Schweizer Revue 5/2024

brutal vermarkteten Bergen und solchen, wo es nichts gibt ausser dich». Es sei wie überall im Tourismus: Wer das Herdenverhalten ablegt, entkommt den Massen. Oft reiche «ein beherztes Abzweigen von der Wanderautobahn», um die ersehnte Leere zu finden. Das Besteigen eines populären Berges «von der nicht-ikonischen Seite her». Oder das Wandern in der Nähe: «Am Neujahrstag, im Nebel, begegneten wir im Zürcher Weinland keinem Menschen.» Widmer lebt in Zollikerberg bei Zürich. Schönheit und Wahrheit Die Schweiz erwandernd, erkennt er ein Land voller Schönheit. Und auch dessen Wahrheit, wie er sagt. Er sieht: fortschreitende Zersiedelung, das Aussterben von Bergtälern. Widmer erwähnt das nur noch im Sommer bewohnte Val Bavona, ein Seitental des Maggia-Tals im Tessin, dem jüngst schwere Unwetter zusetzten. Frühere Bewohnerinnen und Bewohner legten auf Felsbrocken hängende Wiesen an, Prati pensili, um in der Kargheit etwas Land bewirtschaften zu können: «Das sind Kulturerscheinungen, die mich berühren.» Positiv vermerkt er, wie die Bäuerinnen und Bauern angefangen haben, sich direkt zu vermarkten. In Hofläden erhältliche lokale Produkte vom Bienenhonig bis zur Glace seien «eine der grossen Freuden des Wanderns». Wie auch die Erzeugnisse aus der Alpwirtschaft: «Ich komme mit einem feinen Käse von der St. Galler Alp Siez nach Hause und kann die Alp essen, auf der ich war. Ist das nicht toll?» Thomas Widmer will weiterwandern, bis er nicht mehr kann. Er führt eine wachsende Wunschliste von Wanderungen: «Ich weiss jetzt schon mit grausamer Klarheit, dass ich sie in meinem Leben nicht mehr alle schaffen werde.» scheut. Er wandert stundenlang auf- und abwärts, erlebt Malheurs. «Wandern ist Psychodrama», sagt er. Aber Genusswandern bedeutet für ihn, «auch einmal eine Freiluftausstellung zu besuchen oder in einer wunderbaren Kirche zu verweilen». Das Einkehren in eine Gaststätte gehört bei ihm fix dazu. Schon nur, weil er honorieren will, «dass dort draussen im Gelände jemand wirtet». Kulturtechnik Wandern Auf den Geschmack des Wanderns kam Widmer während des Studiums der Islamwissenschaft in Bern. In der Stadt fehlte ihm das Ländliche seiner Herkunft. Mittlerweile dient ihm das Wandern als Kulturtechnik, um mit diesen nervösen digitalen Zeiten umzugehen. Zu Fuss fliesst die Zeit anders: «Mit jeder Stunde atme ich besser und nehme mehr wahr, rieche Blumen und Harz, sehe einen besonders schönen Schmetterling oder sogar einmal einen Hirsch im Wald.» Die beste Wanderung sei jene, bei der er «wahnsinnig müde, aber harmonisiert» heimkehre. Die Möglichkeit kleiner Fluchten erklärt für ihn, warum immer mehr Leute wandern: «Stille und Weite sind in unserem dicht bepackten Land zum raren Luxusgut geworden.» Nur: Der Boom hat den in der kleinen Schweiz vieldiskutierten Dichtestress jetzt auf die Wanderwege gebracht, die erst noch vermehrt mit Bikern geteilt werden müssen. Immer modernere Bahnen erschliessen die Gebirgswelt, oben dröhnt Musik in Pumptracks, und die Hüpfburgen sind aus Plastik. Den Massen entkommen Widmer aber betrachtet solche Entwicklungen nüchtern. Wer je eine Bergbahn benutzt oder ein Gipfelrestaurant betreten hat, ist selber ein bisschen mitverantwortlich und sollte nicht allzu laut wehklagen, sagt er. Persönlich findet er sie ganz praktisch, «die Arbeitsteilung zwischen In Gesellschaft zu wandern heisse, «das Schöne zu teilen und dadurch zu verstärken», sagt Widmer, so wie hier auf der Bütschelegg (BE) mit Mönch und Jungfrau am Horizont. Foto Keystone THOMAS WIDMER «Neue Schweizer Wunder. Ausflüge zu kuriosen und staunenswerten Dingen», Echtzeit-Verlag, 2024. 232 Seiten in deutscher Sprache, CHF 28.00 Widmers Wandertipps für die Fünfte Schweiz: www.revue.link/widmer Blog: widmerwandertweiter.blogspot.com Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5

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