem Ende des Betriebs. Zumal die Landwirte immer mehr Zeit im Büro beim Ausfüllen von Forimportierter Landwirtschaftsprodukte geschlagen werden, den Schweizer Agrarsektor. Dieser Schutz vor dem Wettbewerb ist auch darum möglich, weil die Bauernlobby in der nationalen Politik nach den letzten Wahlen im Herbst 2023 noch einmal stärker geworden ist. Paradoxerweise trotz anhaltendem Rückgang der Zahl der Bauernbetriebe. Landwirte machen gut zwei Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung aus, der Anteil der Bauernvertreter im Parlament – gemeint sind damit aktive Landwirte und Funktionäre – beläuft sich hingegen auf rund ein Sechstel. Nationalrat Markus Ritter (die Mitte), Präsident des Bauernverbandes, gehört zu den einflussreichsten Parlamentariern. 2022 gelang ihm ein Coup: Er schloss eine Allianz mit den grossen Wirtschaftsverbänden und sicherte sich damit Unterstützung für den Kampf gegen populäre linke Volksinitiativen, die den Bauern mehr Ökologie verordnen wollen. Der nächste Showdown steht am Abstimmungswochenende vom 22. September 2024 bevor, wenn die von Grünen und Landschaftsschützern lancierte BiodiversiMilliarden von Franken. Die wichtigsten zwei Zahlen: 2,8 Milliarden Franken pro Jahr fliessen aus den Steuereinnahmen des Staates als Direktzahlungen für ökologische Leistungen an die Bauern. Zusätzlich schützen Zölle in der Höhe von jährlich gut drei Milliarden Franken, die auf die Preise Ob abgelegene Einzelhöfe oder industrielle Mastbetriebe: Im Schnitt arbeiten Bauern viel und verdienen wenig. Fotos Keystone Anspruchsvolle Konsumentinnen und Konsumenten: Sind sie auch bereit, faire Preise zu zahlen? Foto Keystone Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 6 Schwerpunkt

Anbietern und Abnehmern befinden». Zwar fliesse das Subventionsgeld an die Bauern. Doch sie kaufen damit etwa Saatgut, Dünger, Futtermittel und Maschinen – unter anderem beim grossen Agrarkonzern Fenaco. So gesehen profitiert auch dieser als Anbieter vom landwirtschaftlichen Subventionssystem. Auf der anderen Seite erzielen die Bauern mit ihren Produkten bei Zwischenhändlern oder den Grossverteilern wie Migros und Coop zu tiefe Preise – und sehen sich gezwungen, dies mit der staatlichen Unterstützung, die sie eigentlich für die Abgeltung ökologischer Auflagen erhalten, zu kompensieren. Die problematische Rolle von Agrokonzernen und Detailhändlern nehmen auch kritische Bauernpolitiker auf. Einer von ihnen ist Kilian Baumann, Nationalrat der Grünen Partei und Präsident der Kleinbauernvereinigung, die oft andere Positionen vertritt als der Bauernverband. Auch Baumann kritisiert den wachsenden administrativen Aufwand und die tiefen Produzentenpreise – allerdings auch die «seit Jahrzehnten verfehlte Agrarpolitik», die der Bauernverband mitverantwortet. mularen verbringen anstatt im Stall oder auf dem Feld. Selbst der Bauernverband, der politisch die milliardenschwere Unterstützung für den Agrarsektor mitkonstruiert, gibt zu, dass daraus ein kaum mehr durchschaubares Bürokratiemonster entstanden ist, das dringend einer «Entschlackung und Vereinfachung» bedarf. Die Gesetze und Verordnungen, in denen die Finanzflüsse geregelt sind, umfassen mehrere Tausend Seiten, der Bewilligungs- und Kontrollaufwand ist gigantisch. Bauern in der Zange Trotz diesem offensichtlichen Effizienzverlust bleibt es eine Tatsache: Der Bund lenkt immer mehr Geld an immer weniger Landwirte. Warum geht deren Rechnung immer schlechter auf – und das grosse Ziel, den Nettoselbstversorgungsgrad der Schweiz mit Landwirtschaftsprodukten auf über 50 Prozent zu heben, wird ebenfalls verfehlt? Auf einen wichtigen Aspekt macht Patrick Dümmler aufmerksam. Er ist Ökonom beim liberalen Thinktank Avenir Suisse und kritisiert die hohe Subventionsabhängigkeit der Landwirtschaft. Im Grunde genommen stecke eher zu viel als zu wenig Geld im System, findet Dümmler. Das Problem der Bauern bestehe darin, so Dümmler, dass «sie sich in der Zange zwischen Der Bund lenkt immer mehr Geld an immer weniger Landwirte. Trotzdem geht deren Rechnung immer schlechter auf – und die Ziele zum Selbstversorgungsgrad der Schweiz werden nicht erreicht. Es zeige sich, schreibt Baumann, dass die vom Staat geförderte Devise «immer grösser, immer intensiver, immer mehr produzieren» direkt in die Sackgasse führe. Die Intensivlandwirtschaft führe zu Stickstoffeinträgen im Grund- und Trinkwasser, der Pestizideinsatz fördere den Verlust der Biodiversität. Keinesfalls, so Baumann, liege die Ursache für die Misere der Bauern in neuen Umweltschutzauflagen. Im Gegenteil, sie seien dringend nötig. Die Nahrungsmittelproduktion ist dem Markt ausgesetzt. Die Ökologie regelt der Staat. Die Subventionen sind für Massnahmen, die korrigieren sollen, was die Marktkräfte angerichtet haben. Das ist der kaum vernünftig zu bestellende Acker, den die schweizerische Agrarpolitik den Landwirten zur Bearbeitung überlässt. Auf ihm fühlen sich die Bauern trotz mächtiger Bauernpolitiker machtlos. «Im Herbst», hat Urs Haslebacher angekündigt, «ziehen wir Bilanz.» Wenn sich nichts zum Besseren wendet, werden die Traktoren wieder gestartet. Und vielleicht bis nach Bern vors Bundeshaus gesteuert. Profiteure der Subventionen an die Bauern sind auch Dünger- und Futtermittelhersteller sowie Detailhändler. Fotos Keystone Die hoch mechanisierte Intensivlandwirtschaft führe in eine Sackgasse, kritisieren grüne Bauernpolitiker. Foto Keystone Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 7

Ukraine-Konferenz in der Schweiz endet mit sehr überblickbarem Ergebnis Sie gilt als das grösste diplomatische Treffen, zu dem die Schweiz je eingeladen hat: die Ukraine-Konferenz vom 15. und 16. Juni 2024 im Luxusresort Bürgenstock hoch über dem Vierwaldstättersee. Auf Initiative der Schweiz versammelten sich hier Delegationen aus über 90 Ländern, mit dabei unter anderen die Staatschefs aus Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Kanada, Spanien sowie US-Vizepräsidentin Kamala Harris. Bereits im Vorfeld der Konferenz dämpften Bundespräsidentin Viola Amherd und Aussenminister Ignazio Cassis in der Gastgeberrolle die Erwartungen (und änderten den Namen des Gipfels von «Friedenskonferenz» auf «Konferenz zum Frieden in der Ukraine»). Die Schlusserklärung der Konferenz war zumindest ein klarer Positionsbezug, spricht sie doch von «Russlands Krieg gegen die Ukraine», nennt also Russland ausdrücklich den Aggressor. Das Schlussdokument fordert weiter die Beachtung der Souveränität der Ukraine und die Sicherung des durchs Kriegsgeschehen gefährdeten Atomkraftwerks Saporischja. Es hält zudem fest, Angriffe auf die ukrainischen Getreideexporte seien nicht hinnehmbar, denn die Ernährungssicherheit dürfe «in keiner Weise zur Waffe werden». Die Bilanz von Bundespräsidentin Viola Amherd: «Wir haben erreicht, was zu erreichen war.» Eher als Rückschlag für die Schweiz als Gastgeberin und diplomatische Akteurin werteten politische Beobachter unmittelbar nach der Konferenz, dass nicht alle Delegationen das Schlussdokument mittragen wollten. Zwölf der teilnehmenden Länder unterzeichneten die Charta nicht. Es fehlen insbesondere die Unterschriften von Indien, Indonesien, Mexiko, Saudi-Arabien und Südafrika. Einige dieser Länder könnten angesichts ihrer intakten Beziehungen zu Russland eine Vermittlerrolle einnehmen. So war unmittelbar vor dem Treffen in der Schweiz spekuliert worden, Saudi-Arabien werde womöglich eine Folgekonferenz ausrichten – unter Einbezug Russland. Die Schlusserklärungen und das offizielle Bürgenstock-Schlussdokument liessen dies aber gänzlich offen. (MUL) Das Schlussdokument der Bürgenstock-Konferenz (ausschliesslich in englischer Sprache vorliegend): www.revue.link/summit Die Schweiz erhöht ihre Armeeausgaben Durchaus in Zusammenhang mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht der Entscheid des Bundesrats, die Ausgaben für die Schweizer Armee zu erhöhen. Er präsentierte im Februar ein Paket von insgesamt über 30 Milliarden Franken für die nächsten vier Jahre. Im Juni hat nun der Ständerat klargemacht, dass er die Armeeausgaben schneller und stärker erhöhen will, und zwar um rund vier Milliarden. Zusätzlich will er mehr Geld für den rascheren Kauf von Luftabwehrsystemen einsetzen. Geht es nach der Mehrheit im Ständerat, soll ein wesentlicher Teil dieser zusätzlichen Ausgaben bei der Entwicklungshilfe eingespart werden. Gefallen sind die Würfel noch nicht: Erst kommt das Geschäft noch in den Nationalrat. (MUL) Mustafa Atici Er ist der erste Regierungsrat mit Migrationshintergrund im Kanton Basel-Stadt. Geboren 1969 in der Türkei, kam Mustafa Atici als 23-jähriger Student in die Schweiz. In Basel fand der türkische Kurde eine neue Heimat, gründete eine Familie und etablierte sich nach einem Wirtschaftsstudium als Gastro-Unternehmer. Seine Kebab-Filialen sind stadtbekannt und auch im Fussballstadion St. Jakob zu finden. Dort ist der bekennende FC-Basel-Fan an Match-Tagen anzutreffen. 2001 trat Atici der Sozialdemokratischen Partei (SP) bei und zog drei Jahre später ins Kantonsparlament ein, wo er fast 14 Jahre politisierte. 2019 schaffte er den Sprung in den Nationalrat, verpasste aber 2023 die Wiederwahl. Diesen Frühling eroberte Atici nun erstmals ein Regierungsmandat in seinem Heimatkanton. Als «Erfolg für die Vielfalt» bezeichnete Atici die Wahl. «In Basel sollte ein Mustafa nicht mehr auffallen.» Tatsächlich wohnen im Stadtkanton besonders viele Menschen ausländischer Herkunft. Für Atici war es keine Frage, sich einbürgern zu lassen. Er ermutigt andere, es ihm gleichzutun: «Wir leben hier, wir arbeiten hier, wir können mitgestalten.» Als Bildungsdirektor will er künftig noch mehr für die Integration tun. Bereits als Parlamentarier setzte er sich dafür ein, dass Kinder von Migrantinnen und Migranten noch vor der Einschulung die Landessprache lernen. Atici selber spricht Hochdeutsch mit hörbarem Akzent. Kritik, wonach sein Deutsch nicht fehlerfrei sei, nimmt er gelassen. Zu denken geben ihm vielmehr die Anfeindungen, die er im Wahlkampf wegen seiner Herkunft erlebte. So viel Hass sei ihm in 20 Jahren Politik noch nie begegnet, sagte er in Interviews. Das hat ihn getroffen, denn selbst fühlt er sich als Patriot: «Ich liebe Basel und die Schweiz.» THEODORA PETER Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 8 Herausgepickt Nachrichten

CHRISTOF FORSTER Es war ein grosser Erfolg für die Klimaseniorinnen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erklärte Anfang April 2024 ihre Beschwerde über weite Strecken für zulässig. «Das ist das Höchste, was wir eigentlich erwartet hätten, aber uns nicht trauten zu glauben», sagte Rosmarie Wydler-Wälti unmittelbar nach der Urteilsverkündung gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF. Das Projekt der Klimaseniorinnen wurde initiiert und finanziell unterstützt von Greenpeace. Die Strassburger Richter kamen zum Schluss, dass die Schweiz die Menschenrechte der Seniorinnen verletze, weil sie nicht genug gegen die Klimaerwärmung unternommen habe. Konkret geht es um Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert. Das Gericht hat diesen Artikel um den Klimaschutz erweitert. Staaten müssten mit geeigneten Massnahmen verhindern, dass die globalen Temperaturen ein solches Niveau erJubelnde Klimaseniorinnen und aufgebrachte Politiker Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugunsten der Klimaseniorinnen löste eine kontroverse Debatte in der Schweiz aus. In Europa wird es Umweltverbände zu ähnlichen Klagen gegen ihre jeweiligen Regierungen animieren. reichten, welches zu ernsthaften und irreparablen Auswirkungen auf die Menschenrechte führe. Die Strassburger Richter orteten kritische Lücken im nationalen Rechtsrahmen. So hätten es die Schweizer Behörden verpasst, die nationalen Ziele zur Reduktion der Treibhausgasemissionen anhand eines Kohlestoffbudgets zu quantifizieren. Zudem habe es die Schweiz in der Vergangenheit nicht geschafft, ihre CO₂-Ziele zu erreichen. Europäischer Präzedenzfall Beim Urteil handelt es sich um einen Präzedenzfall in Europa. Es ist das erste Mal, dass ein länderübergreifendes Gericht direkt einen Anspruch auf Klimaschutz gutheisst, der sich auf Menschenrechte beruft. Die 46 Staaten des Europarates könnten nun von ihren Bürgerinnen und Bürgern aufgefordert werden, ihre Klimapolitik zur Wahrung der Menschenrechte zu überprüfen und nötigenfalls auszubauen. Was das Urteil nun konkret für die Schweiz bedeuFür die Klimaseniorinnen – hier Rosmarie Wydler-Wälti mit Greta Thunberg – ist der EMRK-Entscheid «das Höchste». Für die Schweizer Politik ist das Urteil aber ein heisser Streitgegenstand. Foto Keystone Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 9 Nachrichten

«Das Gericht überschreitet seine Kompetenzen, wenn es Gesetzgebung und gar Volksabstimmung eines Landes übersteuert.» Alt-Bundesrichterin Brigitte Pfiffner sionen auf null reduziert hätte, würde dies den globalen Anstieg der Temperaturen nicht bremsen. Zu klein ist der Anteil der Schweiz am weltweiten CO₂-Ausstoss. Kritiker befürchten, dass das Urteil zu einer Banalisierung und Politisierung der Menschenrechte führe. Wenn rechtlich verbindliche und gerichtlich abgesicherte Menschenrechtsgarantien zur Lösung von gesellschaftlich kontroversen Fragen wie dem Klimaschutz hinzugezogen werden, würden diese politisiert. Auch dazu gibt es andere Meinungen. Für den Basler Staatsrechtler Markus Schefer ist das Klimaurteil eine «logische Fortentwicklung» der bisherigen Rechtsprechung. Die Grundrechte in der EMRK seien bewusst offen formuliert, damit der Schutz über die Zeit bestehen bleibe, sagte Schefer der «NZZ am Sonntag». Es sei eine wichtige Aufgabe von Gerichten, das Recht auf neue Bedrohungslagen anzuwenden. Umgekehrt könnte das Urteil auch dazu führen, dass der Klimaschutz durch seine «Vergerichtlichung» geschwächt wird. Ein Teil der Schweizer Stimmbevölkerung könnte bei kommenden Abstimmungen über Klimathemen mit einem Nein nicht den eigentlichen Klimaschutz meinen, sondern ein Zeichen setzen gegen den Einfluss «fremder Richter». Als Nebenwirkung auf einem anderen Gebiet dürfte das Urteil aus Strassburg die innenpolitisch ohnehin schwierigen Aussichten eines institutionellen Abkommens mit der EU weiter getrübt haben. Zu Verwerfungen hat das Urteil in der Schweizer Politik geführt. So fordern – ausgerechnet – die Rechtskommissionen beider Kammern den Bundesrat dazu auf, das Urteil nicht umzusetzen. Das ist eine bemerkenswerte Botschaft von gewählten Politikern eines demokratischen Rechtsstaates. Es ist davon auszugehen, dass weitere Umweltschutzorganisationen in Europa ihre jeweiligen Regierungen wegen unzureichendem Klimaschutz vor dem EGMR einklagen werden. Denn das Urteil sichert den Vereinen und Verbänden in Klimafällen einen Zugang zum Gericht. So geht beispielsweis die Deutsche Umwelthilfe inzwischen davon aus, dass ihre 2022 beim EGMR eingereichte Klage gegen die deutsche Bundesregierung eine reelle Aussicht auf Erfolg hat. tet, sagen die Strassburger Richter nicht. Es sei nicht die Aufgabe des Gerichtshofes, der Schweiz vorzuschreiben, wie sie die Klimaziele erreichen solle. Es liege nun an der Eidgenossenschaft, Massnahmen für mehr Klimaschutz zu ergreifen und diese dem Ministerkomitee des Europarats darzulegen. Das Ministerkomitee prüft jeweils die Umsetzung der Urteile in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Die Klimaseniorinnen fordern nun vom Bundesrat, dass er in einem ersten Schritt die Klimaziele der Schweiz wissenschaftlich untersuchen lässt und dabei das nationale CO₂-Budget und das verbleibende globale CO₂-Budget berücksichtigt. Harsche Kritik am EGMR Das Urteil des Gerichtshofes hat indessen nicht nur Jubel und Genugtuung ausgelöst, es stösst auch auf harsche Kritik. Auch bei Leuten, die dem Ziel eines besseren Klimaschutzes durchaus gewogen sind. Dazu gehört die Alt-Bundesrichterin Brigitte Pfiffner, die Mitglied der Grünen Partei ist. Das Gericht überschreite klar seine Kompetenzen, wenn es Gesetzgebung und gar Volksabstimmung eines Landes übersteuere, sagte Pfiffner in einem Interview mit der «SonntagsZeitung». Gemeint ist damit die von der Stimmbevölkerung abgelehnte Revision des CO₂-Gesetzes 2021, mit der etwa eine Flugticketabgabe hätte eingeführt werden sollen. Damit macht das Gericht laut Pfiffner Politik, statt die Menschenrechtskonvention auszulegen. Die frühere Bundesrichterin kritisierte auch, der Gerichtshof begründe nicht stichhaltig, wieso plötzlich ein Verein (der Verein der Klimaseniorinnen) beschwerdeberechtigt sei. Und in welchem Menschenrecht er verletzt sei. Ebenfalls nicht überzeugend legt das Gericht dar, inwiefern der Verein aufgrund der Schweizer Klimapolitik in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingeschränkt ist, wie Artikel 8 der EMRK stipuliert. Bei der Frage, ob es einen ursächlichen Zusammenhang gibt zwischen der lückenhaften Klimapolitik der Schweiz und den von den Rentnerinnen beklagten höheren Temperaturen und Hitzewellen, macht es sich der Gerichtshof relativ einfach. Es sei ausreichend für die Verantwortlichkeit eines Staates, dass die zumutbaren Massnahmen der Behörden eine reale Chance gehabt hätten, das Ergebnis zu ändern oder den Schaden zu reduzieren. Doch selbst wenn die Schweiz die TreibhausgasemisMehr zum Thema: Klimaseniorin Rosmarie Wydler-Wälti im Porträt, www.revue.link/klima Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 10 Nachrichten

Von Goldjunge bis Staubwolke 12:50,9 Der heute 69-jährige Mittelstreckenläufer und Olympionike Markus Ryffel ist in der Schweiz eine Legende. Sein Landesrekord über 5000 Meter schien für die Ewigkeit gemacht. Doch nun hat – nach 40 Jahren – Dominic Lobalu Ryffels Rekord um 16 Sekunden auf 12:50,9 Minuten gesenkt. Im Sportjargon: Er hat Ryffels Rekord pulverisiert. 65 274 Während Lobalu trainiert, rennt und Rekorde bricht, steuern in der Schweiz die allermeisten an ihrem Arbeitsplatz ziemlich bewegungsarm einen ganz anderen Rekord an. In der Schweiz werden in einem Arbeitsleben durchschnittlich 65 274 Arbeitsstunden geleistet. Weit mehr als etwa in Frankreich (55 620), Deutschland (53 098) oder Luxemburg (51 859). Quelle: Eurostat, OECD 1,39 Bleibt neben 65 274 Stunden Arbeit noch Raum für Familie und Kids? Auf jeden Fall ist die Geburtenrate weiter auf 1,39 Kinder pro Frau gesunken – der tiefste Wert seit über 20 Jahren. Unter einer Rate von 2,1 altert und schrumpft eine Gemeinschaft. Es sei denn, es gebe Zuwanderung. Einen Zuwanderer haben wir mit Dominic Lobalu gerade kennengelernt. Quelle: Bundesamt für Statistik 180 000 Nach der Arbeit kommt – mit oder ohne Kids – der Haushalt samt dem Reinemachen. Abzustauben gibt es immer etwas. Apropos Staub: Am 30. März 2024 schwebte eine Wolke aus 180000 Tonnen Saharastaub über der Schweiz. Alles war in amberfarbenes Licht getaucht. Wer ist bei so viel Staub fürs Abstauben verantwortlich? Eine Frage, die auch die Kolumnisten und Kolumnistinnen plagte… www.revue.link/sahara Quelle: SRF Meteo 3000 Nur Tage nach dem neuen Rekord über 5000 Meter knackte der 25-jährige Dominic Lobalu gleich noch die Schweizer Bestmarke über 3000 Meter. Die Geschichte hinter der Geschichte: Lobalu ist aus dem Südsudan in die Schweiz geflüchtet. Er sagt: «Ich bin als Flüchtling aufgewachsen. Flüchtling zu sein, ist meine Identität. Und mein Ziel ist, eine Medaille zu gewinnen. Für alle Geflüchteten.» www.dominiclobalu.ch 3,7 Was punkto Arbeit mitentscheidend ist: Mit 3,7 Prozent ist die Arbeitslosenquote in der Schweiz recht tief. Wer Arbeit sucht, findet in der Regel welche: Der Begriff «Fachkräftemangel» dominiert die Diskussion. Quelle: Bundesamt für Statistik ZAHLENRECHERCHE: MARC LETTAU Die «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizer:innen, erscheint im 49. Jahrgang sechsmal jährlich in deutscher, französischer, englischer und spanischer Sprache. Sie erscheint in 13 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 431 000 Exemplaren (davon 253 000 elektronische Exemplare). Regionalnachrichten erscheinen in der «Schweizer Revue» viermal im Jahr. Die Auftraggeber:innen von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Herausgeberin. Alle bei einer Schweizer Vertretung angemeldeten Auslandschweizer:innen erhalten die Zeitschrift gratis. Nichtauslandschweizer:innen können sie für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). ONLINE-AUSGABE www.revue.ch REDAKTION Marc Lettau, Chefredaktor (MUL) Stéphane Herzog (SH) Theodora Peter (TP) Susanne Wenger (SWE) Paolo Bezzola (PB; Vertretung EDA) AMTLICHE MITTEILUNGEN DES EDA Die redaktionelle Verantwortung für die Rubrik «Aus dem Bundeshaus» trägt die Konsularische Direktion, Abteilung Innovation und Partnerschaften, Effingerstrasse 27, 3003 Bern, Schweiz. kdip@eda.admin.ch | www.eda.admin.eda REDAKTIONSASSISTENZ Nema Bliggenstorfer (NB) ÜBERSETZUNG SwissGlobal Language Services AG, Baden GESTALTUNG Joseph Haas, Zürich DRUCK & PRODUKTION Vogt-Schild Druck AG, Derendingen HERAUSGEBERIN Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO). Sitz der Herausgeberin, der Redaktion und der Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. revue@swisscommunity.org Telefon +41 31 356 61 10 Bankverbindung: CH97 0079 0016 1294 4609 8 / KBBECH22 REDAKTIONSSCHLUSS DIESER AUSGABE 10. Juni 2024 ADRESSÄNDERUNGEN Änderungen in der Zustellung teilen Sie bitte direkt Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit. Die Redaktion hat keinen Zugriff auf Ihre Adressdaten. Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 11 Schweizer Zahlen Impressum

MARKO LEHTINEN Alle sprechen über Nemo. Doch Nemo selbst hat sich zurückgezogen. Nur zu gerne würde man ein paar Worte mit Nemo wechseln – mit Nemo, nicht mit ihr oder ihm. Nemo ist nichtbinär, versteht sich also weder als Mann noch als Frau, und benutzt im Deutschen keine Pronomen, sondern eben einfach Nemo. Wie gerne würde man mit Nemo also über den Sieg in Malmö sprechen, über die Konsequenzen für Nemos Karriere und Leben, vor allem aber darüber, was dieser Sieg für die nichtbinären Menschen in Europa bedeutet. Löst der Sieg etwas Substanzielles aus? Wird Nemo gar zu einer Art Greta Thunberg der queeren Bewegung? Nemo ist derzeit nicht für Interviews zu haben. Das Musiktalent konzentriere sich ganz auf den «weiteren kreativen Prozess und die kommenden Liveshows», verlautet die Plattenfirma Universal Music – und bittet um Verständnis. Man hat vollstes Verständnis. Nach einem solchen Erfolg muss sich ein Shootingstar zuerst einmal sammeln und den Rummel um sich herum verklingen lassen. Nemo tut dies in der vermeintlichen Anonymität der Wahlheimat Berlin. Dorthin hat es das Talent verschlagen, das vor 25 Jahren in Biel als Nemo Mettler zur Welt kam. Nemo lernte früh Geige, Klavier und Schlagzeug spielen und erhielt schon als Kind eine fundierte GeWohin des Weges, Nemo? Mit Nemo hat erstmals überhaupt eine nichtbinäre Person den Eurovision Song Contest gewonnen – und zwar für die Schweiz. Wird Nemo damit nun zur Gallionsfigur der queeren Community in ganz Europa? Und steht Nemo tatsächlich vor einer Weltkarriere, wie es nicht wenige voraussagen? sangsausbildung. Mit zehn Jahren hatte Nemo in der Kinderoper in Biel den ersten grossen Auftritt – als Papageno in der «Zauberflöte». Nach dem Einstand in der Klassik verschlug es Nemo weiter in die Welt der Musicals. Mit 13 Jahren stand Nemo im Stück «Ich war noch niemals in New York» auf der Bühne und widmete sich der Musik von Udo Jürgens. Das Musiktalent fand seine wahre Identität jedoch im Hip-Hop. Nemo rappte sich – damals vom Publikum noch als Mann gelesen – in die Herzen der Szene, landete unter anderem mit der Single «Du» im Jahr 2017 einen veritablen Hit und wurde mit vier Swiss Music Awards ausgezeichnet. Später beschloss Nemo, der Schweiz den RüNemo sang und tanzte beim Auftritt am diesjährigen Eurovision Song Contest auf einer sich drehenden Scheibe. Aber auch sonst lief für Nemo in Malmö so ziemlich alles rund. Fotos Keystone Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 12 Kultur

Einfall Russlands 2022 gewannen nicht, weil sie den jeweils besten Song am Start hatten. Auch Conchita Wursts Sieg für Österreich setzte 2014 vor allem ein Zeichen: Zehn Jahre vor Nemo gewann die Dragqueen, welche die Diskriminierung wegen ihrer sexuellen Orientierung thematisierte. Die Frage ist legitim, ob Nemo den Wettbewerb gewonnen hätte, wenn Nemo ein Mann oder eine Frau gewesen wäre und der Song nicht vom Befreiungsschlag einer nichtbinären Person gehandelt hätte. Mit der Weltkarriere wird es wohl nichts. Bleibt die Frage, ob Nemo eine tragende Rolle in der queeren Community haben wird. Nemos Sieg in Malmö hat in der Schweiz eine intensive Diskussion über nonbinäre Menschen in der Gesellschaft ausgelöst. Der Shootingstar hat sich seit dem Sieg immer wieder für einen offiziellen dritten Geschlechtseintrag stark gemacht und eine politische Debatte darüber entfacht. Nun ist sogar ein Treffen mit Bundesrat Beat Jans geplant. Und in der «Arena» stritten sich jüngst Politikerinnen und Politiker von links bis rechts über das Thema. Nur zu gerne wüsste man, ob sich Nemo selbst als neue Identifikationsfigur der queeren Community sieht. Und ob Nemo das überhaupt will – oder sich in Zukunft doch vor allem auf die Musik konzentrieren wird. Die Zeit wird es weisen. Und vielleicht auch mal ein Interview mit Nemo. cken zu kehren und in eine Grossstadt zu ziehen. Der Befreiungsschlag gelang Nemo in Berlin mit dem Outing als nonbinäre Person ein halbes Jahr vor dem Eurovision Song Contest. Und nun, wie weiter? Die Medien prophezeiten Nemo nach dem Sieg in Malmö reflexartig eine «Weltkarriere», doch dazu wird es vermutlich nicht kommen. «The Code» war zweifellos ein guter Song. Doch so originell der stilistische Mix aus Drum'n'Bass, Hip-Hop, Pop und Klassik auch war, so eindrücklich Nemos Gesang im Refrain zum Tragen kam und so sehr der autobiographische Text über das Queersein das Publikum berührte – «I went to hell and back, to find myself on track» –, so formelhaft war der Song am Ende auch. Unüberhörbar, dass das Lied in einem sogenannten Songwriting Camp in Zusammenarbeit mit den erfahrenen Hitlieferant:innen Benjamin Alasu, Lasse Nymann und Linda Dale geschrieben und von Beginn weg auf ein passendes Format getrimmt wurde. Ein Lied aus der Feder von Nemo zwar, ein wenig aber auch aus der Retorte. Nichts für die Ewigkeit. Gegen eine Weltkarriere spricht auch, dass schon vor Nemo so gut wie keine Song-Contest-Sieger:innen eine weltweite Laufbahn starten konnten. Die wenigen Ausnahmen sind bekannt: Vor 50 Jahren gewannen Abba am damaligen Grand Prix Eurovision de la Chanson für Schweden. 1988 siegte mit Céline Dion ein aufstrebender Weltstar für die Schweiz. Ansonsten landeten die Acts so schnell wieder in der Versenkung wie sie aufgetaucht waren. Karrieren waren höchstens auf nationaler Ebene möglich. Ausserdem war die Wahl der Sieger:innen am Eurovision Song Contest nicht selten vor allem ein politisches oder ein gesellschaftliches Statement – kein musikalisches Urteil, was für eine weitere Karriere essenziell wäre. Israel in den Jahren 1978 und 1979 oder die Ukraine nach dem Der siegreiche Song ist politisch aufgeladen: Nemo versteht sich als nonbinär. Video: www.revue.link/nemo Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 13

1924 finden die ersten Freilichtaufführungen des «Welttheaters» in Einsiedeln statt − im Bild die Figur der «Welt», umringt von Erdgeistern. Foto Welttheater Einsiedeln Die Rollen verkörpern bis heute Laienschauspieler und -schauspielerinnen – als Teil des «Spielvolks». Oben: Szenenbild aus dem Jahre 1960. Unten: Bei den Proben für die Aufführungen 1981. Fotos Welttheater Einsiedeln, Keystone Ab der Jahrtausendwende werden zeitgenössische Schweizer Autoren mit einer Neuinterpretation beauftragt: 2007 kommt nach 2000 zum zweiten Mal die Version von Thomas Hürlimann auf die Klosterbühne. Oben: Die «Welt» im roten Kleid. Links: Das Figurenkabinett mit den zentralen Rollen. Fotos Welttheater Einsiedeln, Keystone 1981 prägt ein grosses P für «Pax» die Bühne. Foto Welttheater Einsiedeln Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 14 Gesehen

100 Jahre Welttheater Einsiedeln: Ein Klosterdorf im Bühnenfieber Seit 1924 wird vor dem Kloster Einsiedeln alle paar Jahre das «Welttheater» des spanischen Barockdichters Pedro Calderón de la Barca aufgeführt. Im Laufe der letzten Jahrzehnte interpretierten zeitgenössische Autoren das vierhundert Jahre alte Mysterienspiel neu. 2024 kommt eine Fassung des Schweizer Schriftstellers Lukas Bärfuss auf die Bühne. Am Freiluftspektakel beteiligen sich 500 Theaterbegeisterte aus dem Klosterdorf. Fortsetzung auf Seite 16 2013 thematisiert Autor Tim Krohn menschliche Gier und Eingriffe in die Schöpfung am Beispiel der Gentechnik. Fotos Welttheater Einsiedeln, Keystone 2024 verkörpern Frauen die zentralen Rollen im Welttheater. Autor Lukas Bärfuss knüpft an die existenziellen Fragen von Calderóns Mysterienspiel an: Welches ist meine Rolle im Leben? Was ist ein gutes Leben? Fotos Welttheater Einsiedeln Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 15

THEODORA PETER Die Kulisse in Einsiedeln ist einzigartig. Als Bühne für das «Welttheater» dient der von Arkaden umsäumte Klosterplatz – nach dem Petersplatz in Rom der zweitgrösste zusammenhängende Kirchenvorplatz Europas. Dahinter prangt die imposante Fassade der barocken Kirche. Das Kloster Einsiedeln ist der wichtigste Wallfahrtsort der Schweiz: Die schwarze Madonna in der Gnadenkapelle zieht jährlich Hunderttausende in ihren Bann. 1917 entdeckte ein heimischer Wissenschaftler, dass der Klosterplatz nach akustischen Gesetzen angelegt wurde und sich deshalb speziell gut für Theateraufführungen eignen würde. Der Abt der Benediktinerabtei gab daraufhin seinen Segen für «geistliche Spiele», und die Wahl fiel auf ein spanisches Mysterienspiel. Der Barockdichter Pedro Calderón de la Barca hatte «El gran teatro del mundo» in den 1630er-Jahren geschrieben. Inhaltlich geht es um das menschliche Dasein, das als ein Theaterstück dargestellt wird. Die Rollen verteilt ein «Schöpfer», der wiederum die «Welt» mit der Inszenierung beauftragt. Zu den sinnbildlichen Figuren gehören der Reiche, der Bettler, der König, der Bauer wie auch Schönheit, die Weisheit und die Gnade. Während 50 Jahren wurde das «Welttheater» in Einsiedeln in der deutschen Übersetzung von Joseph von Eichendorff nahe beim Original gespielt. 1970 kam es erstmals zu Protesten: Kritische Stimmen störten sich am überholten Bild einer gottgewollten Gesellschaftsordnung, die Machtstrukturen zementiert statt hinterfragt. Existenzielle Lebensfragen Es sollten noch weitere 30 Jahre vergehen, bis sich die Organisatoren um eine zeitgenössische Version bemühten. Für die Spielzeiten 2000 und 2007 wurde der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann, der einst in Einsiedeln die Klosterschule besucht hatte, mit einer Neuinterpretation beauftragt. Fortan integrierte das «Einsiedler Welttheater» aktuelle Fragen. So stellte in der Spielzeit 2013 der Autor Tim Krohn am Beispiel der Gentechnik die Eingriffe in die Schöpfung und das menschliche Streben nach Perfektion in den Mittelpunkt. Die jüngste Fassung – wegen der Corona-Pandemie von 2020 auf 2024 verschoben – stammt aus der Feder von Lukas Bärfuss. Der preisgekrönte Schriftsteller gehört zu den prägnantesten Stimmen der aktuellen Schweizer Literatur und ist ein scharfzüngiger Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen. Auch Bärfuss knüpft an die existenziellen Fragen an, die Calderóns Mysterienspiel stellt: «Welches ist meine Rolle im Leben? Wofür bin ich bereit zu sterben? Was ist ein gutes Leben?» Diese Fragen seien ewig gültig, doch die Resonanz dieser Themen in der Gesellschaft habe sich verändert. Vor vierhundert Jahren war das Schicksal eines Menschen bei seiner Geburt mehr oder weniger festgelegt. Wer damals als Bettler zur Welt kam, blieb arm – und hoffte auf Besserung im Himmel. «Heute hat der aufgeklärte Mensch den Anspruch, selbst über sein Leben zu bestimmen.» In Bärfuss’ Version verkörpert eine Frau – Emanuela – Calderóns gesamtes Figurenkabinett. Als Bäuerin schafft sie es, Königin zu werden, verliert die Macht und stürzt ins Elend, bevor sie sich wieder aufrappelt und schliesslich als Greisin von dieser Welt tritt. Ein dörfliches Grossprojekt Das Ensemble in Einsiedeln besteht aus dem sogenannten Spielvolk – den rund 250 Laienschauspielerinnen und -schauspielern, die eine Haupt- oder Statistenrolle übernommen haben. Weitere 250 Personen engagieren sich hinter den Kulissen. «Ganz Einsiedeln ist irgendwie involviert», sagt James Kälin, Präsident der Welttheatergesellschaft. Er selber hat das Theatervirus «sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen», erzählte Kälin in einem Radiointerview. Bereits als Bub stand er als Singengel auf dem Klosterplatz, während sein Vater eine Hauptrolle als Bettler spielte. Die Mutter arbeitete hinter den Kulissen als Garderobière – wie zuvor bereits der Grossvater. Auch andere Familien aus dem Klosterdorf sind dem Freilichtspiel seit Generationen verbunden. Von der «unglaublichen Spielfreude der Mitwirkenden» schwärmt seinerseits Regisseur Livio Andreina, der das «Welttheater» 2024 zusammen mit Lukas Bärfuss in Szene setzte. Was in Einsiedeln entstehe, sei einmalig in der Schweiz, gab Andreina in der Lokalzeitung zu Protokoll. «Es ist ein soziales Projekt, das weit über das Theaterspielen hinausgeht und das ganze Dorf miteinbezieht.» Im Vorstand der Theatergesellschaft ist auch das Benediktiner-Kloster vertreten, auf dessen Goodwill die Produktion seit 100 Jahren angewiesen ist. In den Anfängen komponierten die Mönche die Musik zu Calderóns «Welttheater», doch ab der Jahrtausendwende gingen auch diese Aufträge an weltliche Musikschaffende. Hingegen stand in den Spielzeiten 2000 und 2007 ein Mönch auf der Bühne. Der 2009 verstorbene Pater Kassian Etter blieb jedoch bis heute der einzige Schauspieler aus der Klostergemeinschaft. Der spanische Barockdichter Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) schrieb «El gran teatro del mundo» als geistliches Spiel für Fronleichnam. Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss (*1971) präsentiert 2024 in Ein- siedeln eine zeitgenössische Interpretation von Calderóns «Welttheater». Vom religiösen Mysterienspiel zum modernen Lehrstück Das «Einsiedler Welttheater» wird noch bis zum 7. September aufgeführt. www.welttheatereinsiedeln.ch Literaturhinweise: Einsiedler Welttheater. Lukas Bärfuss. Rowohlt Verlag, 2024. 100 Jahre Welttheater in 100 Geschichten. Walter Kälin. Schwyzer Heft Nr. 115, 2024. Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 16 Gesehen

17 EVELINE RUTZ Der Wohnsitz und nicht die Nationalität ist massgebend, wenn es um die obligatorische Krankenversicherung geht. Wer in der Schweiz lebt, muss hierzulande versichert sein. Wer auswandert, muss sich in seiner neuen Heimat organisieren. Dank bilateraler Abkommen gilt dies nicht für jene, die aus der Schweiz in einen EU- oder EFTA-Staat ziehen. Von der Regelung ausgenommen sind ebenso Staatsangestellte, die ins Ausland entsandt werden. Betroffen sind hingegen Personen, die sich in Drittstaaten – etwa in Südamerika oder im asiatischen Raum – niederlassen. Sie müssen Zugang zur staatlichen Versicherung des Gastlandes finden oder eine private Versicherung abschliessen. «Das ist unfair», sagt Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter. «Viele dieser Ausgewanderten haben in der Schweiz jahrelang Prämien bezahlt und teilweise kaum Leistungen bezogen.» Am neuen Wohnort in die Grundversicherung aufgenommen zu werden, sei teuer und nicht immer möglich. Schwierigkeiten hätten insbesondere ältere und vorerkrankte Menschen. Sie würden – auch bei privaten Lösungen – oft nur mit Vorbehalt versichert. Das könne gravierende Folgen haben, sagt Schneider-Schneiter: «Im allerschlimmsten Fall wird ihnen die Behandlung verweigert.» In einigen Ländern werde man erst medizinisch versorgt, wenn man eine Versicherungskarte vorweise, sagt Ariane Rustichelli, Direktorin der Auslandschweizer-Organisation (ASO). «Das ist nicht akzeptabel und führt zu dramatischen Situationen.» Nicht selten kehren Erkrankte – sofern noch transportfähig – in ihre alte Heimat zurück. Sobald sie ihren Wohnsitz wieder in der Schweiz haben, profitieren sie von den Leistungen der hiesigen Krankenkassen. Viele der rund 290000 Schweizerinnen und Schweizer, die ausserhalb der EU/EFTA leben, sind bereits in einem fortgeschrittenen Alter, in dem gesundheitliche Probleme zunehmen. Viele sind finanziell nicht auf Rosen gebettet. Rustichelli: «Sie sind ausgewandert, weil ihnen das Leben in der Schweiz zu teuer ist.» Gerade im Alter sei es nicht leicht, sich an einem neuen Ort zurechtzufinden. Die geltenden Regelungen zur Krankenversicherung erschwerten diesen Schritt zusätzlich. Die Schweiz wiederum profitiere: «Weil unter anderem Prämienverbilligungen wegfallen.» Das Territorialprinzip sei mit Nachteilen verbunden, bestätigt Gesundheitsökonom Willy Oggier. In Brasilien und Thailand etwa würden Auslandschweizer und -schweizerinnen von den staatlichen Grundversicherungen ausgeschlossen. Auf Privatversicherungen zu wechseln, sei nur «Im schlimmsten Fall wird Kranken die Behandlung verweigert» Wer in ein Land ausserhalb der EU/EFTA auswandert, kann nicht in der Schweiz krankenversichert bleiben – und läuft Gefahr, zwischen Stuhl und Bank zu fallen. ASO-Direktorin Ariane Rustichelli sagt, dass die Schweiz von guter Pflege vor Ort profitiere: «Weil unter anderem Prämien-­ verbilligungen wegfallen». Der heutige Zustand sei für etliche der Ausgewanderten «unfair», sagt Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter: «Sie haben in der Schweiz jahrelang Prämien bezahlt.» möchte, dass der Bundesrat eine Auslegeordnung vornimmt und Lösungen aufzeigt. Sie hat einen Vorstoss eingereicht. Ihrer Meinung nach sollten Ausgewanderte vermehrt vor Ort versorgt werden können: «Wenn weniger zurückkehren, nützt das auch den Krankenkassen – sie sparen.» Ariane Rustichelli wünscht sich ebenfalls eine politische Debatte. «Eine Analyse der aktuellen Situation wäre dafür eine gute Grundlage», sagt begrenzt möglich. Private Angebote seien häufig limitiert. Sie richteten sich beispielsweise ausschliesslich an Unter-70-Jährige und setzten in der Regel eine Gesundheitsprüfung voraus. Als Folge davon würden bei bestehenden Krankheiten Vorbehalte angebracht. Für Krankenversicherer sei es meist nicht attraktiv, Policen für Seniorinnen und Senioren anzubieten: «Der Markt spricht dagegen.» Mitte-Politikerin Schneider-Schneiter sie. Die ASO ist daneben mit mehreren Krankenkassen im Gespräch, um zu einem breiteren Angebot an privaten Produkten und besseren Konditionen zu gelangen. Gemäss Oggier wären Kollektivlösungen für einzelne Länder oder Regionen zu prüfen. Die Versicherer könnten einheitliche Vorgaben in Rahmenverträgen verankern und etwa Zuschläge für Vorerkrankungen festlegen. «So liesse sich der Versicherungsschutz mindestens teilweise zeitnah erhöhen», sagt er. Deutlich aufwändiger ist es, auf politischem Weg gesetzliche Anpassungen zu erreichen. Zumal die Regierung derzeit keinen Handlungsbedarf sieht. Schneider-Schneiter ist dennoch zuversichtlich: «Mein Vorstoss ist breit abgestützt, er hat gute Chancen, angenommen zu werden.» Der Vorstoss im Wortlaut: www.revue.link/ess Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 Politik

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