Schweizer Revue 4/2024

«Das Gericht überschreitet seine Kompetenzen, wenn es Gesetzgebung und gar Volksabstimmung eines Landes übersteuert.» Alt-Bundesrichterin Brigitte Pfiffner sionen auf null reduziert hätte, würde dies den globalen Anstieg der Temperaturen nicht bremsen. Zu klein ist der Anteil der Schweiz am weltweiten CO₂-Ausstoss. Kritiker befürchten, dass das Urteil zu einer Banalisierung und Politisierung der Menschenrechte führe. Wenn rechtlich verbindliche und gerichtlich abgesicherte Menschenrechtsgarantien zur Lösung von gesellschaftlich kontroversen Fragen wie dem Klimaschutz hinzugezogen werden, würden diese politisiert. Auch dazu gibt es andere Meinungen. Für den Basler Staatsrechtler Markus Schefer ist das Klimaurteil eine «logische Fortentwicklung» der bisherigen Rechtsprechung. Die Grundrechte in der EMRK seien bewusst offen formuliert, damit der Schutz über die Zeit bestehen bleibe, sagte Schefer der «NZZ am Sonntag». Es sei eine wichtige Aufgabe von Gerichten, das Recht auf neue Bedrohungslagen anzuwenden. Umgekehrt könnte das Urteil auch dazu führen, dass der Klimaschutz durch seine «Vergerichtlichung» geschwächt wird. Ein Teil der Schweizer Stimmbevölkerung könnte bei kommenden Abstimmungen über Klimathemen mit einem Nein nicht den eigentlichen Klimaschutz meinen, sondern ein Zeichen setzen gegen den Einfluss «fremder Richter». Als Nebenwirkung auf einem anderen Gebiet dürfte das Urteil aus Strassburg die innenpolitisch ohnehin schwierigen Aussichten eines institutionellen Abkommens mit der EU weiter getrübt haben. Zu Verwerfungen hat das Urteil in der Schweizer Politik geführt. So fordern – ausgerechnet – die Rechtskommissionen beider Kammern den Bundesrat dazu auf, das Urteil nicht umzusetzen. Das ist eine bemerkenswerte Botschaft von gewählten Politikern eines demokratischen Rechtsstaates. Es ist davon auszugehen, dass weitere Umweltschutzorganisationen in Europa ihre jeweiligen Regierungen wegen unzureichendem Klimaschutz vor dem EGMR einklagen werden. Denn das Urteil sichert den Vereinen und Verbänden in Klimafällen einen Zugang zum Gericht. So geht beispielsweis die Deutsche Umwelthilfe inzwischen davon aus, dass ihre 2022 beim EGMR eingereichte Klage gegen die deutsche Bundesregierung eine reelle Aussicht auf Erfolg hat. tet, sagen die Strassburger Richter nicht. Es sei nicht die Aufgabe des Gerichtshofes, der Schweiz vorzuschreiben, wie sie die Klimaziele erreichen solle. Es liege nun an der Eidgenossenschaft, Massnahmen für mehr Klimaschutz zu ergreifen und diese dem Ministerkomitee des Europarats darzulegen. Das Ministerkomitee prüft jeweils die Umsetzung der Urteile in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Die Klimaseniorinnen fordern nun vom Bundesrat, dass er in einem ersten Schritt die Klimaziele der Schweiz wissenschaftlich untersuchen lässt und dabei das nationale CO₂-Budget und das verbleibende globale CO₂-Budget berücksichtigt. Harsche Kritik am EGMR Das Urteil des Gerichtshofes hat indessen nicht nur Jubel und Genugtuung ausgelöst, es stösst auch auf harsche Kritik. Auch bei Leuten, die dem Ziel eines besseren Klimaschutzes durchaus gewogen sind. Dazu gehört die Alt-Bundesrichterin Brigitte Pfiffner, die Mitglied der Grünen Partei ist. Das Gericht überschreite klar seine Kompetenzen, wenn es Gesetzgebung und gar Volksabstimmung eines Landes übersteuere, sagte Pfiffner in einem Interview mit der «SonntagsZeitung». Gemeint ist damit die von der Stimmbevölkerung abgelehnte Revision des CO₂-Gesetzes 2021, mit der etwa eine Flugticketabgabe hätte eingeführt werden sollen. Damit macht das Gericht laut Pfiffner Politik, statt die Menschenrechtskonvention auszulegen. Die frühere Bundesrichterin kritisierte auch, der Gerichtshof begründe nicht stichhaltig, wieso plötzlich ein Verein (der Verein der Klimaseniorinnen) beschwerdeberechtigt sei. Und in welchem Menschenrecht er verletzt sei. Ebenfalls nicht überzeugend legt das Gericht dar, inwiefern der Verein aufgrund der Schweizer Klimapolitik in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingeschränkt ist, wie Artikel 8 der EMRK stipuliert. Bei der Frage, ob es einen ursächlichen Zusammenhang gibt zwischen der lückenhaften Klimapolitik der Schweiz und den von den Rentnerinnen beklagten höheren Temperaturen und Hitzewellen, macht es sich der Gerichtshof relativ einfach. Es sei ausreichend für die Verantwortlichkeit eines Staates, dass die zumutbaren Massnahmen der Behörden eine reale Chance gehabt hätten, das Ergebnis zu ändern oder den Schaden zu reduzieren. Doch selbst wenn die Schweiz die TreibhausgasemisMehr zum Thema: Klimaseniorin Rosmarie Wydler-Wälti im Porträt, www.revue.link/klima Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 10 Nachrichten

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