OKTOBER 2024 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Wald, Weite – und Widerstand: im Gegenwind durch den rebellischen Jura Die Schweiz will Milliarden in Autobahnen investieren: Ist das Bauwahn oder das Ende aller Engpässe? Sie ist eine Wucht, wiegt zehn Tonnen und heisst Susanne: Vor allem aber singt die grösste Glocke der Schweiz wunderschön
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Heute steht Geschichte an – und wir gehen ins Jahr 1815. Europa blickt auf wilde Jahre zurück: Napoleon hatte versucht, die Karte Europas gründlich neu zu zeichnen. Seine Truppen überrannten auch die Schweiz und krempelten dabei vieles um. Doch Napoleon scheiterte. Am Wiener Kongress zogen 1815 die siegreichen Mächte ihrerseits viele Grenzen neu. Ein Gebiet wurde der Schweiz – genauer dem Kanton Bern – zugeschlagen: der Jura. Viele Menschen im Jura verstanden sich zwar bald als Teil der Schweiz, aber nicht als Teil Berns – aus sprachlichen, religiösen und kulturellen Gründen. Bern trug viel dazu bei, denn etliche bernische Politiker geringschätzten das neue Anhängsel im Norden. Sie nannten den Jura abschätzig den «elenden Dachboden». Für anderthalb Jahrhunderte wurde der «Jurakonflikt» zum Dauerzustand. Das gegenseitige Unverständnis nahm zu statt ab; und in den 1960er-Jahren stieg die Bereitschaft zur Gewalt. Zeitweilen drohte die bürgerkriegsähnliche Eskalation. Das grosse Glück: Es kam anders, der Konflikt gilt als überwunden. Die grosse Weichenstellung erfolgte 1974, also vor genau 50 Jahren: Drei bernische Bezirke beschlossen damals, sich vom Kanton Bern abzuspalten und einen eigenen Kanton zu bilden. Nur fünf Jahre später wurde der jüngste Kanton der Schweiz zur Realität. Niemand stellt seine Existenzberechtigung noch in Frage; der Jura ist Teil der föderalistischen Vielfalt des Landes (siehe Schwerpunkt ab Seite 4). Das ist nicht allein das Verdienst beharrlicher Jurassierinnen und Jurassier. Entscheidend war auch, dass ausserhalb des Jura ein Lösungswille erstarkte, ein «Jurakonsens» wachsen konnte. Wie gründlich das glückte, zeigte sich 1978. Damals hiess das Schweizer Stimmvolk an der Urne den neuen Kanton mit 82 Prozent Ja gut. Selbst im Kanton Bern, dem ein Stück abgezwackt wurde, lag die Zustimmung bei fast 70 Prozent. Heutzutage fallen vor allem an Wochenenden und zur Ferienzeit regelmässig viele Bernerinnen und Berner in den Jura ein. Aber sie tun es nicht, um Gebiete zurückzuerobern, sondern – weil sie den Jura mögen. Für sie ist es kein Dachboden, sondern Ort fürs Durchatmen: Wälder und Weite, steile Felsen, tiefe Schluchten, beherzte Menschen und ein Hauch von rebellischer Freiheit. – Den heutigen Jura «erfahren»: Das hat auch die «Revue» getan, und zwar per Velo. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Jura libre! – Vor 50 Jahren wurde das Fundament für den Kanton Jura gelegt 9 Nachrichten Enorme finanzielle Sorgen: Der Bund setzt auf einen rigorosen Sparkurs 10 50 Jahre «Schweizer Revue» Die «Revue» wird 50 – und dazu hat nun die Leserschaft das Wort 12 Politik Alain Berset poliert jetzt die Beziehung der Schweiz zu Europa auf neuen Glanz Milliarden für Autobahnen-Ausbau? Darüber stimmt das Volk ab 16 Reportage Ganz Ohr für die grösste Glocke der Schweiz, die im Berner Münster hängt Nachrichten aus Ihrer Region 19 Schweizer Zahlen Nein, es ist keine Geburtstagsfeier! Nachhilfeunterricht zum 1. August 20 Porträt Thomas Widmer wandert und wandert – und fasst dies wundervoll in Worte 22 Natur und Umwelt Untereinander vernetzte Elektroautos könnten zum Stromspeicher werden 28 Aus dem Bundeshaus Die Geburtsstätte des konsularischen Netzes der Schweiz liegt in Bordeaux 30 SwissCommunity Die Wahl des Auslandschweizerrats per Mausklick rückt einen Schritt näher Die Erfahrung des Jura Titelbild: Jura-Wappen oberhalb der Stadt Moutier, die 2026 zum Kanton Jura wechseln wird. Foto Keystone Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 3 Editorial Inhalt Cartoon Max Spring
4 JÜRG STEINER Wie eine mächtige Burg steht die Clinique Le Noirmont auf dem Hügel über dem gleichnamigen jurassischen Dorf. Im Rücken des Gebäudes klafft die tiefe, abschüssige Schlucht des Doubs, die an der gegenüberliegenden Talseite bereits übergeht in die Weiten Frankreichs. Vorne liegt ihm die unschweizerisch dünn besiedelte, walddurchsetzte Hochebene der Freiberge zu Füssen. Die Klinik Le Noirmont am äussersten Rand der Schweiz ist das grösste nationale Rehabilitationszentrum für Menschen mit Herzerkrankungen. Sie ist ein guter Ort für den Start einer Erkundungsfahrt durch den jüngsten Kanton des Landes, in dem das Herz eine grosse Rolle spielt. Beherzte Aktivisten prägen die rebellische Geschichte des Kantons Jura. Und diese berührt die Herzen von Menschen von ausserhalb – weil der Jura den Geist von Grosszügigkeit, Unangepasstheit und Freiheit ausstrahlt. Und damit einen romantischen Kontrapunkt setzt in der effizienIm Gegenwind 1974 stimmten Jurassierinnen und Jurassier dafür, sich mit einem eigenen Kanton von Bern abzuspalten. Was macht den rebellischsten Teil der Schweiz 50 Jahre später aus? Eine Erkundung per Velo.o. Das Velo steht bereit und der Ausblick zu Beginn der «Erfahrung» des Jura ist grandios: links Les Breuleux, rechts in den Nebelschwaden Le Noirmont. Fotos Jürg Steiner (oben), Keystone (unten) ten, durchgetakteten, kompetitiven Schweiz. Wie viel von diesem jurassischen Kämpferherz ist nach 50 Jahren Mythos geworden und wie viel Realität geblieben? Dieser Frage auf einer Fahrradfahrt von Le Noirmont ostwärts in den Kantonshauptort Delsberg nachzugehen, ist keine zufällige Wahl. Der Kanton Jura ist entstanden, weil sich Menschen unverdrossen dem politischen Gegenwind gestellt haben. Und Gegenwind weht stets mehr als genug, wenn man sich auf den exponierten Jurahöhen mit dem Rad bewegt. Offene Wunden Als am Sonntag, 23. März 1974, die Abstimmungsresultate bekannt wurden, war klar: Das wird ein historischer Tag. «Es regnet die Freiheit», sagte Roger Schaffter, ein politischer Anführer der jurassischen Unabhängigkeitsbewegung, auf der Treppe zur Verwaltung von Delsberg poetisch, als der Regen einsetzte. Eine knappe Mehrheit der 4 Schwerpunkt
5 7500 Einwohnerinnen und Einwohner vergrössern. Vielleicht ist das der Endpunkt der epischen Auseinandersetzung um die Jurafrage. Die Gründung des Kantons Jura verdeutliche, «welche Kraft die Demokratie haben kann», sagte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, die im jurassischen Ort Les Breuleux unweit von Le Noirmont wohnt, in einem Interview zum 50-Jahr-Jubiläum: «Die Freiheit der Völker, die Freiheit, selber Entscheidungen zu treffen – das ist etwas, was den Jura und seine Bewohnerinnen und Bewohner sehr beschäftigt.» Wenn man sich – im Gegenwind natürlich – mit dem Velo auf einsamen Wegen, die ab und zu an einem einsamen Gehöft vorbeiführen, über die Freiberge Richtung Saignelégier kämpft, wird klar: Die bundesrätliche Kurzdefinition des jurassischen Selbstverständnisses bildet sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Landschaft ab. In der der Freiheit Stimmberechtigten in den sieben jurassischen Bezirken hatte sich eben für die Trennung vom Kanton Bern ausgesprochen. Damit korrigierten sie ein Verdikt aus dem Jahr 1815: Nach dem Sieg über Napoleon und dem Wiener Kongress schlugen die europäischen Grossmächte den Jura, der zuvor zum Erzbistum Basel gehört hatte, dem Kanton Bern zu. Bern wurde mit dem Randgebiet des Jura dafür entschädigt, dass es seine Besitztümer im Aargau und in der Waadt hergeben musste. Konflikte, Konflikte, Diskriminierung und Autonomiebestrebungen waren programmiert, weil sich der kleine, katholische, französischsprachige Jura als Minderheit im grossen, protestantischen, deutschsprachigen Kanton Bern wiederfand. Politologen urteilen rückblickend, um den Jura hätte es vor dem historischen Urnengang von 1974 auf der Friedensinsel Schweiz sogar zu einem Bürgerkrieg kommen können. Das ist keine Übertreibung: Die Separatistenorganisation Rassemblement jurassien und ihre Jugendabteilung, die Béliers, orchestrierten den Widerstand gegen Bern ab den 1960er-Jahren so virtuos und furios, dass zu einer Eskalation oft nur wenig fehlte. Mal zündeten Jurassier auf dem Bundesplatz öffentlichkeitswirksam Hunderte Exemplare des Zivilverteidigungsbuches an oder stürmten den Nationalratssaal, dann verübten radikale Splittergruppen Brandanschläge. Trotzdem kam es aber im Juni 1974 zu einem friedlichen demokratischen Grundsatzentscheid zu Gunsten der jurassischen Selbstbestimmung. Doch ausgerechnet dieser riss neue Wunden auf. Denn nur die nördlichen drei Bezirke – Freiberge, Pruntrut, Delsberg – wollten einen neuen Kanton gründen. Die südjurassischen Bezirke blieben dem Kanton Bern treu. Kraft der Demokratie Als der neue Kanton 1979 entstand und Teil der Eidgenossenschaft wurde, war der Jura schmerzhaft zweigeteilt. Die Konfliktlinien in den Köpfen und Herzen der jurassischen Bevölkerung blieben unversöhnlich oder verhärteten sich sogar. Es kam zu Anschlägen und Provokationen – etwa dem dreisten Raub des legendären, 83,5 Kilo schweren Unspunnensteins im Berner Oberland, ein Stein, der traditionsverwurzelten Steinstössern als Sportgerät diente. Per Anfang 2026 wird der Bezirk Moutier nun doch auch noch von Bern zum Jura wechseln – und diesen um Krieg der Symbole: 2001 präsentierte Schauspielerin Shawne Fielding den wieder aufgetauchten Unspunnenstein. Separatisten hatten den Brocken 1984 gestohlen, versteckt und mit politischen Botschaften versehen. Foto Keystone Der Widerstand der jurassischen Separatisten gegen den Kanton Bern war laut und heftig. Im Bild: 1972 demonstrierten die «Béliers» in Bern für einen unabhängigen Kanton Jura. Foto Keystone Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5
Schweiz leben durchschnittlich 214 Personen auf einem Quadratkilometer, im Kanton Jura sind es nur 88. Man kann im Jura trotz guter Strassenerschliessung so weit von den nächsten Nachbarn entfernt wohnen, dass sich die Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Experimentierfreudigen schon aus der räumlichen Distanz ergibt. Im Café du Soleil am Marktplatz von Saignelégier wird der Geist der Unangepasstheit ausdauernd kultiviert. 1980, ein Jahr nach der Kantonsgründung, übernahm eine Gruppe von Freunden die ältliche Beiz und machte aus ihr ein Kulturlokal, das «die kritische Analyse und die Freiheit ins Zentrum stellt, verstanden als Wiedereroberung der persönlichen Autonomie, die auch der ganzen Region dient», wie es im Gründungsmanifest sinngemäss heisst. Heute ist der alternative Furor im Café du Soleil etwas verschwommen. Auf der Speisekarte findet man neben vegetarischen Frühlingsrollen auch 200 Gramm schwere Entrecôtes, für die kulturelle Untermalung sorgen Ausstellungen und Konzerte. Trotzdem stehen Orte wie Saignelégier dafür, dass das romantische Bild des nonkonformistischen Jura in den Herzen Aussenstehender verankert bleibt. Armeekritiker und Umweltschützer Der örtliche Campingplatz, unweit der an skandinavische Seenplatten erinnernden Landschaftsperle des Etang de la Gruère, gehört zu den ganz wenigen in der Schweiz, auf denen es weder markierte Parzellen noch Strom auf den Stellplätzen gibt. Geschweige denn ein Reservationssystem, Platz hat es für alle: «C’est ça la liberté», finden die Platzmanager. Auf der Weiterfahrt rollt man dann am vermeintlich verschlafenen Freiberger Ort Les Genevez vorbei, dessen aufregendstes Merkmal der erst 23-jährige Gemeindepräsident Anael Lovis ist. Vor Jahrzehnten machte sich die kleine Gemeinde allerdings einen Namen als Nest der Rebellion, weil sich die Bevölkerung auflehnte gegen einen lange geplanten Waffenplatz der Armee und für den Moorschutz engagierte. «Sehr wichtig für die jurassische Identität», wie Bundesrätin Baume-Schneider anmerkt. Und sehr wichtig für die Wahrnehmung bei Armeekritikern und Umweltschützern in der Deutschschweiz. Das progressive Jura-Aussenbild verstärkt, dass sich der aufmüpfige Kanton 1979 eine Verfassung gab, die der Zeit (und dem Rest der Schweiz) weit voraus war. Das Streikrecht, das Recht auf Arbeit und Wohnung, die Geschlechtergleichstellung und die Einrichtung eines Büros für Frauenfragen schrieb der junge Kanton ambitioniert fest. Zudem dürfen im Jura Ausländerinnen und Ausländer an kantonalen Wahlen und Sachabstimmungen teilnehmen. Das Versprechen der Transjurane Auf der langen Abfahrt hinunter vom Hochplateau der Freiberge ist auf dem Fahrrad Zeit, sich das Jurabild durch Naturlandschaften wie hier am Etang de la Gruère prägen heute das Jura-Bild vieler Schweizerinnen und Schweizer. Foto Keystone Der Kanton Jura in seiner heutigen Ausdehnung. Anfang 2026 wird er grösser: Moutier, auf der Karte zwischen Delsberg und Grenchen zu finden, wechselt vom Kanton Bern zum Kanton Jura. Im Kulturlokal Café du Soleil in Saignelégier wird der Geist der Unangepasstheit ausdauernd kultiviert. Foto Jürg Steiner Le Noirmont Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 6 Schwerpunkt
den Kopf gehen zu lassen. Durch die enge, tiefeingeschnittene Pichoux-Schlucht, in der die schmale, verwitterte Strasse nur knapp Platz hat, weht einem heisse Luft entgegen. Sie steigt auf aus der dichter besiedelten, gezähmten Ebene zwischen Bassecourt und Delsberg, wo der Jura einen anderen Ausdruck zeigt. Den Ausdruck einer Gegend, die sich nicht salopp um Konventionen foutiert, sondern um den wirtschaftlichen Anschluss ringt. Man erblickt die Kunstbauten der Transjurane, der 85 Kilometer langen Autobahn quer durch den Jura, die von Biel bis nach Boncourt an der französischen Grenze führt. 6,6 Milliarden Franken kostete die Schnellstrasse wegen der komplizierten Geologie und unzähliger Brücken und Tunnel, die von der Tessiner Architektin Flora Ruchat-Roncati auch ästhetisch auf höchstes Niveau getrimmt wurden. Der Bau der Transjurane wurde kurz nach der Jura-Gründung in Angriff genommen, fertiggestellt wurde sie 2017. Sie kann als Engagement der Eidgenossenschaft verstanden werden, die benachteiligte Grenzregion mit den pulsierenden Wirtschaftszentren des Mittellands zu verbinden. Ob die Transjurane wie geplant wirkt, lässt sich in Zahlen kaum nachweisen. Während die Bevölkerung der Schweiz stark wächst, stagniert sie im Kanton Jura praktisch. Die jurassische Wirtschaftskraft ist unterdurchschnittlich, die Arbeitslosigkeit liegt über dem schweizerischen Mittel, finanziell hängt der Kanton in den Seilen. Die Frage stellt sich, ob die bessere Verbindung mit der Autobahn die Abwanderung nicht mindestens so sehr erleichtert wie die Zuwanderung. Der jurassische Historiker Clément Crevoisier würde das wohl bejahen. Seit Jahrzehnten befasst er sich in seinen Publikationen intensiv und kritisch mit seinem Kanton. Die sprachliche und geografische Isolation hält er für ein grosses Problem. Nicht einmal zur Romandie fühlten sich die Jurassier zugehörig. Wer etwa studiere, müsse wegziehen – und kehre oft nicht mehr zurück. Aus der Sicht von Crevoisier hat aber auch der jahrzehntelange Fokus auf den Jurakonflikt eine mentale Verhärtung begünstigt, die der Entfaltung des jurassischen Potenzials entgegenwirkt. «Durch die ideologische Schwarzweissbrille betrachtet werden die multikulturellen Wurzeln des Jura leider verkannt», hält er fest. Die gebremsten Unruhestifter Auch der frühere jurassische Regierungsrat Jean-François Roth ist besorgt über den Stillstand in seinem Kanton. «Der Jura ist ziemlich ruhig geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob er heute noch die Idee verkörpert, die man bei seiner Gründung gehabt hat», kommentierte er zum 50-Jahr-Jubiläum des historischen Jura-Plebiszits. Ist der jurassische Aufbruchsgeist ein verkümmerter Mythos, weggeblasen im Gegenwind des Zwangs zum Wirtschaftswachstum? Das Velo steht jetzt in der kleinen, uninspiriert gestalteten Fussgängerzone beim Bahnhof Delsberg. Hier im Kantonshauptort arbeitet der Schriftsteller Camille Rebetez, bis vor kurzem engagierte er sich als Kunstmediator im ambitionierten «Théâtre du Jura». Die Eltern von Rebetez waren Mitgründer des Café du Soleil in Saignelégier. Er selber schrieb die Texte für die Comic- Serie «Les indociles», die 2023 für das Schweizer Fernsehen als Serie mit dem Titel «Die Unruhestifter» verfilmt wurde. Camille Rebetez begleitet in seinem Comic drei junge Freunde durchs Leben, die ab den 70er-Jahren in den jurassischen Freibergen ihre Utopie eines freien, gleichberechtigten Lebens verfolgen. Sie müssen schmerzhafte Kollisionen mit der Realität und den menschlichen Schwächen in Kauf nehmen. «Sie sind die Schwachen gegenüber dem dominanten Wirtschaftsliberalismus», sagte Rebetez, als der letzte Comic-Band erschienen war, gegenüber den Medien über seine Figuren: «Sie müssen lernen, wie man verliert und trotzdem die Hoffnung bewahrt. Sie retten zwar nicht die Welt, aber sie kämpfen, damit die Möglichkeit dafür erhalten bleibt.» 50 Jahre, nachdem seine Gründung beschlossen worden ist, gilt diese realistische Kurzformel auch für den Kanton Jura. Brenzlige Stimmung im November 1969: Junge jurassische Separatisten verbrennen vor dem Bundeshaus Hunderte Exemplare des roten und umstrittenen Zivilverteidigungsbuches. Foto Keystone Die «Béliers» wollten 1971 den Eingang zum Berner Rathaus zumauern, doch die Polizei vereitelte den Plan unzimperlich. Foto Keystone Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 7
Falsche Zahlen zur AHV führen zu heftigen politischen Erschütterungen Im August bestätigte die Bundesbehörde: Ihre bisherigen Berechnungen zur finanziellen Zukunft der AHV, einem zentralen Bestandteil der Schweizer Altersvorsorge, waren gründlich falsch. Das zuständige Bundesamt hatte sich bei seinen Prognosen um 14 Milliarden verkalkuliert und begründet dies mit einer fehlerhaften Berechnungsformel. Will heissen: Die AHV steht finanziell besser da, als bisher angenommen. Das hat nun auch politische Folgen. Denn: Die – falsche – finanzielle Prognose war unter anderem bei der Volksabstimmung vom 25. September 2022 über die Erhöhung des Rentenalters für Frauen ein Schlüsselargument. Die zu pessimistischen Zahlen wurden auch in den Abstimmungsunterlagen aufgeführt. Unter dem Eindruck der finanziellen Nöte der AHV stimmte schliesslich eine knappe Mehrheit von 50,5 Prozent der Erhöhung des Rentenalters zu. Insbesondere die Grüne Partei der Schweiz fordert nun eine Wiederholung der damaligen Abstimmung. Deren Präsidentin, Lisa Mazzone, kündigte bereits den Gang an die höchste Schweizer Gerichtsinstanz, dem Bundesgericht, an. Die Sozialdemokratische Partei wiederum forderte umgehend, die vom Volk beschlossene Einführung einer 13. AHV-Rente müsse nun rascher als geplant erfolgen, nämlich bereits ab 2025. Das Geld dazu sei ja da. Aber auch bürgerliche Politikerinnen und Politiker reagierten heftig auf den behördlichen Rechenfehler. Grundtenor: Damit sei Vertrauen in die staatlichen Institutionen verspielt worden – und das in einer Zeit, wo der Bund mit Verve auf sehr weitreichende, schmerzhafte Sparmassnahmen dränge (siehe dazu auch Seite 9). (MUL) Olympische Spiele: Die Schweiz gewinnt acht Medaillen – und verpasst neun weitere ganz knapp Mit ihrem Olympiasieg in Paris sorgte Chiara Leone (26) für den Lichtblick aus Schweizer Sicht. Die Schützin gewann den Dreistellungskampf über 50 Meter souverän. Edelmetall in Form einer Silbermedaille trugen Julie Derron (Triathlon) und Steve Guerdat (Springreiten) nach Hause. Und Bronze ging fünf Mal an Schweizer Sportlerinnen und Sportler: Zoé Claessens (BMX Racing), Audrey Gogniat (10 m Luftgewehr), Roman Mityukov (Schwimmen, 200 m Rücken), Roman Röösli und Andrin Gulich (Rudern, Doppelzweier) sowie ans Duo Tanja Hüberli und Nina Brunner (Beachvolleyball). Mit dieser Bilanz hat Swiss Olympic das selbstgesetzte Ziel erreicht – und gleichwohl ist die Freude leicht eingetrübt: In neun Disziplinen belegten Schweizer Athletinnen und Athleten den vierten Rang, schrammten also äusserst knapp am olympischen Erfolg vorbei. Im Medaillenspiegel liegt die Schweiz denn auch weiter hinten als gewohnt, auf Rang 48. (MUL) Eher Wunderliches zu erfolgreichen Schweizern an früheren Olympischen Spielen finden Sie auch in der Rubrik «Schweizer Zahlen» (Seite 19). Susanne Wille Sie übernimmt den wohl schwierigsten Job in der Schweizer Medienbranche: Ab 1. November 2024 leitet Susanne Wille als Generaldirektorin die Geschicke der schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG – mit 7000 Mitarbeitenden in allen Landesteilen. Zum öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen gehören Sender in vier Sprachen: SRF in der Deutschschweiz, RTS in der Romandie, RSI im Tessin, RTR im rätoromanischen Sprachgebiet. Teil der SRG ist auch die international ausgerichtete Webplattform Swissinfo, die in zehn Sprachen über das Geschehen in der Schweiz berichtet. Die durch Gebühren finanzierte SRG steht im Gegenwind. Im Jahr 2026 kommt die sogenannte «Halbierungsinitiative» zur Volksabstimmung. Darin verlangen rechtsbürgerliche Kreise, dass jeder private Haushalt statt 335 Franken pro Jahr nur noch 200 Franken für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zahlen muss. Firmen sollen ganz von der «Zwangsabgabe» befreit werden. Wird die Initiative angenommen, droht der SRG ein Kahlschlag. Susanne Wille wird zugetraut, dieses Schreckensszenario abzuwenden und das Stimmvolk für ein Nein zu gewinnen. Die frühere Fernsehmoderatorin und heutige SRF-Kulturchefin ist vor allem in der Deutschschweiz bekannt und geniesst viele Sympathien. Sie wolle sich für eine SRG einsetzen, «die zuhört, die nah bei den Menschen ist, mit der man sich identifizieren kann», betont die 50-Jährige. Ihre Volksnähe gilt als Trumpf für diejenigen, die sich trotz Zuschauerschwund für einen starken Service public einsetzen. Sparen muss die neue Generaldirektorin aber trotzdem: Der Bundesrat will den Initianten ein Stück entgegenkommen und die SRG-Gebühren auf 300 Franken senken. Susanne Wille wird unpopuläre Entscheide treffen müssen. THEODORA PETER Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 8 Herausgepickt Nachrichten
9 SUSANNE WENGER Finanzministerin Karin Keller-Sutter (FDP) warnt und mahnt unablässig. «Die Bundesfinanzen sind aus dem Lot», sagte die Bundesrätin schon Anfang Jahr. Beim Budget fürs kommende Jahr, das sie vor den Sommerferien vorlegte, wird der Bundeshaushalt schon mal um über 2 Milliarden Franken entlastet. Verschiedene kurzfristige Massnahmen tragen dazu bei, unter anderem lineare Kürzungen quer durch die Departemente (die auch die «Schweizer Revue» zu spüren bekommt, siehe Seite 33). Dass der Voranschlag 2025 – bei Einnahmen von 85,7 Milliarden Franken und Ausgaben von 86,5 Milliarden Franken – nur ein geringes Defizit aufweist, ist zudem höher geschätzten Einnahmen aus der Bundessteuer zu verdanken. Doch laut Keller-Sutter geht das Sparen jetzt erst richtig los. Ab dem Jahr 2027 drohen gemäss bundesrätlichem Finanzplan strukturelle Defizite von 2,5 Milliarden Franken. Strukturell heisst: Die Fehlbeträge sind nicht konjunkturbedingt. Dies aber verletzt laut der Finanzministerin die Schuldenbremse, die die Schweiz 2003 per Volksentscheid eingeführt hat. Sparen – aber wo? Verantwortlich für die nun drohenden roten Zahlen sei «das hohe Ausgabenwachstum», betont Keller-Sutter. Es müsse gebremst werden. Doch wo konkret? Zwei Drittel der Bundesausgaben sind gesetzlich gebunden, und einflussreiche Lobby-Gruppen im Parlament wissen das eigene Gärtchen erfahrungsgemäss vor Kürzungen zu schützen. Die Parteien sind sich zudem uneins, wie rigide die Schuldenbremse gelten soll. Während bürgerliche Kräfte sich für eine strikte Haushaltsdisziplin einsetzen, sieht die Linke Spielraum. Fest steht: Die Schuldenquote der Schweiz, also das Verhältnis der Staatsschulden zum Bruttoinlandsprodukt, ist in der Corona-Pandemie wieder angestiegen. Doch in den zwanzig finanziell stabilen Jahren davor waren Schulden nicht nur vermieden, sondern sogar abgetragen worden. Die hiesige Schuldenquote bleibt im internationalen Vergleich tief. Dem gescholtenen Ausgabenwachstum stünden ausserdem Werte gegenüber, kontern Keller-Sutters Kritiker: soziale Sicherheit, eine gute Infrastruktur. Entwicklungshilfe im Visier Über all dies wird in Bundesbern seit Monaten kontrovers diskutiert, inklusive parlamentarischer Schnellschüsse und fehlgeschlagener Tauschgeschäfte, auch «Kuhhandel» genannt. Weltbilder prallen aufeinander, geht es doch stark auch um die internationale Sicherheitslage und Zusammenarbeit. Inmitten von Sparappellen will die Parlamentsmehrheit die geplante Erhöhung des Armeebudgets um vier Milliarden Franken schon bis 2030 umsetzen, rascher als ursprünglich beabsichtigt. Denn das sicherheitspolitische Umfeld habe sich vorab durch den UkraineKrieg verschlechtert. Geht es nach dem Willen des Ständerats, sollen die Mehrausgaben zur Hälfte bei der Entwicklungshilfe kompensiert werden. Diese habe in den letzten Jahren mehr Geld erhalten, lautete die Begründung, zudem seien nicht alle ihre Projekte wirksam. Grosses Feilschen um Milliardensummen Die Armee soll mehr Geld erhalten. Gleichzeitig will der Bund sparen, weil in den nächsten Jahren Defizite erwartet werden. In der Schweiz wird gerade hart um die Bundesfinanzen gerungen. Finanzministerin Karin Keller-Sutter in der Rolle der Mahnerin: Das Sparen, sagt sie, gehe erst richtig los. Foto Keystone Geld umlagern von den Ärmsten zur Armee: Das würde umso stärker ins Gewicht fallen, als der Bundesrat seinerseits vorsieht, in den nächsten vier Jahren einen Teil der Hilfsgelder für die Ukraine bei der Entwicklungshilfe abzuzwacken. So stiess der ständerätliche Entscheid vom Juni auf breite Kritik, nicht nur bei der Linken und Entwicklungsorganisationen, auch etwa bei der Gesellschaft für Aussenpolitik und der Staatssekretärin für Wirtschaft. Entwicklungszusammenarbeit sei ebenso Teil einer weitsichtigen Sicherheitspolitik, wird argumentiert. Die weltweite Solidarität der Schweiz stehe auf dem Spiel. Heisser Finanzherbst In der Herbstsession im September wollte der Nationalrat über das Armee-Geschäft befinden (nach Redaktionsschluss der «Schweizer Revue»). Zudem sollten im Hinblick auf die Haushaltssanierung Vorschläge einer vom Bundesrat eingesetzten externen Gruppe von Expertinnen und Experten auf den Tisch kommen. Diese durchforstete seit dem Frühling sämtliche Aufgaben und Subventionen des Bundes. Vom Bund einberufene Runde Tische folgen, und in der Wintersession des Parlaments im Dezember werden die wichtigen Entscheide fallen. Die Schweiz erlebt einen heissen Finanzherbst und -winter. Der Beitrag gibt den Stand der Dinge bei Redaktionsschluss am 26. August 2024 wieder. Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 Nachrichten
Eine Torte braucht es nicht. Und auch Korken müssen keine knallen. Feiert eine Zeitschrift ein Jubiläum, sind Stimmen aus der Leserschaft – wohlwollende und kritische ebenso – das einzige angemessene Geschenk. Wir werden derzeit gleich doppelt beschenkt. Zum einen sind etliche Tausend Antworten auf unsere Leserschaftsumfrage eingegangen. Diese Rückmeldungen werden wir in den kommenden Wochen auswerten. Zum anderen stapeln sich bei uns Zuschriften von Leserinnen und Lesern rund um den Globus, die uns schildern, was sie mit der «Schweizer Revue» verbindet – und was sie bei ihnen auslöst. Einen kleinen Teil dieser Zeugnisse haben wir hier zusammengestellt. Weitere finden Sie unter: revue.link/zeugnisse Was uns dabei besonders freut: Viele sehen die «Revue» so, wie wir sie selber auch gerne sehen. Also nicht nur als reiner Informationsträger, sondern auch als emotionales – und im Falle der gedruckten Ausgabe: greifbares – Bindeglied zwischen hier und dort, zwischen den verschiedenen Heimaten, die zur eigenen Biografie gehören. 1974 erschien die erste «Schweizer Revue». Wie hat sie sich zu der Zeitschrift entwickelt, die sie heute ist? Die Erkundung über die «Revue» in der Welt und die Schweiz in der «Revue» – aus Anlass des 50. Geburtstags – lässt sich nachlesen: revue.link/jubi50 Anlässlich unseres 50-Jahre-Jubiläums sind sämtliche Ausgaben in allen Publikationssprachen digitalisiert worden. Nun lässt sich leicht in der Vergangenheit des Hefts blättern. Ermöglicht wurde dieses Angebot von der Nationalbibliothek in Kooperation mit E-Periodica, einem Dienst der ETH-Bibliothek: revue.link/revue50 MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR «Ich bin Schweizer, Waadtländer, Lausanner und jetzt auch Kanadier, Québecer und Blainviller; zwei Nationalitäten und ein Ursprung – die Schweiz. Die ‹Schweizer Revue› ist eine ständige Verbindung zu meinem Herzland in meinem Zuhause in Québec. Die ‹Schweizer Revue› ist wie Cenovis oder Thomy-Senf, man kann nicht ohne sie leben!» PHILIPPE MAGNENAT, QUÉBEC, KANADA «Lange war für mich die Zeitschrift die einzige Verbindung zwischen der Schweiz und Argentinien. Heute schätze ich als Politologiestudentin insbesondere die Berichterstattung über das Schweizer Staatsgeschehen. Aber die ‹Schweizer Revue› informiert nicht nur, sie vermittelt auch: 2016 nahm ich an einem Jugendlager teil, eine Erfahrung, die mein Leben veränderte und mich meine familiären Wurzeln noch mehr schätzen liess.» ANA SCHNEEBELI, 19 JAHRE ALT, ARGENTINIEN «Die ‹Schweizer Revue› ist eine meiner aktiven Verbindungen zu den Schweizerinnen und Schweizern, die im Ausland leben. Die Aufrechterhaltung einer solchen Verbindung ist wichtig, damit für uns Bürgerinnen und Bürger, die rund um den Globus präsent sind, das Sprichwort ‹Aus den Augen, aus dem Sinn› nicht zutrifft! Dank der ‹Schweizer Revue›!» LAURENT WEHRLI, NATIONALRAT, GLION VD, SCHWEIZ «Geboren wurde ich anderswo. Dennoch bin ich Schweizerin von der Nationalität und vom Herzen her. Ich geniesse die ‹Revue› wie früher das Ragusa. Während der Lektüre verbindet eine imaginäre Brücke meine in der Schweiz gelebten Jahre mit dem Hier und Jetzt. Sie flaniert zwischen den Büchern und den Pinseln auf meinem Schreibtisch. Später verwandelt sich die ‹Revue› jeweils in eine Unterlage, um den Tisch zu schützen; sie nimmt Emotionen, Farben, Acrylbilder auf Leinwand auf. Ganz gesellig wird die ‹Revue› zum Grundwert.» IOANA LAZAROIU, FRÉJUS-SAINT RAPHAËL, FRANKREICH Was die Leserschaft der «Revue» zum Fünfzigsten schreibt Vor 50 Jahren landete die erste Ausgabe unseres Hefts in den Briefkästen der im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer. Und heute füllt sich der Briefkasten mit Zuschriften von Leserinnen und Lesern, die schildern, was sie mit der «Schweizer Revue» machen – oder die «Schweizer Revue» mit ihnen. Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 10 Jahre «Schweizer Revue»
«Die ‹Schweizer Revue› war schon immer eine Brücke zu einem Teil meiner Wurzeln. Seit ich auf der Welt bin, bringt uns der Briefträger die Zeitschrift über jenes ferne Land, das, den Fotos und Texten nach zu urteilen, nicht nur soziale Ordnung und wirtschaftliche Stärke bietet, sondern auch Landschaften von unvergleichlicher Schönheit: Hügel, Berge und Züge, die den besten Malern würdig sind. Die Schweiz als das Perfekte und die ‹Schweizer Revue› als unser Fenster zu ihr!» MICAELA BERTUCHE, ARGENTINIEN «Die ‹Schweizer Revue› ist in jeder Hinsicht ausgezeichnet. Die Redaktion möge doch mit ihrem üblichen Sinn für patriotische Solidarität meine Gesamtbewertung von 20+/20 und meine Liebe zu unserem schönen Land zur Kenntnis nehmen.» ETIENNE MAFFEI, FRANKREICH «Als jemand, der eine gute Lektüre schätzt, hat mich die ‹Schweizer Revue› nie enttäuscht. Sie ist ein sorgfältig zusammengestelltes Fenster zur Schweiz. Es ist, als ob man ein kleines Stück Schweiz direkt an die Haustür geliefert bekäme, ohne dass man dafür die Alpen besteigen oder jodeln müsste. Jede Ausgabe gibt mir das Gefühl, mit meiner Herkunft und der Schweizer Gemeinschaft im Allgemeinen verbunden zu sein. Was ich an der ‹Schweizer Revue› am meisten schätze, ist ihre Fähigkeit, die perfekte Balance zwischen seriösem Journalismus und leichtfüssigem Erzählen zu finden.» RUTH KAMIENECKI-BRASCHLER UND FAMILIE, USA «Meine Reise mit der ‹Schweizer Revue› begann, als ich noch in der Vorschule war. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie ich das Heft durchblätterte, bevor ich überhaupt lesen konnte – fasziniert von den Bildern. Diese nostalgische Erfahrung schuf eine tiefe Verbindung – bis heute: Jede Ausgabe bietet eine Fülle von Wissen und Einblicken. Damit bleibt die ‹Schweizer Revue› ein wesentliches Bindeglied zu unserem Schweizer Erbe und vermittelt ein Gefühl von Kontinuität und Gemeinschaft, das für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer auf der ganzen Welt von unschätzbarem Wert ist.» FRANCOIS SCHWALB, MOOKETSI, SÜDAFRIKA Seit ich mich vor 33 Jahren in den USA niedergelassen habe, bin ich begeisterte Leserin der ‹Schweizer Revue›. Sie ist für mich eine Konstante. Was mich immer wieder zum Blättern bringt, sind die fesselnden Artikel über die reiche kulturelle und politische Landschaft der Schweiz. Am meisten schätze ich jedoch, von den verschiedenen Schweizer-Clubs in Nordamerika zu lesen. Diese Einblicke inspirieren mich. Es ist schön zu sehen, wie aktiv Auslandschweizerinnen und -schweizer mit ihrem Erbe verbunden bleiben, und wie die ‹Schweizer Revue› dabei zum wichtigen Bindeglied zu unserem Heimatland wird.» HEDWIG VICKI BURKHARD, FORT MYERS, USA Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 11
EVELINE RUTZ Mittendrin und doch nicht dabei: Die Schweiz geht in Europa ihren eigenen Weg. Wenn sich Regierungsspitzen treffen, ist sie daher häufig nicht vertreten. Die Schweizer Bevölkerung ist der Europäischen Union (EU) gegenüber mehrheitlich skeptisch eingestellt, wie Umfragen regelmässig zeigen. Bemühungen, sich der EU anzunähern, haben politisch einen schweren Stand. Zu verbreitet ist die Angst, an Souveränität und Wohlstand einzubüssen. Einer Mehrheit scheint es daher zu genügen, dass die Schweiz auf der europäischen Politbühne eine Nebenner prächtigen Residenz in Strassburg. Er führt mehr als 1800 Mitarbeitende und verantwortet ein Budget von rund 625 Millionen Franken. Er ist für die strategische Planung des Europarates verantwortlich und übernimmt repräsentative Aufgaben. Nach der eher zurückhaltenden Kroatin, Marija Pejčinović Burić, tritt Berset mit einem klaren Führungsanspruch und grossem Gestaltungswillen an. Er will der Organisation, die sich für Menschenrechte einsetzt und auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) umfasst, mehr Gewicht geben. Seinem Heimatland dürfte Berset ebenfalls zu mehr Dank Alain Berset wird die Schweiz in Europa präsenter Premiere in Spitzenamt: Mit Alain Berset ist erstmals ein Schweizer Generalsekretär des Europarats. Berset will diesen stärken. Und er dürfte auch seinem Heimatland zu mehr Sichtbarkeit in Europa verhelfen. ein starkes Aushängeschild in einer führenden Organisation erhalten», so die Rechtsprofessorin. In dieser Schlüsselposition vertreten zu sein, habe für die Schweiz besondere Bedeutung, da sie nicht Mitglied der EU sei. Alain Berset bringe alles mit, um dem Europarat ein wichtiges Gesicht zu geben. Diese Art, in Europa mitzuwirken, ist breit abgestützt. Die Schweiz werde in ihrer Vermittlerrolle gestärkt, sagt SVP-Politiker Alfred Heer. Er präsidiert die Schweizer Delegation in der parlamentarischen Versammlung des Europarats (PVER) und berichtet, dass ihr merklich mehr Respekt entgegengebracht werde. «Es ist immer hilfreich, wenn man einen Landsmann an der Spitze hat.» Heer betont jedoch, dass der Generalsekretär dem Europarat als Ganzes und damit 46 Staaten verpflichtet sei. Dass Berset nicht aus einem EU-Land kommt, bezeichnet er als Vorteil: «Ich hoffe doch sehr, dass der Europarat mit Alain Berset wieder eine aktivere Rolle spielen kann, wenn es um die Beilegung von Konflikten geht.» Bersets Priorität: die Ukraine Wie Berset als neuer Generalsekretär wiederholt betonte, will er der Unterstützung der Ukraine Priorität einräumen. «Die ihr zugefügten Schäden müssen kompensiert werden», sagt er. Um die Entschädigungszahlungen dereinst berechnen zu können, möchte der Europarat die Folgen des russischen Angriffs dokumentieren. Berset will die Organisation insgesamt stärken. Er will gegen Desinformation und die Manipulation von Informationen vorgehen, die dank Künstlicher Intelligenz neue Formen angenommen hat. Anlässlich seiner Wahl sprach er von der grossen Verantwortung, die er übernehme. Der EuropaBegegnung mit dem Nachfolger: Anlässlich eines Besuchs in der Schweiz traf die Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejcˇinovic´ Buric´ im September 2023 den damaligen Bundespräsidenten Alain Berset. Foto Keystone rolle spielt. Es ist daher bemerkenswert, wie im Frühjahr alle Parteien dafür geweibelt haben, dass der Ende 2023 aus dem Bundesrat zurückgetretene Sozialdemokrat Alain Berset Generalsekretär des Europarates wird. Von den Grünen bis zum rechten Rand der SVP war man sich einig: Man will die seltene Chance nutzen, diesen gewichtigen Posten zu besetzen. Die Premiere ist geglückt: Seit dem 18. September 2024 ist Alain Berset im Amt. Der 52-Jährige residiert in eiSichtbarkeit verhelfen. Nicht, weil er deren Interessen einbringen könnte. Sondern als Vertreter einer Nation, die in Konflikten vermittelt und auf ihre Tradition der «Guten Dienste» stolz ist. Schweizer Art, in Europa mitzuwirken Die Schweiz werde in Europa weniger isoliert sein, sagt Helen Keller, die als Richterin am EGMR tätig war. «Sie hat Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 12 Politik
herausgefordert war er während der Corona-Pandemie. Als Gesundheitsminister stand er von Beginn weg im Rampenlicht. Für die im internationalen Vergleich moderaten Einschränkungen des öffentlichen Lebens erntete er – wie der gesamte Bundesrat – viel Lob. Gleichzeitig sah er sich mit heftiger Kritik aus jenen Kreisen konfrontiert, die sich etwa gegen Kontaktbeschränkungen oder das Tragen von Hygienemasken wehrten. Berset sah sich in seiner Amtszeit zudem mit einem Erpressungsversuch einer ehemaligen Geliebten konfrontiert. Im Sommer 2022 erregte er mediale Aufmerksamkeit, als er auf einem privaten Flug mit einer Cessna 182 in Frankreich von zwei Kampfjets abgefangen wurde. Zu all diesen «Affären» musste sich der SP-Politiker unbequeme Fragen stellen lassen, die er selbstbewusst parierte. Sein nonchalantes Auftreten, wie es Kritiker und Kritikerinnen bezeichneten, mag Berset einige Sympathiepunkte gekostet haben. Sein Image blieb insgesamt jedoch positiv. Die Bevölkerung stufte ihn auch in seinem letzten Amtsjahr als einflussreichstes Mitglied des Bundesrates ein. Für eine starke Figur sprach sich nun auch die PVER aus. Die Herkunft spiele immer eine Rolle, sagte Alain Berset dem «Tages-Anzeiger». Er habe sich als Freiburger in den Bundesrat eingebracht und werde sich nun als Schweizer im Europarat einbringen. Übrigens: Die Kritik am Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall der Schweizer Klimaseniorinnen (siehe «Schweizer Revue» 4/2024) teilt er nicht. Die Schweiz habe die Menschenrechtskonvention ratifiziert und sei verpflichtet, Entscheide des Gerichtshofs in Strassburg umzusetzen, sagt Berset. Und: «Wir liegen im Zentrum von Europa, und unsere Werte sind auch die europäischen.» rat engagiere sich für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. «Das sind die Werte, die unseren Kontinent stabil machen, und dafür müssen wir uns jeden Tag engagieren.» Er hat ein Faible für grosse Auftritte Berset bewegt sich auf dem internationalen Parkett souverän. Er ist charismatisch, eloquent und selbstsicher. Als Jugendlicher feierte er im Laufsport zahlreiche Erfolge und wurde Westschweizer Meister über 800 Meter. Ebenso zielstrebig verfolgte der Freiburger seine politische Karriere. 2003 wurde er mit 31 Jahren – und damit als jüngstes Mitglied – in den Ständerat gewählt. 2011 schaffte er die Wahl in den Bundesrat. Als Vorsteher des Innendepartements war Berset unter anderem für das Gesundheitswesen und die Sozialpolitik zuständig. 2018 und 2023 präsidierte er die Landesregierung und vertrat sie auf höchster Ebene. Spätestens da zeigte sich, dass Berset die grossen Auftritte liegen. Etwa beim Staatsbesuch des französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, in Bern oder bei Auftritten neben Donald Trump und Olaf Scholz. Mit dem Etikett «Schweizer Staatsmann» konnte der Romand im Rennen um den Posten des Generalsekretärs denn auch punkten: Seinen Mitbewerbern Indrek Saar (Estland) und Didier Reynders (Belgien) fehlten entsprechende Erfahrungen. Berset ist krisenerprobt. Besonders Er räumt der Zukunft der Ukraine grösste Priorität ein. Das versicherte Berset bereits vor seiner Wahl zum Generalsekretär. Foto Keystone Wie man Berset in der Schweiz in Erinnerung behält: Selten war der Magistrat ohne seinen Borsalino unterwegs. Besonders während der Corona-Pandemie wurde der Hut zu seinem Markenzeichen. Foto Keystone Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 13
Kontroverse um Autobahnen: Masslose «Monster» oder effiziente Verkehrsadern? Die Schweiz will 5,3 Milliarden Franken in den Ausbau von Autobahnen investieren. Dadurch soll es zu weniger Staus kommen. Aus Sicht der Gegner ziehen mehr Strassen aber noch mehr Verkehr an. Am 24. November 2024 entscheidet das Stimmvolk über den umstrittenen Kredit. Die Autobahn A1 beim Grauholz: Die heute sechsspurige Strasse soll auf acht Spuren ausgebaut werden – auf Kosten des Kulturlandes im Bildhintergrund. Foto Keystone Am 10. Mai 1962 wurde am Grauholz das allererste Teilstück der heutigen Autobahn A1 eröffnet. Statt Leitplanken säumten Schaulustige an diesem regnerischen Tag den Strassenrand. Archivbild Keystone THEODORA PETER Seit 60 Jahren queren mehrere Autobahnachsen die Schweiz von Ost nach West und von Nord nach Süd. Zu den ältesten Abschnitten gehört derjenige der A1 beim Grauholz vor den Toren Berns. Bis in die 1970er-Jahre fuhren dort täglich 16000 Fahrzeuge vorbei. Inzwischen sind es rund 100 000, weshalb in den Stosszeiten der Verkehr stockt. Bereits in den 1990er-Jahren wurde das Teilstück auf sechs Spuren ausgebaut, und in Zukunft sollen Autos und Lastwagen am Grauholz gar auf acht Spuren rollen. Die dort geplante Verbreiterung ist nur eines von sechs Projekten im Rahmen eines Nationalstrassenkredites von insgesamt 5,3 Milliarden Franken. Vorgesehen sind weitere AutobahnAusbauten unter anderem am Genfersee, ein neuer Strassentunnel unter dem Rhein in Basel sowie zusätzliche Tunnelröhren bei St. Gallen und Schaffhausen. Gegen diesen «masslosen Autobahn-Ausbau» wehrt sich eine Allianz von 40 Umweltorganisationen und Parteien. Sie hat erfolgreich das Referendum gegen den vom Parlament beschlossenen Kredit ergriffen, weshalb es am 24. November 2024 zur Volksabstimmung kommt. «Staus zu verhindern, indem man Strassen baut, ist ein Konzept aus dem letzten Jahrhundert», sagt die grüne St. Galler Nationalrätin Franziska Ryser. Sie ist Co-Präsidentin des Vereins «umverkehR», der ein Umdenken beim motorisierten Individualverkehr erreichen will. Statt in «fossile Monsterprojekte» sollten öffentliche Gelder besser in eine Verlagerung des Verkehrs von der Strasse auf die Schiene investiert werden, betont Ryser. Huhn-und-Ei-Frage Für die Gegnerinnen und Gegner sind die Autobahnen gar «Klimakiller». Nicht nur deshalb, weil der Strassenverkehr für rund einen Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich sei. Auch verursachten die für den Bau benötigten Unmengen an Beton und Stahl ebenfalls schädliche Treibhausgase. Hinzu kämen Lärmbelastung sowie der Verschleiss von wertvollem Kulturland. Im Fall der Ausbaupläne am Grauholz wehrt sich zudem der Berner Bauernverband gegen den Verlust von mehreren Hektaren Landwirtschaftsland. Zentrale Botschaft der Nein-Kampagne ist das Argument, wonach mehr und breitere Strassen nur kurzfristig zu einer Entlastung führten. Ein Ausbau der Kapazitäten schaffe vielmehr falsche Anreize und verursache deshalb längerfristig neue Staus. Die Frage, ob mehr Strassen tatsächlich mehr Verkehr mit sich bringen, ist gemäss Experten schwierig zu beantworten. Für Carsten Hagedorn, Professor für Verkehrsplanung an der Ostschweizer Fachhochschule, stellt sich die Huhn- und-Ei-Frage: «Was war zuerst da: der Verkehr oder die Strasse?» Letztlich würden dort Strassen gebaut, wo es eine Nachfrage gebe, sagte Hagedorn gegenüber Radio SRF. Neue Strassen verkürzten die Zeit, während der man unterwegs ist: «Bei der Entscheidung, ob ich das Auto oder ein anderes Verkehrsmittel nehme, ist die Reisezeit ein wichtiger 14 Politik
Alle Abstimmungen vom 24. November 2024 im Überblick Kredit zum Ausbau der Nationalstrassen Das Parlament hat mit dem Ausbauschritt 2023 sechs Projekte mit Kosten von insgesamt 5,3 Milliarden Franken beschlossen. Dabei geht es um zusätzliche Fahrspuren sowie Tunnelröhren auf stark belasteten Autobahnabschnitten. Gegen diesen «Bauwahn» stellt sich eine Allianz von 40 Organisationen. Sie erachtet die Projekte als schädlich, teuer und nutzlos. Für die bürgerlichen Befürworter geht es lediglich darum, bestehende Engpässe zu beheben. Mehr dazu siehe Haupttext. Mietrecht I: Strengere Regeln für Untermiete Wer als Mieterin oder Mieter eine Wohnung oder ein Zimmer untervermieten will, benötigt dazu künftig eine schriftliche Zustimmung der Eigentümerschaft – und muss darüber hinaus mehr Angaben zur Untermiete liefern. Bislang reichte ein mündliches Einverständnis. Bei Verstössen gegen die Vorschriften riskieren die Mietenden die Kündigung. Gegen diese Aufweichung des Mieterschutzes wehrt sich der Mieterinnen- und Mieterverband zusammen mit linksgrünen Parteien. Mietrecht II: Einfachere Kündigung bei Eigenbedarf In der Schweiz soll es einfacher werden, eine vermietete Wohnung für eigene Bedürfnisse zu nutzen. Bisher mussten Besitzende einer Liegenschaft nachweisen, dass sie das Objekt «dringend» für sich oder nahe Verwandte benötigen, um einen bestehenden Mietvertrag aufzulösen. Auch diesen «Frontalangriff der Immobilien-Lobby auf den Kündigungsschutz» bekämpft die Linke an der Urne. Die bürgerlichen Befürworter erachten die neuen Regelungen beim Mietrecht hingegen als fair. Einheitliche Finanzierung von Leistungen der Krankenversicherung Im Gesundheitssektor gelten heute für jeden Bereich – ambulant, stationär, Pflege – unterschiedliche Finanzierungssysteme. Von einer einheitlichen Finanzierung erhofft sich das Parlament kostensparende Anreize: zum Beispiel mehr ambulante Behandlungen statt teuren Spitalaufenthalten. Dadurch sollen bis 440 Millionen Franken pro Jahr eingespart werden können. Gegen die Vorlage wehrt sich die Gewerkschaft VPOD: Sie befürchtet Abstriche bei den Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal und der Betreuungsqualität. dauernde Transporte verteuerten Produkte und Dienstleistungen. Ein weiteres Argument sieht das Ja-Komitee in der Entlastung von Städten und Gemeinden. Ein flüssiger Verkehr auf den Hauptachsen führe zu weniger Ausweichverkehr. Wenn Pendlerinnen und Pendler keinen Stau befürchten müssen, suchten sie weniger nach «Schleichwegen» auf Nebenstrassen oder durch Wohnquartiere. Dies führe letztlich zu einer höheren Lebensqualität für die Bevölkerung in Städten und Agglomerationen. Beim Urnengang vom November gelangen noch drei weitere Vorlagen zur Abstimmung (siehe Kasten). Für Auslandschweizerinnen und -schweizer, die in der Schweiz Immobilien besitzen und vermieten, sind insbesondere die beiden Mietrechtsrevisionen von Bedeutung. Faktor. Dementsprechend kann es passieren, dass durch einen Ausbau das Auto deutlich attraktiver wird.» Hohe Folgekosten von Staus Für die Befürworterinnen und Befürworter geht es bei der Vorlage einzig darum, Engpässe zu beseitigen. Die vor über 60 Jahren gebaute Verkehrsinfrastruktur entspräche nicht mehr den heutigen Bedürfnissen von Bevölkerung und Wirtschaft, betont die Thurgauer SVP-Nationalrätin und Unternehmerin Diana Gutjahr. «Stecken unsere Arbeitskräfte im Stau fest, können sie ihre Arbeit nicht erledigen.» Gewerbetreibende könnten nicht einfach auf den Zug umsteigen, um ihre Dienstleistungen vor Ort zu erbringen. 2023 wurden auf dem gesamten Nationalstrassennetz rund 48›800 Staustunden registriert, das sind 22 Prozent mehr als im Vorjahr. Gutjahr beziffert die Folgekosten von Verkehrsüberlastungen auf jährlich rund 1,2 Milliarden Franken. Länger Ja-Komitee: www.zusammen-vorwaertskommen.ch Nein-Komitee: www.autobahnwahn.ch 15
Susanne schwingt und singt Die Grosse Glocke im Berner Münster ist eine Wucht. Sie heisst Susanne, ist fast zehn Tonnen schwer und kann wunderschön singen. Sie ist die mächtigste Glocke der Schweiz, einem Land, in dem es wirklich nicht an Glocken mangelt. Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 16 Reportage
Das Münster-Geläut In der aufgezeichneten Aufnahme des Geläuts des Berner Münsters setzen die verschiedenen Glocken eine nach der anderen ein. Die Einsätze nach Sekunden: Silberglocke 0' Betglocke 4' Armsünderglocke 9' Predigtglocke 12' Mittagsglocke 17' Grosse Glocke / Susanne 22' Der Einsatz der Grossen Glocke scheint übrigens kaum hörbar: Ihr Bass fügt sich so harmonisch ins Gesamtgeläut ein, dass die Glocke – ihrer Mächtigkeit zum Trotz – ganz unauffällig bleibt. revue.link/susanne cken zusammen den Gottesdienst ein. An hohen Feiertagen ist sie ganz allein zu hören. Das sei kein Schlagen mehr, schwärmt der Experte, «es ist ein fortdauernder Gesang». Einmal pro Jahr bimmeln alle Im Münster hängen sieben Glocken, drei in der unteren Glockenstube, vier in der oberen. Es gibt zahlreiche Kombinationen, wie sie geläutet werden können. Nur einmal im Jahr erklingen alle gemeinsam: vor dem Gottesdienst am 1. Advent. Was für die einzelne Glocke gilt, gilt auch für das Geläute als Ganzes. Reibungen sind unvermeidlich. Die Giesser kannten zwar einige Gesetzmässigkeiten: Wie sich etwa Durchmesser oder Wandstärke der Glocken auf die Tonhöhe auswirken. Das sei gleich wie bei Weingläsern, erklärt Walter: «Je grösser und je dünner sie sind, desto tiefer klingen sie.» Oft sei es aber nicht exakt so herausgekommen, wie die Giesser es sich vorgeDÖLF BARBEN Wenn man die Schweiz auf der Landkarte mit zugekniffenen Augen anschaut – sieht sie dann nicht aus wie die kleine Glocke einer Hotelrezeption? Oben beim Kanton Schaffhausen drückt man auf den Knopf und dann klingelt es? Dieser Vergleich ist womöglich gar nicht so unpassend. Denn die Schweiz ist ein regelrechtes Bimbam-Land. Wo man hinhört: Glocken, Glocken, Glocken. Tausende in den Türmen der Kathedralen, Kirchen und Kapellen. Abertausende an den Hälsen von Kühen, Schafen und Ziegen. Als ob das nicht schon Gebimmel genug wäre: Sogar die Menschen selbst tragen Glocken vor sich her. Wie die «Trychlergruppen», die an Umzügen teilnehmen – und in jüngster Zeit auch in der Politik scheppernd den Ton angeben wollen. Oder wie der Schellen-Ursli aus dem Bilderbuch von Selina Chönz und Alois Carigiet: Am Chalandamarz, einem Frühlingsbrauch im Kanton Graubünden, will Ursli um jeden Preis die grösste Treichel haben. Kein scheppernder Öltank Fürwahr: Das Prinzip Glocke hat sich durchgesetzt. Aber was macht Glocken so besonders? Warum hängen nicht Metallplatten in den Kirchen? Einer, der das weiss, ist Matthias Walter. Der 46-jährige Architekturhistoriker aus Bern zählt schweizweit zu den gefragtesten Glockenexperten. «Schlagen Sie einmal mit einem Hammer an einen Öltank», sagt er. «Sie hören bloss ein Wummern und Scheppern – das ist der Unterschied.» Walter steht in der unteren Glockenstube des Berner Münsters. Es ist der perfekte Ort, um über Glocken zu sprechen. Über ihm hängt die grösste Glocke der Schweiz. Sie ist 413 Jahre alt, fast zehn Tonnen schwer, auf den Ton E gestimmt und heisst schlicht Grosse Glocke oder auch Susanne. Walter schlägt mit der flachen Hand an die Aussenwand. Man hört das Klatschen und dann – ganz leise – einen schönen Ton: «Mit einer Metallplatte geht das nicht.» Auch mit Treicheln nicht, die aus Blech geschmiedet sind. «Sie erzeugen zwar einen Ton, aber man kann nicht von Musik sprechen», sagt er. Kirchenglocken dagegen werden gegossen. Sie bestehen meist aus Bronze, einer Mischung aus Kupfer und Zinn. «Glocken können singen.» Auf den Rand kommt es an Das Prinzip der Glocke ist seit Urzeiten bekannt. Aber erst im Mittelalter kamen die Giesser auf die klassische Form mit der Verdickung am unteren Rand. Sie sei entscheidend, um einen einzelnen, gut wahrnehmbaren Schlagton zu bekommen, sagt Matthias Walter. In Tat und Wahrheit erzeugt eine Glocke etwa 30 weitere Töne, die zum Teil kaum hörbar sind. Vorab in den hohen Lagen gibt es Dissonanzen. Diese wiederum seien der Grund für den charakteristischen Klang. «Trotz aller Reibungen können Glocken wunderschön klingen», sagt er. So wie die Grosse Glocke. Sie habe eine eher samtige Klangfarbe und dröhne nicht. «Sie klingt edel und ruhig.» Susanne läutet jeden Sonntag mit anderen GloHöher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Ein offenes Ohr für die grösste Glocke der Schweiz. Die Glocken als Prestigeprojekt: Bern war nie Bischofssitz, also mussten Kirche und Geläut besonders eindrücklich sein. Fotos (links und oben) Keystone Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 17
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