Schweizer Revue 4/2024

5 JÜRG STEINER Das Dorf Lohnstorf liegt nicht einmal eine halbe Autostunde vom Bundeshaus in Bern entfernt. Aber die Szenerie könnte ländlicher nicht sein. Bei schönem Wetter thronen die vereisten Hochalpengipfel Eiger, Mönch und Jungfrau wie ein Bühnenbild über den sauber ausgerichteten Gemüseäckern im topfebenen Tal. Schweizweit bekannt ist das fruchtbare Gürbetal, in dem Lohnstorf liegt, für den Intensivanbau von Weisskohl, deshalb heisst es «Chabisland». Urs Haslebacher steht auf dem Balkon seines Bauernhauses an der Talflanke hoch über Lohnstorf. Die Zufahrt zu seinem Hof ist steil und kurvig. Haslebacher betreibt mit seiner Familie einen grossen Schweinemastbetrieb mit rund 3000 Tieren, er beschäftigt 15 Angestellte. Einen zweiten Hof in der Talebene hat er dazugekauft, zudem vermietet er Wohnungen in diversen Häusern, die ihm gehören. Nebenbei wirkt Haslebacher auch als Politiker für die SVP. Seit 2023 ist er Präsident der Gemeinde Thurnen, zu der Lohnstorf gehört. Landwirt Haslebacher versprüht die Energie des zupackenden Unternehmers, der Chancen sieht, wohin er blickt. Und Hindernisse als Herausforderung anschaut. Trotzdem kam zu seinem ohnehin schon vielfältigen Berufsportfeuille dieses Jahr noch eine weitere Beschäftigung hinzu: Er ist jetzt auch Organisator von bäuerlichen Protestkundgebungen. Bäuerliche Existenzängste Im Februar und März stiegen Schweizer Bauern am Feierabend oder an Wochenenden zu Hunderten auf Traktoren, tuckerten zu regionalen Treffpunkten auf irgendeiner Wiese und versammelten sich neben den in Formation parkierten Fahrzeugen, um ihrer tiefsitzenden Frustration Ausseine Kolleginnen und Kollegen stets, darauf zu achten, mit ihren Traktorkolonnen ja nicht den Verkehr zu blockieren. Jetzt, im Sommer, der intensiven Zeit auf den Feldern, bricht kein Bauer zu einer Protestfahrt auf. Aufwühlende Zielkonflikte Urs Haslebacher ist keiner, der jammert. Und auch keiner, der um seine berufliche Existenz fürchtet. Und doch kann er an seinem eigenen Beispiel zeigen, was es ist, das auch einen wie ihn auf die Barrikaden treibt: der grosse Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Anspruchshaltung und wirtschaftlicher Realität. Im Fall von Haslebacher zeigt sich das Spannungsfeld so: Vor mehr als 20 Jahren motivierte der Bund mit Beiträgen Schweinehalter zum Bau von Ställen mit Auslauf zu Gunsten des Tierwohls, die Grossverteiler wollten Fleisch aus dieser Produktion mit einem zusätzlichen Franken pro Kilogramm vergüten, erzählt Haslebacher. Er investierte. Weil aber der Auslauf der Schweine unter freiem Himmel dazu führt, dass der Ammoniakausstoss zunimmt, stand er mit seiner Massnahme zugunsten des Tierwohls schnell in der Kritik von Klimaschützern. Und der Zusatzfranken pro Kilo tierfreundlich produziertes Fleisch schmolz auch auf wenige Rappen zusammen, noch ehe die erneuerten Ställe amortisiert waren. Solche Zusammenhänge seien den Konsumenten oft nicht bekannt: «Ich mache niemandem Vorwürfe. Aber wenn die Leute am Wochenende für ökologische Auflagen stimmen, jedoch unter der Woche billiges Importfleisch kaufen, fehlt die Planungssicherheit, und das bringt uns Bauern in Bedrängnis», sagt Haslebacher. Es könne nicht sein, dass es die einzelnen Bauernbetriebe seien, die diese ungelösten Zielkonflikte ausbaden müs­ «Wenn die Leute am Wochenende für ökologische Auflagen stimmen, jedoch unter der Woche billiges Importfleisch kaufen, bringt das uns Bauern in Bedrängnis.» Urs Haslebacher organisierte Bauernproteste. Foto Keystone druck zu geben: über zu tiefe Einkommen, überbordende Bürokratie, widersprüchliches Konsumverhalten – und fehlende Wertschätzung. Der schweizerische Bauernverband untermauerte den Unmut schriftlich mit einer Petition, für die er innert Kürze 65 000 Unterschriften sammelte und sie dem Bundesrat sowie den Detailhändlern Coop, Migros, Aldi und Lidl übergab. Dass die Landwirte von schweren Sorgen geplagt werden, ist real. 250 000 Landwirtschaftsbetriebe gab es einst in der Schweiz. Heute sind es 48000 Höfe. Jede Woche geben im Schnitt weitere zehn davon auf. Die Existenzangst ist ständige Begleiterin im Leben der rund 150 000 Bäuerinnen und Bauern, die es in der Schweiz noch gibt. Urs Haslebacher koordinierte die Protestfahrten in seinem Einzugsgebiet in Bern, er verbrachte viel Zeit mit Nachrichten-Apps an seinem Smartphone. Im Unterschied zu den Bauernprotesten in Frankreich oder Deutschland eskalierten die Versammlungen in der Schweiz nie. Haslebacher mahnte Schweizer Revue / Juli 2024 / Nr.4 Frustrierte Schwerarbeiter: Protestierende Bauern im Frühling 2024 auf einem Feld bei Uster (ZH). Foto Keystone

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