Schweizer Revue 4/2024

Einfall Russlands 2022 gewannen nicht, weil sie den jeweils besten Song am Start hatten. Auch Conchita Wursts Sieg für Österreich setzte 2014 vor allem ein Zeichen: Zehn Jahre vor Nemo gewann die Dragqueen, welche die Diskriminierung wegen ihrer sexuellen Orientierung thematisierte. Die Frage ist legitim, ob Nemo den Wettbewerb gewonnen hätte, wenn Nemo ein Mann oder eine Frau gewesen wäre und der Song nicht vom Befreiungsschlag einer nichtbinären Person gehandelt hätte. Mit der Weltkarriere wird es wohl nichts. Bleibt die Frage, ob Nemo eine tragende Rolle in der queeren Community haben wird. Nemos Sieg in Malmö hat in der Schweiz eine intensive Diskussion über nonbinäre Menschen in der Gesellschaft ausgelöst. Der Shootingstar hat sich seit dem Sieg immer wieder für einen offiziellen dritten Geschlechtseintrag stark gemacht und eine politische Debatte darüber entfacht. Nun ist sogar ein Treffen mit Bundesrat Beat Jans geplant. Und in der «Arena» stritten sich jüngst Politikerinnen und Politiker von links bis rechts über das Thema. Nur zu gerne wüsste man, ob sich Nemo selbst als neue Identifikationsfigur der queeren Community sieht. Und ob Nemo das überhaupt will – oder sich in Zukunft doch vor allem auf die Musik konzentrieren wird. Die Zeit wird es weisen. Und vielleicht auch mal ein Interview mit Nemo. cken zu kehren und in eine Grossstadt zu ziehen. Der Befreiungsschlag gelang Nemo in Berlin mit dem Outing als nonbinäre Person ein halbes Jahr vor dem Eurovision Song Contest. Und nun, wie weiter? Die Medien prophezeiten Nemo nach dem Sieg in Malmö reflexartig eine «Weltkarriere», doch dazu wird es vermutlich nicht kommen. «The Code» war zweifellos ein guter Song. Doch so originell der stilistische Mix aus Drum'n'Bass, Hip-Hop, Pop und Klassik auch war, so eindrücklich Nemos Gesang im Refrain zum Tragen kam und so sehr der autobiographische Text über das Queersein das Publikum berührte – «I went to hell and back, to find myself on track» –, so formelhaft war der Song am Ende auch. Unüberhörbar, dass das Lied in einem sogenannten Songwriting Camp in Zusammenarbeit mit den erfahrenen Hitlieferant:innen Benjamin Alasu, Lasse Nymann und Linda Dale geschrieben und von Beginn weg auf ein passendes Format getrimmt wurde. Ein Lied aus der Feder von Nemo zwar, ein wenig aber auch aus der Retorte. Nichts für die Ewigkeit. Gegen eine Weltkarriere spricht auch, dass schon vor Nemo so gut wie keine Song-Contest-Sieger:innen eine weltweite Laufbahn starten konnten. Die wenigen Ausnahmen sind bekannt: Vor 50 Jahren gewannen Abba am damaligen Grand Prix Eurovision de la Chanson für Schweden. 1988 siegte mit Céline Dion ein aufstrebender Weltstar für die Schweiz. Ansonsten landeten die Acts so schnell wieder in der Versenkung wie sie aufgetaucht waren. Karrieren waren höchstens auf nationaler Ebene möglich. Ausserdem war die Wahl der Sieger:innen am Eurovision Song Contest nicht selten vor allem ein politisches oder ein gesellschaftliches Statement – kein musikalisches Urteil, was für eine weitere Karriere essenziell wäre. Israel in den Jahren 1978 und 1979 oder die Ukraine nach dem Der siegreiche Song ist politisch aufgeladen: Nemo versteht sich als nonbinär. Video: www.revue.link/nemo Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 13

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx